Keine Lust am Frust

Robert Leicht

Vortrag beim 2. Tag der Kirchenvorstände der Ev.-Luth. Kirche Hannovers in der Marktkirche zu Hannover

Ihrer aller Anwesenheit hier wirkt wie ein lebender Beweis gegen jene depressive Stimmung in unserer Kirche, die sich auf folgende Formel bringen lässt – die wiederum an einen berühmten Werbeslogan für den Gerstensaft erinnert: „Kirche wird durch Frust erst schön“. Aber vielleicht sind Sie selber schon einmal in ihren ehrenamtlichen Aufgaben für unsere  Kirche von einer solchen Stimmung erfasst worden – und nun wollen Sie hier unter Gleichgesinnten auftanken. Aber natürlich nicht neuen Frust – sondern neue Lebensfreude, kirchliche Lebensfreude.

Wie dem auch sei: Jedenfalls wurde ich von den lieben Menschenkindern, die mich für heute in die Marktkirche eingeladen haben schon ganz früh gebeten: „Aber geben Sie den KirchenvorsteherInnen bitte und möglichst etwas Ermutigendes mit auf den Weg!“ Das konnte ich nun wieder als doppeldeutig verstehen. Entweder so: „Wissen Sie, wir glauben, die lieben Leute brauchen das nämlich!“ Oder aber so: „Kommen Sie bitte gerne zu uns – aber laden Sie auf keinen Fall Ihren eigenen Frust mit der Kirche bei uns ab. (Als sei ich selber von dem erkennbar angefallen – was ich natürlich bestreite.) Laden Sie also nicht Ihren Frust bei uns ab. Wir haben nämlich selber schon genug davon!“

Ich weiß ja nicht welche Erfahrungen Sie mit unserer Kirche machen und gemacht haben. Mitunter kommt es mir so vor, als versuchten wir uns an der theologisch ja an sich unmöglichen Kunst, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Also lauthals zu klagen über die große Fähigkeit von uns Protestanten, über unsere Kirche zu klagen. Ich will gewiss nicht übertreiben – aber ich habe schon manches Mal den Eindruck gewonnen, als sei es unter uns Protestanten üblicher als anderswo, dass wir uns durch die Kritik in und an der Kirche selber profilieren. Ob auf Synoden oder in den Gemeinden: Man macht schnell und leicht einen Punkt, wenn man über andere, die ein Amt bekleiden oder andere Ansichten vertreten, zu lästern beginnt. Als ob schon jeder, der andere kritisiert (möglichst vor anderen und hinter dem Rücken der Betroffenen) – als ob jeder der kritisiert, sich bereits als Besitzer eines kritischen Kopfes (oder als ein solcher selber) auswiese. Die Katholiken haben es ja keineswegs leichter mit sich und ihrer Kirche. Aber täusche ich mich, wenn ich dort insgesamt eine etwas größere Grundloyalität mit ihrer Kirche spüre, bis hin zum Kirchenbesuch?

Doch das meine ich noch gar nicht mit der sarkastischen Parole „Kirche wird durch Frust erst schön“, sondern vielmehr eine Erfahrung, die man nicht nur machen, sondern auch leider gar nicht bestreiten kann: Dass nämlich so vieles, was wir betreiben, offenkundig (oder scheinbar) so erfolglos, so unfruchtbar bleibt, dass so viele Hoffnungen und Anstrengungen – eben frustriert werden. Weniger Leute gehen zur Kirche, lassen ihre Kinder noch taufen, bleiben nach der Konfirmation noch TeilnehmerInnen am kirchlichen Leben. Immer wieder ängstigen uns neue Zahlen. Das Geld wird knapper und knapper. Einmal können wir die jungen Theologen nicht mehr einstellen – ein ander Mal haben wir zu wenige Studienanfänger in der Theologie. Und gegen all dieses predigen, hoffen und arbeiten wir an. Und immer, wenn die Kraftfahrzeugindustrie neue Zulassungsrekorde vermeldet, lesen wir neue Rekord-Zahlen über die Kirchenaustritte. Wie lange lohnt sich das noch?

Wie soll ich heute mit diesen Erfahrungen umgehen? Ich denke, indem ich mich unverstellt und ohne Beschönigung darauf einlasse. Und zwar will ich das, vielleicht im Augenblick zunächst ganz unerwartet (aber warum eigentlich nicht?), tun mit einem biblischen Text, der von solchen Erfahrungen ganz frisch und farbig geprägt ist, nämlich mit Lukas 8, 4-15.

LUT Luke 8:4 Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus den Städten zu ihm eilten, redete er in einem Gleichnis: 5 Es ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen's auf. 6 Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. 7 Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten's. 8 Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!

9 Es fragten ihn aber seine Jünger, was dies Gleichnis bedeute. 10 Er aber sprach: Euch ist's gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den andern aber in Gleichnissen, damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören. 11 Das Gleichnis aber bedeutet dies: Der Same ist das Wort Gottes. 12 Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden. 13 Die aber auf dem Fels sind die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Doch sie haben keine Wurzel; eine Zeitlang glauben sie, und zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab. 14 Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht. 15 Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.


Erstaunlich! Da erzählt Jesus ein Gleichnis – und die Jünger verstehen: Bahnhof…Aber wie kommt eigentlich der Evangelist (mit wichtigen Varianten zu Matth und Markus) dazu, Jesus von Nazareth eine Redeweise zu unterstellen, die nicht einmal die Jünger selber verstehen? (Bei Matth sind es immerhin die anderen, die nicht sogleich kapieren.) Sie alle selber kennen ja die Erfahrung: Jemand erzählt einen Witz – und keiner lacht, keiner kapiert die Pointe, wenn da überhaupt eine ist. Aber die Rede Jesu von Nazareth zeichnet sich doch gerade durch ihre sozusagen absolute Pointensicherheit aus. Und spätestens die Evangelisten oder der Redaktoren werden dafür gesorgt haben, dass nur vollkommen Verständliches von diesem Jesus ins Evangelium kommt – so wie wir Zeitungsredakteure das ja auch tun, wenn wir aus schwer verständlichen Texten leicht verständliche machen, so lange es nicht gerade unsere eigenen sind.

Was ist da also los, wenn das Gleichnis vom Sämann sich nicht sogleich von selber versteht und Jesus von Nazareth das Gleichnis gleich noch einmal erläutern muss, wie einen Witz, den keiner von Anfang an verstanden hat?

Ich verstehe diesen wunderlichen Vorgang so, dass die frühe Gemeinde des Lukas sich mit ihren eigenen Frusterfahrungen auseinandersetzt – in dieser Geschichte, die eigentlich beim zweiten Erzählen noch wenig aufgeht als beim ersten. Da ist also zunächst der Sämann – der bringt seine Saat aus. Aber nur weniges fällt auf fruchtbaren Boden. Wie bei uns auch. Wie schon in der jungen, bald bedrängten Christenheit. Viel getan, viel getagt, viel gepredigt, gebetet, gesät – und so wenig geerntet.

Und wie gefrustet die junge Gemeinde und der Evangelist sind, erkennen wir, wenn wir sehen, wie beim zweiten Erzählen, beim Erläutern des Gleichnisses ( oder – pardon! – des Witzes) das Bild und das Gleichnis verwackeln. Erst nämlich ist das Saatgut das Wort Gottes – und Etliches davon fällt auf die Wege, zwischen die Steine und unter die Dornen und verkommt, geht jedenfalls nicht auf. Aber beim zweiten Erzählen klagt der Evangelist (und klagt die Gemeinde) nicht mehr über die Bodenverhältnisse, sondern über die Menschenverhältnisse. Denn dann sind die Saatkörner mit einem Mal, also beim zweiten Mal, nicht mehr die Worte Gottes, sondern die Menschen selber. Die einen Menschen liegen auf dem Weg, jene zwischen Steinen, die anderen unter Dornen – als habe sie der Herrgott selber dort hingeworfen, auf dass sie nun wurzellos vertrocknen. Im Deutsch-Aufsatz würde uns ein solche Sprung im Bild rot angestrichen. Aber offenbar ist der Frust schon in der jungen Christenheit so groß, dass er sich auf so offenkundig unbeholfene Weise Ausdruck verschafft. Schuld sind offenbar immer die anderen: Die nicht hören wollen auf unser schönes Predigen, die nicht dankbar sein wollen für unser Engagement, die nicht in erwünschter Zahl kommen wollen zu unseren schönen Sonderveranstaltungen, für die wir uns fast auf den Kopf stellen.

Also: Hier liegt irgendwo ein Bruch vor. Aber das schulmeisterlich festzustellen und zu rügen, kann nicht Sinn des Umgangs mit biblischen Texten sein. Folglich fragen wir: Ist dieser Bruch in der Geschichte vielleicht sogar notwendig, ein notwendiger Hinweis auf eine Wahrheit, die wir noch nicht sehen? Haben wir eigentlich den richtigen Bruch gesehen?

So frage ich – und zwar als ein Sohn eines Landwirts, wenn Sie mir das bitte nachsehen mögen.

Wenn wir uns auf dem elterlichen Hof, freilich in der mechanisierten Landwirtschaft, auf die Aussaat vorbereiteten, gingen wir sehr achtsam zu Werke. Es galt zunächst, die Sämaschinen genau zu kalibrieren, damit exakt die richtige Menge des Saatgutes (nicht zu wenig, aber auch nicht zuviel) auf die Fläche ausgebracht wurde. Die Saatkörner hatten im richtigen, in einem ihrem Wachstum gedeihlichen Abstand in die Furche zu fallen – und die Furchen hatten den richtigen Abstand voneinander zu halten. Erst wenn die Maschinen auf dem Hof genau eingestellt waren, ging es aufs Feld. Mit anderen Worten: Es war die Sache das haushälterischen „Sämannes“, darauf zu achten, das möglichst kein Saatgut „daneben“ ging. (Und auch jener Sämann, der noch mit der umgebundenen Saatgutschüssel – oder, noch etwas früher: mit einem umgehängten Sack – übers Feld schritt, achtete sorgfältig darauf, dass sein Wurf möglichst so dosiert war, dass nichts auf den Weg oder gar ins unfruchtbare Gestein fiel.) Wenn wir damals vor der Aussaat auf unserem Hof dieses Gleichnis gelesen hätten, so hätten wir uns über diesen Sämann eher gewundert. Und zwar schon als Landwirte, nicht erst als Jünger Jesu. Wie konnte er nur so unachtsam sein, dass ihm lediglich „einiges auf gutes Land“ (V. 8) fiel – und das meiste daneben?


Aber Beckmesserei, wenngleich sie selbst unter Theologen vorkommt, ist in der Theologie selbst nicht erlaubt – ungeachtet aller notwendigen Textkritik. Wir müssen also nach dem außergewöhnlichen theologischen Grund suchen, der diesen merkwürdigen Sämann ins Bild bringt.

Wir stoßen hier offenkundig auf die Grenzen des Gleichnisses selber, nämlich auf den gewaltigen Unterschied zwischen der gewöhnlichen Landwirtschaft und der Herrschaft Gottes. Der Landwirt behandelt sein Saatgut zwar sorgfältig; und zwar als ein zu mehrendes Gut – einerseits möglichst sparsam auszubringen, andererseits möglichst reichlich zu ernten, aber behandelt es als Objekt, als teuer erworbene und nach der Ernte vermehrt zu veräußernde Ware; und er geht damit um wie ein Ökonom. Nichts meidet er mehr als die Verschwendung. Er geizt mit seinen Rohstoffen und Ressourcen. Und hinterher rechnet er ab: Hat’s sich gelohnt – oder nicht? Wenn nicht – dann zieht er einen Flunsch und ist gefrustet. Wie wir, wenn wir sagen: Es ist Kirche – und keiner geht hin.

Gott aber breitet sein Wort großzügig, noch einmal rein landwirtschaftlich betrachtet: geradezu unbedacht, ja regelrecht verschwenderisch aus, jedenfalls völlig unökonomisch. Er entäußert sich nicht nur eines warenhaften Saat-Gutes (mit der Erwartung auf naturwüchsigen Gewinn), sondern er entäußert sich wahrhaft seiner selbst, in seiner Güte – und zwar nicht mit der Erwartung auf Gewinn, sondern auf Antwort. Es geht nicht um die Vermehrung einer Ware, sondern um die Ausbreitung der einen Wahrheit. Gottes „Säen“ ist kein landwirtschaftliches, sondern ein personales Handeln – kein Rechnen, sondern ein Reden, kein Anspruch, sondern ein Zuspruch.

Er kann es und will es sich offenbar leisten, dass vieles auf, die Wege, zwischen die Steine und unter die Dornen fällt. Wobei wir uns übrigens vor dem Irrtum hüten müssen, ausgerechnet wir wüssten so genau, wo in der Kirche die Dornen und Steine liegen. Manchmal mitten im Kirchenschiff und direkt unter der Kanzel… Und manchmal wächst gerade dort etwas Schönes, wo wir geistlichen Landwirte es gar nicht für möglich halten würden. Vor allem aber ist, wenn von Wegen, Steinen, Dornen und gutem Boden gesprochen wird, nicht von Boden-Verhältnissen die Rede, sondern von einem Verhältnis zu uns Menschen, daraufhin aber auch: unter uns Menschen – ein Verhältnis, in das einzutreten wir eingeladen sind und wozu wir alle anderen einladen dürfen. Eine Mit-Teilung, eine Kommunikation, geradezu: eine Kommunion. Jedenfalls eine ganz offene Einladung – und kein Gestellungsbefehl, etwa mit dem Unterton: Das Nichterscheinen zieht Unannehmlichkeiten nach sich… Zumindest für den, der gefrustet unter der Kirchentür steht.

Das Gleichnis vom Sämann, das wir uns soeben vergegenwärtigt haben, ist also im Grunde gar kein Gleichnis, sondern es spricht von einer großen Un-Gleichheit, von einem himmelweiten Unterschied zwischen Gott und dem gewöhnlichen Landwirt, zwischen Gott und uns. Gerade, weil dies im strengen Sinne ein Ungleichnis ist, wirkt diese Geschichte so ungeheuer befreiend. Wir sind nämlich, wenn wir auf dem Acker Gottes unsere Wirtschaft betreiben – als KirchenvorsteherInnen, als Gemeindeglieder, als Pastoren – , freigestellt von den Zwängen, die auf unseren übrigen Feldern gelten. Wir müssen eben nicht so schrecklich mit dem Saatgut geizen: Nur kein Körnchen auswerfen, wo nicht schon die größte Ernte von vorneherein abzusehen ist. Warum säen wir eigentlich? Nur, weil es uns um den Erfolg geht – oder einfach weil die Einladung heraussoll: To whom it may concern … An alle, die es angeht.

Man muss sich ja nicht gerade in den Misserfolg verlieben. Aber wer sich in den Erfolg verkrampft, der programmiert vielleicht seinen Misserfolg. Ich würde mich auch einer Einladung entziehen, bei der mir schon, bevor sie ausgesprochen wird, signalisiert wird: „Wenn Sie nicht kommen, werde ich aber frustriert sein! Eigentlich spüre ich schon jetzt, dass Sie wieder nicht können.“ Es mag ja sein, dass das Hochgefühl an der eigenen guten Tat erst durch den Frust recht schön wird, weil man dann so richtig sagen kann: Ich hab’s doch nicht für den Erfolg getan, es war ja gleich zu sehen, dass keiner kommt.

Wenn ich also das Gleichnis vom Sämann lese, dann wünsche ich uns eine ähnliche Unbekümmertheit und Unverkrampftheit in der Ausbreitung unserer Gaben und Einladungen.

Und wenn wir uns dann von dem Erfolgsdruck des gewöhnlichen Landmannes (bei Robert Schumann ist es wenigstens der „Fröhliche Landmann“) – wenn wir uns also von dem Erfolgsdruck des gewöhnlichen Landwirtes in uns haben durch diese Geschichte befreien lassen, dann können wir uns ruhig tüchtig an die Feldarbeit machen – wie jener kleine Bauer in Ostpreußen, der vom Staat ein Stück’l Brachland geschenkt bekam. Das rodete er nun eifrig, pflügte, steckte Kartoffeln im ersten Jahr, die er dann erst einmal unterpflügte, streute Mist, pflügte wieder, säte schließlich, walzte hinterher – und als es dann an den ersten Ernteschnitt ging, kam gerade der Pastor des Weges: „Karl, Du weist, wem Du’s in Wirklichkeit verdankst.“ – „Ja, Herr Pfarrer, das weiß ich wohl. Aber Sie hätten mal vor vier Jahren vorbeisehen sollen, als der Herrjott noch alleine jewirtschaftet hatte.“

Seien wir also weiterhin fröhliche Landfrauen und –Männer auf dem Feld des Herrn! Denn gerade dies – alleijne wirtschaften –, das will er ja gerade nicht.