Eingangsstatement Leipziger Disputation

Nikolaus Schneider

 Für hohe öffentliche Aufmerksamkeit hat in jüngster Zeit die Empfehlung des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen gesorgt. Der Wissenschaftsrat ist das Beratungsgremium von Bund und Ländern zu inhaltlichen und strukturellen Fragen der Wissenschaft. Der WR eröffnet seine Stellungnahme mit der Feststellung: „Die lange gängige These, in modernen Gesellschaften werde Religion bedeutungslos, hat sich als nicht haltbar erwiesen.“ Und das Votum weist nachdrücklich die wissenschaftliche Diskusfähigkeit von Religion und religiöser Weltsicht auf. Ja mehr noch es zeigt deren konstruktiven Beitrag für die Wissenschaft selbst. Ich zitiere: „Im Wissenschaftssystem selbst treten normative Probleme auf, für deren konstruktive Bearbeitung auch die jeweiligen Theologien und ihre seit langem entwickelten ethischen Reflexionsformen hilfreich sind. Zudem reflektieren sie die Grenzen einer rein wissenschaftsförmigen Selbstdeutung des erkennenden Menschen, insbesondere indem sie ein Bewusstsein von der Kontingenz menschlichen Handelns aufrechterhalten und der Frage nach dem Gelingen oder Scheitern menschlicher Existenz einen Ort geben. So fördern die Theologien in Universitäten die kritische Reflexivität der wissenschaftlichen Weltsicht und bieten Deutungsmöglichkeiten menschlicher Existenz.“ 

Folgt man dem Votum des Wissenschaftsrates, so kann man in der Tat – zumindest für wissenschaftlich Gebildete - zu dem Urteil kommen: Bildung braucht Glauben.
Bildung braucht Glauben. Der Zusammenhang von Bildung und Glaube ist für die jüdisch-christliche Tradition von grundlegender Bedeutung. Schon das Wort Bildung weist auf den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit zurück. Der Mensch versteht sich in dieser Tradition als geschaffen zum Gegenüber Gottes, von ihm beseelt, von ihm angeredet, mit Würde begabt und zu einem verantwortlichen Leben berufen. Dieser Anrede Gottes - diesem Willen Gottes, mit den Menschen zu sein, mit ihnen einen Bund zu schließen - entspricht der Mensch im Glauben.

Glauben ist ein Akt des Vertrauens, ein Sich-festmachen in Gott; Glaube ist immer auch ein Wagnis. Solcher  Glaube begründet elementare Lebensgewissheiten. Er lebt von den zentralen Überlieferungen: von biblischen Texten, vom Schatz der Kirchenlieder, von der einfachen Sprache der Katechismen, vom Beispiel der großen Vorbilder des Glaubens, vom alltäglichen Zeugnis der Christinnen und Christen, vom weiten Feld der vom Glauben geprägten Kultur - wie Musik, Kirchenbau und bildender Kunst.

Der Glaube setzt also ursprungshaft einen Bildungsprozess aus sich heraus, denn der Glaube will sich selbst und die Wirklichkeit verstehen und wird, weil es ein offener Prozess ist - damit nicht fertig. Christlicher Glaube ist bildungsoffen. Der protestantisch geprägte Glaube allzumal, ja er ist aufklärerisch. Das ist schon in der jüdischen Religion angelegt; denn dadurch, dass der Glaube auf eine Glaubensurkunde gerichtet ist, war es immer nötig, sich historisch, sprachlich, philologisch zu bilden – kurz: hermeneutisch zu denken; und sowohl im Judentum wie im Christentum gibt es keine ewigen Wahrheiten – als ewige Wahrheit kann allein Gott gelten. Insofern hat der Glaube eine hohe Affinität zu wissenschaftlichem Denken. In der reformatorischen Unterscheidung von Sicherheit und Gewissheit kommt das zum Ausdruck.
Will der Glaube sich selbst und die Welt verstehen und wird damit niemals fertig, so entspricht er dem Menschen, der immer über sich selbst und die Welt hinaus fragt. Aber dieses Fragen gewinnt im Glauben ein Fundament und eine Richtung – auch dann wenn Grenzen erfahren werden und der Mensch mit Erfahrungen des Scheiterns konfrontiert wird. In der Rede von der Rechtfertigung des Menschen sind diese Erfahrungen versammelt.

Zugegeben, es gibt Abbrüche und Verkürzungen der dem Glauben im Prinzip eigenen Offenheit. Ja, Glaube, der Angst vor dem Verlust der Fundamente hat und sich der Komplexität der Realität verweigern will, kann in geistige Verengung, in Borniertheit, in Fundamentalismus umschlagen. Es gibt Glauben, der nicht gut tut - den Glaubenden selbst nicht, ihren Mitmenschen nicht, und auch nicht der Bildung. Es wäre vermessen, dieses zu verkennen. Aber der Glaube kann Gegenkräfte mobilisieren. Durch Bildung im beschrieben Sinne ist er nämlich befähigt zu Selbstkritik und nüchterner Erkenntnis. Bildung ist also eine Gegenkraft gegen Glaubensformen, die nicht gut tun.
Im Kern lebt die Bildung des Glaubens davon, dass Grenzen bejaht werden und eine Grundunterscheidung ein Leben lang durchbuchstabiert wird: die zwischen Gott und Mensch.

In diesem Sinne formulieren wir: Bildung ist Wurzel so gut wie Frucht des Glaubens!