Die Erinnerung an die Zeugen und Zeuginnen des Widerstandes in Kirche und Gesellschaft – Rückblick und Ausblick

Jürgen Schmude

Vorstellung des Buches „Widerstehen“ durch den Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Gedenkveranstaltung am 9. April 2002 in Berlin-Plötzensee


Das von Heinrich Rathke, Björn Mensing und anderen herausgebrachte Buch „Widerstehen-Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer“ ist nicht das erste Werk zu diesem Thema. Erst recht wird es nicht das letzte bleiben. Dafür zu sorgen und Anregung zu geben, ist das besondere Verdienst der Herausgeber und Autoren.

Die Kurzbiographien der Märtyrer und ihre zusammenfassenden Würdigungen setzen fort, was nach Kriegsende 1945 nur mühsam in Gang kommen wollte. Im Juli 1945 wurden bei der Bekenntnissynode Berlin-Brandenburg erste Namen würdigend hervorgehoben. Nach Vorarbeiten von Hans Asmussen konnte Gustav Heinemann 1948 bei der Kirchenversammlung in Eisenach schon eine weitere „vorläufige, aber nicht vollständige“ Liste verlesen.

Vieles ist seither hinzugekommen. Und doch blieb das Gefühl, wir tun nicht genug zur Erinnerung an unsere Märtyrer. Wir wissen nicht genug über sie, wir erfassen ihr Schicksal nicht ausreichend, immer noch sind viele unbekannt. Dabei hat dann jeder seine Blickrichtung, wo er oder sie schon etwas entdeckt hat oder meint, dass mehr geforscht werden sollte.

Der vorliegende Band lässt es bei einzelnen Blickrichtungen nicht bewenden. Er weitet unser Gesichtsfeld in zeitlicher und geographischer Hinsicht. Natürlich muss dabei eine Beschränkung durchgehalten werden, auf die evangelischen Märtyrer aus unserem Lande, die bei uns und anderswo zu Tode gekommen sind. Selbst wo solche Fälle aus Geschichtsbüchern oder Geschichten bekannt sind, wie bei den Blutzeugen der Reformationszeit oder den umgebrachten Missionaren, ist es sinnvoll und notwendig, sie in den Zusammenhang der Märtyrergeschichte zu stellen. Diejenigen, derer wir aus dem vorigen Jahrhunderts gedenken, haben viele Vorgänger und Vorgängerinnen.

Es gibt in dem Werk überhaupt keine Andeutung des Aufwiegens oder Relativierens, wenn den vielen Opfern des Nationalsozialismus auch die vielen anderen an die Seite gestellt werden, die vom Kommunismus verfolgt und vernichtet worden sind.

Bei diesem weiten Blick müssen die Einzeldarstellungen und die zusammenfassenden Betrachtungen kurz bleiben. Damit sprechen sie keine letzten Worte, im Gegenteil: die Fülle des Stoffes und manche unvermeidliche Lückenhaftigkeit der Schilderungen laden zur Weiterarbeit förmlich ein. Vieles gibt es da noch zu entdecken, zu ergänzen und vertiefen. Ausführliche Literatur- und Quellenverzeichnisse bieten Hilfen für solche Arbeit an.

Der vorliegende Band nötigt zum Blick auf die große Unterschiedlichkeit der Blutzeugen des christlichen Glaubens. Da gibt es diejenigen, die bei ihrem Bekenntnis und der Fürsorge für ihre Mitchristen blieben, die einfach nicht weglaufen oder verleugnen mochten, und schon dafür in der frühen Sowjetunion ermordet oder durch Vertreibung und Gefangenschaft umgebracht wurden. Es gibt diejenigen, die politisch hellwach das Unheil des Nationalsozialismus wahrnahmen und ihre unbedingte Christenpflicht im Widerstand sahen. Pfarrer mussten sterben, weil sie sich, anders als die offizielle Kirche, massiv für den Schutz von Juden einsetzten. Richter brachten sich um oder wurden auf der Stelle ermordet, weil sie bei terroristischen Todesurteilen nicht mitwirken wollten.

Dass Märtyrernimbus und Heiligenkult in die Irre führen können, macht das Buch plausibel. Nicht Übermenschen haben die Gefahr und den Tod auf sich genommen, nicht Heilige, fern von uns. Menschen mit Fehlern waren es, auch mit Schwächen, aber in der entscheidenden Situation des Zeugnisses Heilige im Handeln und Ertragen. Gebrochene Menschen sind dabei, deren Entscheidung für den Tod wir zögernd betrachten, wie Oskar Brüsewitz. Und solche, bei denen das Ansehen ihre Martyriums nicht dadurch gemindert wird, dass ihr Tod politisch missbraucht wurde, wie bei den baltischen Pfarrern und Christen, die dem sowjetischen Terror zum Opfer fielen.

Was oft zu kurz kommt, – in diesem Band wird man dauernd darauf gestoßen. Natürlich wurden nicht nur Männer, sondern auch Frauen zu Opfern, die geglaubt, bekannt und danach gehandelt haben. Erst recht aber traf es viele Familienangehörige, besonders im sowjetischen Machtbereich. Vergewaltigung und Tötung von Frauen, Vernichtung ganzer Familien, das sind keine Nebenschicksale. Es sind Menschen, die nicht übersehen und nicht vergessen werden dürfen.

Dass das nicht geschieht, darum hat sich die Kirche gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gekümmert und sie tut es bis heute. Dabei ist klar, und das Buch unterstreicht es, dass keine Kirche die ermordeten Glaubenszeugen einfach vereinnahmen und damit ihre eigeneReputation erhöhen darf. Der sehr verschiedenen individuellen Einstellung der getöteten Christinnen und Christen wird das nicht gerecht. Und noch stärker ist Zurückhaltung gefordert, angesichts des Versagens der Kirche, besonders in der Nazi-Zeit, bei Schutz und Fürsprache für die Betroffenen. Vielfach gingen kirchliche Maßregelungen und kirchliche Distanzierung dem mörderischen Zugriff der Schergen voraus. Auch als dann das Schicksal der armen Menschen absehbar war, gab es keine Hilfe. Ein Gnadengesuch für den zum Tode verurteilten Lübecker Pfarrer, der nach der Bombardierung die Kriegführung der Nazi-Diktatur kritisierte, wurde von der Kirchenleitung ausdrücklich abgelehnt.

Das sei nicht erwähnt, um zu verurteilen. Die Brutalität der NS-Justiz und der damaligen Sicherheitsorgane steht den meisten nicht mehr klar vor Augen. Viele Menschen, deren unterlassene Hilfeleistungen wir heute beklagen, hatten schlicht Angst. Sie hatten Angst um die ihnen anvertrauten Gemeinden, Angst auch um das eigene Leben. Natürlich blieben ihr Mut und ihre aufrechte Haltung weit hinter denen der Märtyrer zurück. Wer darüber heute richten will, mag zuvor darlegen, wie es mit seiner eigenen Haltung steht und wo sie sich schon bewährt hat.

Damit werbe ich um Behutsamkeit, nicht um Nachsicht für die Verblendeten und Eiferer, die auch im kirchlichen Amt den Nationalsozialismus unterstützen und manchmal gar bejubelten.

Viele von diesen meinten später, man habe ja das Böse und das Unheil gar nicht erkennen können und von den vielen Untaten nichts gewusst. Da waren sie weit hinter den Glaubenszeugen zurück, die das Unheil sehr wohl erkannten oder deutlich spürten und daraus ihre für sie selbst tödliche Konsequenz zogen. Bewiesen ist damit ein für allemal, dass man die Verbrechen und Schandtaten, ja auch den ganzen verhängnisvollen Kurs, sehr wohl erkennen konnte, selbst wenn sich manches davon nicht in aller scheußlichen Anschaulichkeit öffentlich abspielte. Hinweise, Anzeichen und auch hier und da wahrnehmbare verbrecherische Aktionen gab es genug dafür.

Die Menschen, derer wir mit diesem Band und in vielfältiger anderer Form gedenken, haben sich nicht für den bequemen Weg des Wegtauchens oder Mitlaufens entschieden. Sie haben Zeugnis von ihrem Glauben gegeben, durch Worte und manchmal schlicht durch die Tat. Es mindert die Verdienste von Widerstandskämpfern, die nicht Christen waren, in keiner Weise, wenn wir uns von denen ansprechen lassen, deren Glaubenszeugnis in seiner Eindeutigkeit und seinem Mut soweit über dem liegt, was heute von uns gefordert wird oder was wir, - noch geringer, - tatsächlich leisten. Dass Märtyrer in ihrer Zeit neue Gläubige schaffen, wird oft genug berichtet. Auch lange nach ihrer Zeit geben sie Orientierung, die Christen die Kraft des Glaubens anschaulich macht.

Solche Menschen nicht zu vergessen, sondern sie namhaft zu machen, ihr Leben und Sterben zu beschreiben und zu würdigen, das gibt ihnen das Leben noch nicht wieder. Aber es bewahrt sie vor dem zweiten Tod, dem Tod durch Vergessen, den ihnen die Mörder zugedacht haben. Das möchten verbrecherische Gewalthaber gern und bilden sich ein, es auch zu können, dass sie ihre Opfer vernichten oder „ausmerzen“ und dass dann nie mehr von ihnen die Rede ist. Sie schreiben die Geschichte nicht, Gott tut es, darauf macht Burkhart Mecking, einer der Autoren des Bandes aufmerksam. An uns freilich liegt es, z.B. mit solchen Veröffentlichung dafür zu arbeiten, dass die Täter ihr Ziel auch nicht durch Zeitablauf erreichen. Das stalinistische System hat viele seiner Opfer irgendwo und irgendwie verschwinden lassen. Weg sollten sie sein, natürlich vergessen und niemandem mehr bekannt. Dem nachzugehen, aus dem riesigen Sumpf der Gewalt und der Massenmorde doch noch Anhaltspunkte für das Schicksal der Märtyrer herauszufinden, ist ein mühsames und manchmal schier aussichtsloses Werk. Nehmen wir es auf uns, überlassen wir die Opfer nicht dem zweiten Tod, lassen wir den Mördern nicht den Erfolg.

Lebens- und Schicksalsbeschreibungen der Märtyrer rühren an und erschüttern. Wer da misshandelt, gequält und geschlagen wurde, der könnte doch eigentlich auch in unserer Freundschaft oder Familie gelebt haben. Die eigene Frau oder Tochter könnte es gewesen sein, die man weggeschleppt, die man hingerichtet hat. Über die Jahrzehnte hinweg, die seither vergangen sind, sollten wir uns Anteilnahme und Trauer bewahren. Und wir sollten, wenn mancher sich heute mit Regelverletzungen gegen den demokratischen Staat schon als Widerständler aufführt, zur Unterscheidung beitragen: Wahrer Widerstand war damals nicht zu den heutigen Bagatellpreisen zu haben.

Die Toten, an die wir uns erinnern, hätten gern weitergelebt und weitergewirkt. Wir können es. Wir können ihrer gedenken und darin auch für eine gewisse Kontinuität sorgen. Viele Namensgebungen für Straßen, Einrichtungen usw. gibt es schon, und das Buch nennt weitere Möglichkeiten. Wir leben und können unseren Beitrag dazu leisten, dass sich das mörderische Unheil der Vergangenheit nicht wiederholt. Von selbst bleibt es nicht fern, es muss bekämpft werden. Der klare Blick schon auf die Anfänge des Unrechts gehört dazu, damit es nicht unbeherrschbare Ausmaße annimmt. Woher die Kraft nehmen, wachsam zu sein und sich abzumühen? Der Glaube an Gott und sein erlösendes Handeln durch Jesus Christus gibt solche Kraft. Hat er sie den Märtyrern gegeben, dann wird sie uns für das bisschen, was uns zukommt, nicht fehlen.

Wir erinnern – mit dieser Veranstaltung und dem Buch - an Zeuginnen und Zeugen. Das kommt ihnen zu. Uns aber nützt und hilft es. Also nicht in erster Linie für sie, sondern für uns selbst und die nach uns Kommenden leisten wir Erinnerungsarbeit.