„Reformation und Bildung“ Geistliches Wort des Landesbischofs zur Verleihung der Martin-Luther-Medaille der EKD am 31. Oktober 2010 in Nürnberg, St. Lorenz-Kirche

Johannes Friedrich

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde,

es ist ein kalter Oktobertag, der letzte im Monat. Ein Tag vor dem hohen Fest „Allerheiligen“. Die zwei jungen Männer, die in den abendlichen Stunden noch die letzten Meter bis zu ihrem Quartier zurücklegen, freuen sich auf eine warme Mahlzeit und ein Nachtlager, einen Ort an dem sie sich ausruhen können von dem anstrengenden Fußmarsch, den sie auch heute wieder zurückgelegt haben. Die beiden sind seit wenigen Tagen unterwegs und haben erst eine kleine Strecke auf ihrer weiten Reise zurück gelegt.

Bisher ist alles gut gegangen, keine Überfälle, keine Verletzungen auf dem unbequemen Fußweg. Eine der nächsten Etappen auf ihrem Weg ist die freie Reichsstadt Nürnberg, die sie in den nächsten Tagen erreichen werden. Die wirtschaftliche, kulturelle und politische Blüte der Reichsstadt ist weit über die Grenzen Nürnbergs bekannt. Im Umfeld der großen Kirchen existieren vier Lateinschulen. Daneben gibt es seit dem 13. Jahrhundert deutsche Schreib- und Rechenschulen zur Vorbereitung künftiger Handwerker und Kaufleute auf die praktischen Kulturtechniken in ihrem Berufsalltag. Diese Schulen stehen sogar den Mädchen der Stadt offen. Und bis vor einem Jahr hatte die Stadt nach italienischem Vorbild eine Poetenschule. Durch das gut organisierte und etablierte Schulwesen ist die Hälfte der Bevölkerung Nürnbergs des Lesens mächtig.

„Welch eine perfekte Welt“, denkt sich der eine der beiden Männer. Solche Verhältnisse würde er sich auch wünschen, bei sich daheim, im Umfeld seines Erfurter Klosters, in das er fünf Jahre zuvor eingetreten war. Gebildete Menschen wollte er kennen lernen. Würden ihm die in Nürnberg begegnen?

Vielleicht sind diese oder ähnliche Gedanken dem Augustinereremiten Martin Luther durch den Kopf gegangen, als er genau heute vor 500 Jahren mit seinem Mitbruder auf dem Weg nach Rom kurz vor Nürnberg angekommen war. Er ahnte damals wohl noch nicht, welch große Bedeutung diese Stadt in wenigen Jahren für ihn und seine Sache erlangen würde, wie wichtig Nürnberg für die Reformation werden würde.

Die Voraussetzungen in Nürnberg für eine geistige Auseinandersetzung mit den Anliegen der reformatorischen Bewegung aus Wittenberg, die auf den Tag genau sieben Jahre später im Jahr 1517 beginnen sollte, waren optimal.
Die Stadt war bereits vor der Reformation ein Zentrum von Kultur und Bildung. Was in Nürnberg noch fehlte, war ein Zwischenglied zwischen einer Lateinschule und einer Universität. Deshalb trat die Stadt schon vor der Einführung der Reformation an Philipp Melanchthon, mit der Bitte heran, ihr bei der Errichtung einer solchen „oberen Schule“ behilflich zu sein. Melanchthon sagte zu und brachte dazu seinen Freund Joachim Camerarius als Rektor der neuen Bildungsanstalt mit.

Die Nürnberger Schulgründung in den Mauern des ehemaligen Benediktinerklosters St. Egidien wurde das erste Gymnasium nach dem bildungspolitischen Programm der Reformation in Deutschland. Ein Pilotprojekt! Berühmte Humanisten wie Eoban Hesse ließen sich als Lehrer gewinnen. Die Nürnberger hätten gern gesehen, wenn Melanchthon selbst als Rektor in die Reichsstadt gekommen wäre. Dazu entschloss er sich nicht. Er eröffnete sie aber mit einer feierlichen Rede 1526.

In Anspielung auf die beeindruckenden Mauern der Reichsstadt führt Melanchthon am 22. Mai 1526 zur Eröffnung des Gymnasiums aus:

„Wenn auf eure Veranlassung hin die Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen. Denn für die Städte sind nicht die Bollwerke oder Mauern zuverlässige Schutzwälle, sondern die Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen.“

Als Unterrichtsziele benennt er virtus, humanitas und pietas. Virtus, Tugend, ist die sittliche Lebensführung, also ethisches Verhalten, und das orientiert sich an den Zehn Geboten. Humanitas, Menschlichkeit, zeichnet sich durch moderatio aus, das ist Besonnenheit, aber in diesem Wort wurzelt auch „Moderation“, also Kommunikations- und Diskursfähigkeit. Pietas verbindet Humanismus mit Glaube, Liebe und Hoffnung, denn ohne Glauben gibt es keine Bildung – wie es ohne Bildung keinen Glauben gibt. Der Humanitas aber entspricht auch die Forderung, Menschen zu Menschen zu bilden.

Neben diesen Grundsatz stellt Melanchthon der Schule die Aufgabe, junge Leute für das gesamte Wissen der Zeit, für den Kosmos der Wissenschaften zu begeistern. Das höchste aller Güter ist die Kenntnis der Wissenschaft. Ohne sie wird der Mensch zum wilden Tier.

In der Präambel zum Lehrplan verdeutlicht Philipp Melanchthon, dass die Unterrichtung der Jugend dem Willen Gottes entspricht. Gleichzeitig soll der Staat wissen: Die Jugend ist der Nährboden eines gelingenden Gemeinwesens. Ohne Bildung, ohne Unterricht hat das Gemeinwesen keine Zukunft. Diese Erkenntnis, liebe Gemeinde, ist heute so aktuell wie vor 500 Jahren:

Die sozialen Probleme in unserem Land wie auch in den so genannten Entwicklungsländern lassen sich nur durch qualifizierte Bildung lösen. Sozialhilfe löst die Probleme nicht. In Bildung muss deshalb investiert werden, und zwar von Anfang an.

In diesem Zusammenhang sollte gut bedacht sein, dass Melanchthon nicht nur für Naturwissenschaften, sondern ebenso für Geisteswissenschaften und das Ethos der Gebildeten plädiert, also für ihre moralische und ihre Charakterbildung, für Gewissensbildung und eine dem Ethos verpflichtete Haltung.

Nicht erst die Bankenkrise lehrt uns, dass das nötig ist. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Ich darf meine Interessen nicht auf Kosten der Allgemeinheit ausleben. Ich lebe in Verantwortung vor Gott und den Menschen.

Und schließlich: Es geht nicht nur darum, Menschen zu bilden, sondern darum, Menschen zu Menschen  zu bilden. Deshalb ist mit Bildung nicht ausschließlich die Vermittlung von Kenntnissen und von Wissen gemeint. Bildung im christlichen, im reformatorischen Sinne ist neben der Wissensvermittlung immer auch „Herzens-, Wesens- und Wertebildung“.

Wissen allein vermehrt die Kenntnisse, die ein Mensch haben kann.
Bildung dagegen lehrt mit Wissen umzugehen und es zum Wohl der Gesellschaft und zum eigenen Wohl einzusetzen.

Dies ist unser Auftrag als Christen in der Welt, Menschen dabei zu helfen gebildet zu werden. In den vielen christlichen Schulen gelingt dies, die ganzheitliche Bildung, bereits sehr gut.

Ich freue mich sehr, dass heute drei Frauen mit der Luthermedaille ausgezeichnet werden, denen diese ganzheitliche Bildung ein Herzensanliegen ist. Und die selber aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen wissen, wie wichtig diese ganzheitliche Bildung für einen Menschen ist. Wissen allein trägt nicht. Wissen allein ohne die Fähigkeit mit diesem erworbenen Wissen auch verantwortlich umzugehen, kann sogar höchst gefährlich werden. Wer unter der Maßgabe von Werten sein Leben gestaltet, geht mit Wissen verantwortlicher um, als einer dessen Maxime lediglich die Vermehrung der eigenen Kenntnisse ist.

Das, liebe Gemeinde, gehört zu unserem Auftrag, den wir als Christen in dieser Welt haben. Mit den Menschen, mit den Gütern, mit allem, was uns anvertraut ist, verantwortlich umzugehen. Urteilsfähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für diesen verantwortlichen Umgang.

Eine andere nicht weniger wichtige Voraussetzung ist ein offenes und bereites Herz für das Wort Gottes. Immer, wenn Menschen die eigene Leistung, ihr eigenes Wissen und ihre eigenen Begabungen in den Vordergrund gestellt haben, dann ist es am Ende schief gegangen. Die Bibel ist voll von solchen Berichten. Der Turmbau zu Babel ist nur einer davon. Im Wort Gottes wird uns gezeigt, was hinzukommen muss, damit das menschliche Zusammenleben funktioniert: Demut und Liebe.

Beides sind zwei wichtige Eigenschaften, die wir dringend benötigen für den gegenseitigen Umgang und für den Umgang mit unserem Wissen. Wo Demut und Liebe fehlen, da ist Bildung und Wissen einseitig, da gerät das System in Schieflage, da ist unser Wissen nichts wert, da fehlt die Herzensbildung. Diese können wir uns nicht einfach antrainieren, aber wir können unser Herz dafür öffnen. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass wir sie von Gott geschenkt bekommen, wenn wir ihn darum bitten. Dann wird es gelingen, dass die Menschen, die uns anvertraut sind auch etwas erspüren von dieser tiefgründigen und lebensverändernden Erfahrung. Dann wird es uns auch gelingen, neben Wissen und Werten auch den Glauben an Gott, der uns mit Wissen, Einsicht und Liebe beschenkt, weiterzugeben.

Gott gebe uns seinen Geist und seinen Segen dazu.