"Meine Heimat riecht nach Pflaumenkuchen mit Zimt". Ein Sprechessay zum Thema HEIMAT. Teil 01 der Reihe TRITONUS

Petra Bahr, Haus der EKD Berlin

Meine Heimat riecht nach Pflaumenkuchen mit Zimt. Sie klingt nach dem Motorflugzeug, das irgendwo am Himmel seine Bahnen fliegt. Es dämmert schon und von draußen dringt das Erwachsenenkauderwelsch eines Sommerabends durch die Ritzen des Rolladens. Hunde schlagen an und Frau Borchmeyer lacht wie eine Hyäne. Meine Heimat fühlt sich an wie das frischbezogene Kissen nach einer Fiebernacht. Die Mutter ist noch einmal ins Zimmer gekommen und hat mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Heimat, das ist das Baumhaus im verbotenen Birkenwäldchen. Hier schmuggeln wir Pfefferminzbonbons und die Zigaretten von Gunhilds Onkel, achtjährige Räuber auf Zeit in einem Sommer, der nie endet. Heimat, das ist Paul Gerhardt, mehrstimmig, auf Familienfesten; das ist die coolste Schlittenabfahrt der Welt im Wald hinter dem Haus, das ist der Pfarrer, der vor jeder Predigt einen Hustenanfall bekommt und so seltsame Worte spricht wie: „Geht es uns denn gut, junge Dame?“ Heimat ist auch der Nachbar Herr Lange, der nie ein Wort zu uns sprach und uns mit so grimmigem Blick ansah, dass ich einmal vor Schreck von der Bordsteinkante fiel und mir das Knie aufschürfte. Ein paar Jahre war ich sicher: er war der berühmte schwarze Mann, vor dem Angst zu haben eine Frage des Überlebens war. Was für ein Schock, als ich meinen Vater einmal spätabends mit diesem Teufel auf der Terrasse sah. Später erfuhr ich, dass der Reiseschriftsteller mit einem Faible für schwarze Hemden und schwarze Brillen sein Geld im nahegelegenen Spielkasino verzockte und mit jungen Männern ausging.

Heimat ist Ort mit Postleitzahl und Hausnummer. Heimat ist aber vor allem ein Gefühl, eine quecksilbrige Regung aus Wünschen und Geschichten, aus eigenen Erinnerungen und durch Familiengerüchte angeeignete Wahrheiten. Immer da und immer schon verloren. Ein Sehnsuchtsort, zu dem es keine Fährten gibt. Selbst Fotoalben führen in die falsche Richtung.

Das ist meine Heimat. Zum achten Mal sagt sie: „Nimm noch ein Stück Pflaumenkuchen.“ Ich will nicht mehr und zeige das auch, doch das lässt sie nicht gelten. Das Wort führte der Mann im Haus. Großmama machte sich mit Torten bemerkbar. Das ist meine Heimat. Die Langeweile, die sich an Sonntagen wie ein Leichentuch über das Haus legt. Der Vater spielt Klavier, die Mutter würzt den Sonntagsbraten und ich liege auf dem Bett, träume mich nach ganz weit weg.

Das ist meine Heimat. Der pickelige Bertold aus der neunten Klasse, der das Autohaus seines Vaters übernehmen wird und dessen Schikanen ich nichts entgegenzusetzen habe. Die endlosen Debatten mit dem Vater, der nur glänzende Argumente gelten lässt und findet, dass die Liebe zur Mathematik eine Frage des Charakters ist. Heimat, das sind Waldspaziergänge als Patentrezept gegen Liebeskummer. Dieses scheußliche Froschgrün der sauerländischen Berge. Ich stolpere durch den Tannenwald und stelle mir vor, die nackten Stämme seien Wolkenkratzer. Was gäbe ich darum, zwischen Häuserschluchten zuhause zu sein. Heimat ist nicht nur der Traum aus der Vergangenheit. Heimat ist auch ihr Fluch, diese Enge um Brust und Gemüt, nicht entrinnen zu können, festgebunden zu sein in einen Zusammenhang, den man sich nicht selbst ausgesucht hat. Heimat ist die zu klein geratene Welt. Heimat ist das Fleckchen Erde, das man ein Leben lang von den Füßen schütteln will und das doch an einem klebt wie der Sand zwischen verschwitzten Füßen. Heimat ist ein Landstrich, eine Nation, eine Sprache und eine Mentalität. Heimat stattet sich mit Mundarten und vaterländischen Gesinnungen aus, Heimat braucht Herrgottswinkel und Gartenkolonien, Blasmusik, Kietzkneipen und Lokalzeitungen, und Regionalligen und Heimatdichter. Heimat ist mein zerfledderter Band mit Gedichten von Emily Dickenson. Der Fluchtort der Fünfzehnjährigen, eine Taschenbuchausgabe der privaten Utopie. Heimat ist Liebeskitsch. Die alte Jacke meines Mannes, in die ich mich berge, wenn er auf Reisen ist. Sie riecht nach Geborgenheit und Trost, wenn ich in der eigenen Wohnung verloren zu gehen drohe. Heimat ist ein gemischtes Gefühl aus Geborgenheit und Befremdung. Heimat ist ein Synonym fürs Zuhausesein, und das ist nicht nur ein äußerst schwer zu erreichender Zustand. Zuhause kann es bei allem Schutz auch ziemlich ungemütlich werden. Wie ein Phantomschmerz folgt die Heimat auch dem, der sich zu harten Schnitten entschlossen hat.

Dass man seiner Heimat nicht entfliehen kann, wurde mir an einer Bushaltestelle in Tel Aviv klar. Die Sonne brennt. Ich suche Schutz im Wartehäuschen. Ein blonder Teenager mit sieben Kilo Geschichtswissen im Rucksack. Ein alter Mann macht Platz auf der Bank. Ich nehme einen letzten Schluck aus der Plastikflasche. Aus den Augenwinkeln fällt mein Blick auf seinen Arm. Wie eine Steppenlandschaft hängt Haut über dem alten Knochen. Weißes Gestrüpp wuchert über Falten und Schrunde. Zwischen den Haaren eine neunstellige Nummer. Seine Heimat ist München. Er spricht hebräisch mit bayrischem Akzent. Später lädt er mich zu sich nach Hause ein. „Grüß Gott“, sagt seine Frau. Wir trinken Kaffee von Melitta, meiden jedes deutsche Wort. Es gibt Kuchen mit Äpfeln aus Galiläa. Chaim, der Freund, der einmal Hannes hieß, hat die Kerne aus Schlesien mitgebracht und eine Plantage gepflanzt. Über der Rückenlehne des Sofas liegen geklöppelte Decken. Ein Bild vom Schloss Neuschwanstein hängt über der Küchenuhr. Niemand fragt nach meinem Großvater. Wir lachen viel. Mir ist zum Heulen. Ich war eine Deutsche geworden. Sie waren Deutsche geblieben. Später haben wir zusammen Schubert gehört. Mir ist der Schrecken in die Glieder gefahren. „Fremd bin ich eingezogen. Fremd zieh’ ich wieder aus.“

Die bürgerliche Musikkultur in Deutschland hat sich Flucht und Heimatlosigkeit im neunzehnten Jahrhundert zur Vertiefung des Wohlgefühls ins Wohnzimmer geholt, eine romantische Gegenwelt als Kunstreligion des „Ich bin dann mal weg“ als Ausdruck des Unbehagens an der Abwesenheit politischer Freiheit. Für die Exilierten und Vertriebenen versprechen Stutzflügel und Bariton kein Gänsehautgefühl vor Gänsebraten. Für sie singt sich da einer ihr Leben aus dem Hals. Ihre Wanderschaft ist kein Abenteuer. Kein Pass, kein Rückfahrticket, die Liebste auf ewig verloren, durch einen Gasofen vor Weimar gejagt. Kein Trost, der in den sorgenden Gedanken der Zurückgelassenen liegt. Die tiefe Verzweiflung der Unbehausten, der Verlorenen, der Übriggebliebenen, der ein für alle Mal um Sprache und Haus und Lebensgrundlagen Betrogenen ist der dunkle Grund, auf dem alles modische Gerede über die Renaissance des Heimatlichen heute steht. Haben wir gemerkt, dass die Heimatlosen unsere Nachbarn geworden sind, während so manch gehobenes Feuilleton wieder mit den Herrgottwinkeln kokettiert? Hin- und hergerissen leben sie in Mannheim Ost und Berlin Neukölln, zwischen der neuen Existenz und der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die wie das Paradies von einem harten Engel bewacht wird. Ins Paradies träumen wir uns zurück, auch wenn das Paradies die Hölle war, sagt mir Jewande, die Freundin aus Nigeria. Wo Migration zur Regel wird, wird Heimweh zur Pflicht. Deshalb ist Heimweh politisierbar. Wenn die ganze Welt ein Dorf ist und Mobilität das Signum der Zeit, wenn die Freunde auf Facebook aus aller Herren Länder und in allen Sprachen grüßen, ist die Suche nach der behaglichen Nische ein verständlicher Reflex.

Das Christentum hat zum Kult der Provinz beigetragen wie kaum eine andere Institution. Die Kirche im Dorf ist zum Synonym für eine intakte Lebensform geworden. Die Stadt, die Brutstätte der Moderne dagegen ein unwirtlicher Ort für unbehauste Existenzen, die nicht wissen, wo sie hingehören. Die Ortspfarrer sind seit Jahrhunderten die Hüter von Familiengeheimnissen. Religion hat die kulturelle Landschaft geprägt und die mentale Landschaft mit Wegmarken und Straßenschildern ausgestattet. „Hier bist du zuhause und solange du die Füße unter meinen Tisch stellst…“. Das Christentum hat indes auch zum Provinziellen beigetragen. Die Abneigung gegenüber allem Fremden und Zugezogenen wurde auf Kanzeln gepflegt und angeheizt. Wer von einem anderen Leben träumte, wurde behandelt wie ein Fahnenflüchtiger, und sei die Fahne auch nur das Banner mit dem lächerlichen Fabeltier, das sich der Schützenverein als Symbol zugedacht hat.

Das religiöse Provinzgefühl ist indes eine Fälschung. Als Provinz im Gemüte soll die Religion wohl gelten. Als provinzielle Lebenshaltung ist sie Verrat in der Überlieferung. Die Bibel ist von Anfang an die Erzählung von Vertriebenen. Das Paradies haben die Protagonisten immer im Rücken. Sie werden nicht von Heimatgefühlen beherrscht. Sie verteidigen kein Zuhause gegen den Ansturm der Fremden. Sie leiden schwer unter Heimweh, weil sie die Fremden sind. Abraham und Sara, Moses und Aaron, die Propheten und ein ganzes Volk, Jesus und seine Schüler: vor die Tür gesetzt, des Landes verwiesen, auf der Wanderschaft, auf der Suche nach einem Zuhause, das endlich Ruhe und Frieden verspricht. Die Grundmetapher der Bibel ist das Auf-der-Suche-Sein und Heimat ist das, was noch aussteht. Die biblischen Gestalten sitzen selten in Wohnzimmern oder herrschaftlichen Spiegelsälen. Sie leben auf der Straße von da nach dort, passieren Wüsten, überwintern im Exil oder wohnen in Zelten. Die Väter und Mütter des Glaubens sind Vertriebene. Der Grundakt des Glaubens scheint der Aufbruch zu sein. Unterwegs zu sein, ist seine Vollzugsform. Das Ankommen ist vor allem eine Hoffnung. „Wir haben hier keine bleibende Statt. Unsere Heimat ist woanders“, heißt es im Philipperbrief. Ein Eingeständnis, auf das nicht selten die Abwehr folgte. Wer will schon zum fahrenden Volk der Weltgeschichte gehören. In den Rathäusern und in den Kathedralen lässt sich das Christentum viel bequemer an. Das Christentum ist die Geschichte der Verschiebung der eigenen Heimatlosigkeit ins Metaphorische. Schnell ist es in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hat prachtvolle Häuser gebaut und ist nicht nur sesshaft geworden, sondern hat nicht selten auch die Grenzen der Heimat gezogen. Meine Konfession, meine Sprache, meine Dogmatik. Wer wurde da nicht alles des Landes verwiesen. Auch die Theologie hat Gartenzwerge als Wächter an die Hecken gestellt.

Aber es gab sie immer, die unruhigen Geister, die auf dieser Erde nicht zuhause sein wollten. Sie standen mit den Füßen auf der Erde und reckten den Kopf nach der unsichtbaren Heimat, die im Himmel ist. Das schöne alte Wort kommt nämlich von Heimat. „Ich bin durch die Welt gegangen, und die Welt war schön und groß, und doch zieht mich mein Verlangen nun weit zu der Heimat los“, singt der fromme Protestant zu der Zeit, als Schubert seine Winterlieder vertont. Wer auf dieser Welt nicht zuhause ist, bleibt in Bewegung. Die Fremdheit, die diese Christen umgetrieben hat, ist gefährlich. Sie riskiert offenen Einspruch gegen die Art, wie wir uns in der Welt eingerichtet haben und führte manchmal in den Widerstand.

Der christliche Glaube verspricht kein „schöner Wohnen“ in der unbehausten Welt mit ein paar tröstenden Worten der Religion, er bietet auch kein Meditationstraining als Durchhalteübung für den aufreibenden Alltag mit dem sich zu arrangieren höchste Bürgerpflicht ist. Das ist beunruhigend für die, die ein kulturelles Christentum wiederentdecken, das ein paar heimelige Rituale zur Verfügung stellt, weil die eigene Welt in Unordnung geraten ist. Der christliche Glaube eignet sich nicht dazu, die gefährdete bürgerliche Existenz mit ein paar religiösen Requisiten auszustatten, die wie das Silberbesteck von der Großtante Tradition und Distinktion versprechen. Nicht einmal die Dorfkirchen und Kathedralen stehen genaugenommen für das machtvolle Sicharrangieren des Evangeliums mit der Welt. Im Gegenteil. Sie sind Stein gewordene Fremdheit, Orte, die aus der Zeit ragen wie ihre Türme aus dem städtischen Raum, Fluchtorte, Vorräume einer fremden Welt, in der sich die geborgen fühlen, die vor der Kirchentür verloren sind. Gotteshäuser künden von einer anderen Zeit, von einem anderen Raum und von einem anderen Gesetz. Deshalb konnten die Flüchtlinge und Vertriebenen hier Asyl finden. Die ganze goldene Pracht der Welt wurde ursprünglich verbaut, um an die glanzvolle Heimat zu erinnern, die nicht von dieser Welt ist, Vorschein eines rätselhaften und wunderbaren Versprechens. Die Heimatgefühle, die das Christentum weckt, machen fremd in der Welt. Der Engel Gottes vertreibt uns aus dem falschen Paradies. Das kann gefährlich werden.

Die andere Heimat, die das Christentum wie ein Gegenbild an die Wand wirft, nimmt nicht Maß am deutschen Dorf. Ihr Vorbild ist eine pulsierende, laute Stadt. Das himmlische Jerusalem ist eher eine Megacity denn ein Weiler im Sauerland, eine Metropole, eine humane Einlösung von Pluralität. Deshalb passt die Heimat, die das Christentum vor Augen stellt, ohne Not in die Moderne.

Der Trost kommt von woanders her, von einem Bild gelingenden Lebens, in dem Menschen mit sich selbst und anderen versöhnt leben können. Nicht als billige Vertröstung auf den St. Nimmerleintag. Eher schon wie der Trost des Lesers, der in einem Buch zuhause ist. Wer liest, verschwindet in einer parallelen Welt, die für andere nicht sichtbar und noch schwerer nachvollziehbar ist. Doch ist sie ganz real. Und sie verändert den Blick auf die Welt, in der der harte Stuhl zuhause ist, auf dem der Leser sitzt. Kinder beherrschen diese Kulturtechnik virtuos. Sie beurteilen die Welt mit den Augen von Pippi Langstrumpf und unterhalten sich mit Pu, dem Bären. Eine unsichtbare Ansammlung von Figuren kann ihnen zu Freunden werden, die sie gelassener die Herausforderungen der Erwachsenenwelt bestehen lässt. Bei uns zuhause hat sich ein Affe eingenistet. Mein zweijähriger Sohn wohnt mit dem Fabeltier zusammen. Bubu springt, wenn es auf dem Boden eng wird, von Baum zu Baum. Er verschlingt zu viele Gummibärchen, findet, dass Milch ein schädliches Getränk für Kinder ist und kann schlimme Träume verjagen. Bubu, der Affe, ist mehr und anderes als eine schnöde Einbildung. Er repräsentiert eine mächtige Gegenwelt, die die Maßstäbe auf den Kopf stellt, die in der anderen Welt gelten. Mir geht es so mit den Geschichten der Bibel. Mit Abraham und Sarah habe ich mich angefreundet, mit Paulus streite ich mich fast täglich und die Geschichten, die Jesus erzählt, machen mich ganz kribbelig. Die Psalmen bergen meine eigene Sprachlosigkeit. Bibel und Gesangbuch, die Erinnerungen und Glaubenszeugnisse anderer sind eine Art „portatives Vaterland“. So nennt Heine die Bibel, der Bibelpatriot im Exil. Mit den alten Texten im Kopf bin ich nie ganz ohne Dach über dem Kopf. Auch wenn die Sehnsucht bleibt nach dem Anderswo.

Der christliche Glaube lebt von einem Paradox. Er ist Heimat für die, die noch auf der Suche nach der Heimat sind, eine machtvolle Gegenwelt, die mehr und anderes ist als eine Erfindung. Wenn ich auf einer Reise in irgendeinem Winkel der Weltgeschichte über die Schwelle eines Kirchleins in einen Gottesdienst stolpere, kann ich in das Vaterunsergebet einstimmen und niemand findet das verrückt. Die fremde Sprache, die fremden Gesichter, die fremden Töne bleiben. Ich bin trotzdem zuhause für die Dauer eines Gebets. Die alten Worte, die schmecken wie Pflaumenkuchen mit Zimt.