Stellungnahme der Kammer für Theologie der EKD zu Communio Sanctorum, 2002

Stellungnahme der Kammer für Theologie der EKD zu Communio Sanctorum, 2002

Die Studie „Communio Sanctorum – Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“ ist das Ergebnis des Lehrgespräches, das die zweite bilaterale Arbeitsgruppe im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD geführt hat. Sie ist die Fortsetzung des Dokumentes „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“, das von der ersten bilateralen Arbeitsgruppe 1984 fertiggestellt worden war und mit Zustimmung der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD veröffentlicht wurde.
Bei der vorliegenden Studie „Communio Sanctorum“ beschritt die Kirchenleitung der VELKD einen neuen Weg. Vor Abgabe ihrer eigenen Stellungnahme zum Ergebnis des Lehrgespräches bittet sie sowohl ihre eigenen Gliedkirchen wie auch insbesondere die ihr verbundenen unierten, lutherischen und reformierten Kirchen in der EKD und die Theologischen Fakultäten, das Ergebnis zu prüfen und ein Urteil darüber abzugeben. Dieses Verfahren ist zu begrüßen und sollte sich durchsetzen.
Angesichts der Gewichtigkeit der Thematik lässt sich freilich fragen, ob, wie in vergleichbaren Fällen (z.B. „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?“), die Lehrgesprächskommissionen nicht von vornherein mit Vertretern aus dem gesamten konfessionellen Spektrum der EKD einschließlich der theologischen Wissenschaft besetzt werden sollen. Dabei ist ein stellvertretender Dienst der konfessionellen Zusammenschlüsse (AKf/EKU, VELKD, Reformierter Bund) durchaus sinnvoll.

1. Inhalt und Absicht der Studie

Die Studie „Communio Sanctorum“ nimmt Themen auf, für die in den früher abgegebenen Stellungnahmen der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD zum Dokument „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“ eine Weiterarbeit gefordert wurde. Klärungen sollten erfolgen im Blick auf die Frage nach dem Wesen der Kirche sowie des Amtes, einschließlich des Papstamtes. Weiterbehandelt werden sollten ebenfalls die noch offenen Fragen

  • zur Lehre von der Heiligen Schrift,

  • zu Begriff und Zahl der Sakramente,

  • zum Verhältnis zwischen Priestertum aller Gläubigen und kirchlichem Amt und

  • zur Frage nach dem Kirchenrecht und der Marien- und Heiligenverehrung.

 Das Thema „Communio Sanctorum - Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“ erschien der Arbeitsgruppe als geeigneter Rahmen für die Behandlung dieser noch offenen ekklesiologischen Fragen.

 Neuland betreten zu haben beansprucht die Studie im Blick auf folgende Themen:

  • „das Zusammenwirken der Bezeugungsinstanzen beim Finden und Verkünden der Wahrheit des Evangeliums: Heilige Schrift, Tradition, Glaubenssinn der Gläubigen bzw. Priestertum aller Gläubigen, kirchliches Lehramt, Theologie;

  • die Rolle eines Dienstes an der Einheit der Kirche auf universaler Ebene und damit die mit dem Papstamt zusammenhängenden Fragen;

  • die Gemeinschaft der Heiligen über den Tod hinaus (Eschatologie, Gebet für die Verstorbenen, Anrufung der Heiligen, Maria - die Mutter des Herrn).“.

Methodisch ist die Arbeitsgruppe nach denselben hermeneutischen Grundsätzen wie in dem Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ vorgegangen. Ziel ist ein „differenzierter Konsens“. Dieser beinhaltet, so wird im Vorwort erläutert, zum einen die erreichte Übereinstimmung im grundlegenden und wesentlichen Gehalt einer bislang strittigen Lehre; zum anderen eine Erläuterung, dass und warum die verbleibenden Lehrunterschiede als tragbar gelten können und die Übereinstimmung im grundlegenden und wesentlichen nicht in Frage stellen. Mit ihrer Studie möchte die bilaterale Arbeitsgruppe eine Diskussion in Gang setzen.

2. Das Begrüßenswerte der Studie

- Die bilaterale Arbeitsgruppe knüpft, darauf wird im Vorwort (S. 13) verwiesen, insbesondere an die folgenden zwischen der römisch-katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen erarbeiteten Dokumente an: „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?“, „Kirche und Rechtfertigung“ und „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Sie tut das, und sie betont das ausdrücklich (117), in der Überzeugung, dass erreichte Übereinstimmungen und Klärungen in der Rechtfertigungslehre besonders in der Lehre von der Kirche ihren Niederschlag finden müssen. Damit zeigt die Studie zugleich an, dass die Rechtfertigungslehre als Maßstab für die Rezeption der Studie zu gelten hat.

 - Einen glücklichen Griff tut die Studie damit, dass sie in ihrer Bemühung um ein gemeinsames Kirchenverständnis ansetzt bei der Bezeichnung der Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“, zu der sich die römisch-katholische Kirche und die reformatorischen Kirchen schon im Glaubensbekenntnis gemeinsam bekennen. Die Studie deutet damit darauf hin: Gibt es einen ernsthaften Streit zwischen evangelischer und römischer Kirche über die Lehre von der Kirche, dann betrifft er zuerst eine strittige Auslegung dieser gemeinsamen Bekennntnisaussage. Und gibt es ein ernsthaftes Aufeinander-zu-Gehen dieser Kirchen in der Ekklesiologie, dann hängt das zusammen mit einer Verständigung darüber, was wir denn sagen, wenn wir sprechen: „Gemeinschaft der Heiligen“.

- Bemerkenswert ist, dass die Studie in der Absicht, eine weitere Annäherung der Kirchen zu ermöglichen, gerade den strittigen Konflikt-Themen im Bereich der Ekklesiologie nicht ausweicht, sondern sie anpackt (wie „Petrusdienst“, Schrift und Tradition, Marien- und Heiligenverehrung usw.). Grundsätzlich richtig ist auch, dass sie sich dieser Themen annimmt, um in den strittigen Punkten an Entschärfungen zu arbeiten und auf mögliche Verständigungen zwischen den getrennten Kirchen hinzuzielen. Aufgrund des Evangeliums von Jesus Christus und angesichts der enormen Herausforderungen der Christenheit in unserer Zeit, in denen die Welt ein gemeinsames christliches Zeugnis erwarten darf, ist die Bemühung um eine „Entschärfung“ der Spannungen zwischen diesen Kirchen eine Aufgabe von hoher Dringlichkeit. Dass die Studie sich dieser Aufgabe stellt, ist verdienstvoll.

3. Methodische Anfragen

3.1. Das Gefälle der Studie besteht darin, dass sich die lutherischen Vertreter der bilateralen Arbeitsgruppe weitgehend – unseres Erachtens: zu weitgehend – auf die Bedingungen eingelassen haben, die von der römisch-katholischen Seite für die volle „Gemeinschaft der Heiligen“ als notwendig erachtet werden. Was in (272) im Blick auf einen einzelnen Abschnitt gesagt wird, kennzeichnet die gesamte Studie „Communio Sanctorum“: dass eine römisch-katholische Lehre und Praxis dargelegt wird „mit dem Ziel, evangelische Zugänge zu ihnen zu schaffen“. Das umgekehrte Bemühen, evangelischer Lehre und Praxis beim römisch-katholischen Gegenüber Zugänge zu verschaffen, ist hingegen kaum zu bemerken. So reagiert die evangelische Seite eben auch weitgehend defensiv auf die römisch-katholischen Ausführungen mit dem  Versuch eines Nachweises, inwiefern und inwieweit sie schon oder noch nicht oder noch nicht ganz dem römischen Verständnis des Amts und dessen, was die Kirche zur Kirche macht und was sie eint, entgegenkommen kann. Das Maß der erträglichen Verschiedenheit und der notwendigen Gemeinsamkeit wird in der Regel aus römisch-katholischer Sicht definiert und als evangelisch vertretbar erwiesen. Es verwundert daher auch nicht, dass für die evangelische Kirche wichtige Fragen, wie die der Frauenordination, überhaupt keine Erwähnung finden.

3.2. Das Verfahren, in dem es zur Formulierung von Gemeinsamkeiten kommt, besteht weitgehend darin, zunächst trennende Gegensätze zu formulieren. Aber dann werden jeweils an den zur Diskussion stehenden Punkten unter Verwendung vager, unpräziser Begriffe, auch unter zuweilen problematischer Zitierung von Bibelstellen und unter Vorspiegelung von scheinbar eindeutigen kirchengeschichtlichen Sachverhalten, die Gegensätze in bloß graduelle Differenzen umgewandelt; und diese erscheinen dann auf einmal entweder als hinnehmbar oder gar als bei einigem guten Willen miteinander vereinbar. Es ist jedoch zu fürchten, dass die Gegensätze gerade so bestehen bleiben. Verschiedentlich entsteht im Blick auf bestimmte, durchaus noch strittige Auffassungen der Eindruck, als herrsche hier bereits volle Übereinstimmung.

3.3. Wegen der mit den Lutheranern in „versöhnter Verschiedenheit“ verbundenen anderen evangelischen Kirchen ist es erforderlich, auch deren Perspektiven zu dem verhandelten Thema einzubringen. Und dies auch  deshalb, weil sonst Gefahr besteht, dass die bereits bestehende Kirchengemeinschaft dieser reformatorischen Kirchen auf der erklärten Basis eines „gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums“ nicht ernst genommen wird.

4. Das Verhältnis von Jesus Christus und Kirche

Zuzustimmen sind Sätzen wie: „Da er [Christus] allein es ist, der die Seinen zu Gliedern seines Leibes macht, ist er das eine Haupt dieses Leibes ... Das ganze Leben der Christen als Glieder seines Leibes ist ein Wachstumsprozess zu ihm hin.“(31) „In seinem Wort und in den mit seinem Wort verbundenen Zeichen, den Sakramenten, ist Christus gegenwärtig. Durch sie ruft er die Menschen zum Glauben und wirkt in ihnen Glauben.“(36). „In der Offenbarung Gottes in Jesus Christus gründet der christliche Glaube: Der Auferstandene ist inmitten der Seinen gegenwärtig, ‘bis zum Ende der Welt‘. Er nimmt alle, die an ihn glauben, in seinen Dienst.“ (41)

Die Studie belegt mit Texten aus der lutherischen Tradition die evangelische Zustimmung zu solchen, dem Neuen Testament entlehnten, Sätzen, die das Verhältnis zwischen Jesus Christus und der Kirche beschreiben. Dem stimmt auch die reformierte Kirche zu. Calvin schreibt: „In der Kirche soll allein Christus regieren und herrschen. Er allein soll in ihr auch die Führung und den höchsten Platz innehaben und die Gewalt allein durch sein Wort ausüben.“ (Institutio IV 3.1).

Beide Seiten sagen in der Studie gemeinsam, die Kirche sei „Zeichen und Trägerin (Kursiv durch die Vf.) des göttlichen Heils“ (12). In (44) wird von der Kirche als Trägerin der universalen Vermittlung der Offenbarung gesagt, dass sie den Glaubenden gegenüberstehe.  Bedeutet dies, dass diese (Amts-)Kirche Christus zumindest so nahe und ähnlich ist, dass sie den Glaubenden gegenüber stehen kann? Und wo bleibt dann die für das Verständnis der Kirche wesentliche Unterscheidung zwischen ecclesia audiens und ecclesia docens? Durch die Verbindung der beiden Begriffe Zeichen und Trägerin entsteht zudem der Eindruck, sie meinten dasselbe. Sie bezeichnen aber Unterschiedliches: Als Zeichen hat die Kirche Verweischarakter, das entspricht  evangelischem Verständnis. Als Trägerin indes ist sie priesterliche Mittlerinstanz zwischen Christus und den Glaubenden, das ist römisch-katholische Auffassung. Auf eine solche Weise wird ein Grunddissens zwischen römischem und protestantischem Kirchenverständnis verwischt, aber eben nicht beseitigt.

Das Entscheidende, was die Kirche zur Kirche macht, ist die Gegenwart Jesu Christi in seiner Gemeinde. Er gebraucht die Verkündigung, die Sakramentsfeier und das kirchliche Amt als sein Werkzeug. Deshalb verdunkelt die Rede von der Kirche als „Raum, in dem Gott durch Wort und Sakrament den Menschen begegnet“ (37), den Ereignischarakter der Kirche (ebenfalls 37), indem dem Eindruck Vorschub geleistet wird, als existiere die Kirche als Raum unabhängig von oder gar vorgängig zu rechter Wortverkündigung und Sakramentsfeier. Damit wird auch das Problematische einer Rede vom „Grundsakrament“ deutlich, das in der neueren römisch-katholischen Theologie für die Kirche gebraucht wird (87 und 89).

5. Das Verhältnis von Heiliger Schrift und Kirche

Es ist zu begrüßen, dass in der Studie gemeinsam von der Heiligen Schrift gesagt wird, dass sie „die [die Kirche] normierende, nicht [von der Kirche] normierte Norm ist.“ „Sie ist dies, weil durch sie Gott selbst seine Wahrheit bezeugt“, und zwar verbindlich für die Kirche, wie sie es auch selbst durch „die Unterscheidung zwischen kanonischen und nicht-kanonischen Schriften“ anerkennt. „Letzter Grund der Verbindlichkeit des Kanons ist die Autorität des Wortes Gottes, das die Kirche in diesen Schriften vernimmt“ (48f.). Es fällt allerdings auf, dass unter Bezugnahme auf „Dei Verbum" die Autorität der Schrift und ihre Untrüglichkeit lediglich mit der Inspiration begründet wird. Luthers christologisch-soteriologische Zentrierung des Schriftprinzips („Was Christum treibet“), mit dem die Auffassung von der Untrüglichkeit der Schrift in allen ihren Aussagen gesprengt wird, kommt dagegen überhaupt nicht in den Blick.

Was die Ausführungen zur Tradition und zum Verhältnis von Schrift und Tradition angeht, so herrscht mancherlei Unklarheit (51-56). Unbestimmt bleibt der Traditionsbegriff. Einerseits ist da alles, die Heilige Schrift und die kirchliche Lehre, Tradition, andererseits ist Tradition die nachkanonische kirchliche Überlieferung. Aus dieser unklaren Voraussetzung wird dann der Schluss gezogen: „Schrift und Tradition können somit weder voneinander isoliert noch gegeneinander gestellt werden.“ (53). Eine klare Unterscheidung wird nicht vorgenommen und ebenso fehlt eine präzise Verhältnisbeschreibung von Schrift und Tradition. So werden in der Studie im folgenden Schrift und Tradition in der Regel einfach nebeneinander gestellt. Aber wie soll die behauptete „Überordnung der Heiligen Schrift“ (194) in Geltung gebracht werden, wenn die Kirche gleichermaßen „der Treue zum biblischen Wort sowie der verbindlichen Tradition der Kirche verpflichtet“ ist (196)? Wohl wird die kritische Befragung der Tradition „von der Schrift her“ ins Auge gefasst (56), aber nur im Blick auf „Fehlentwicklungen und Verkürzungen“ der „gelebten Tradition“ (55), nicht der Lehrtradition.

In (68) werden die Unterschiede zwischen römischer und evangelischer Auffassung hinsichtlich der Authentizität und Irrtumslosigkeit des kirchlichen Lehramts deutlich benannt. Zur Entschärfung wird dann folgendes Verständnis der Selbstauslegungskraft des Worts Gottes vorgeschlagen: „Katholischerseits müsste in Theorie und Praxis gezeigt werden, dass auch das authentische und unter bestimmten Umständen irrtumslose Lehramt ein Instrument Gottes ist, das unter der Leitung des Hl. Geistes der Durchsetzung seiner Wahrheit dient und somit nicht gegen die Selbstauslegungskraft der Heiligen Schrift steht.“ „Lutherischerseits“ wäre „diese katholische Auffassung als der Selbstauslegungskraft des Wortes Gottes nicht entgegengesetzt zu verstehen.“ Dies aber würde heißen, dass die lutherische Seite eine Unterwerfung unter das römische Verständnis des Lehramts formuliert. Was, wie es heißt, katholischerseits erst gezeigt werden müsste, ist in Wahrheit schon genau die katholische Definition dieses Lehramts. Abgesehen davon wird mit einer derartigen Entschärfung ein entscheidender Unterschied in der Auffassung über das Wirken des Hl. Geistes mitentschärft: Nach evangelischer Auffassung beruht die Selbstauslegungskraft des Wortes Gottes auf dem unverfügbaren Wirken des Hl. Geistes; nach römischer Lehre ist der Geist so an jenes authentische und u.U. irrtumslose Lehramt gebunden, dass dadurch die sichere und richtige Weitergabe der Wahrheit gewährleistet ist. Kann, ja darf von evangelischer Seite eine derartige Entschärfung gewollt sein, durch die ein Lebensnerv ihres Glaubens empfindlich verletzt wird? Nein!

6. Zum Verhältnis von Theologie und Kirche

Die wissenschaftliche Theologie wird in der Studie zu den sog. „Bezeugungsinstanzen“ des Wortes Gottes gerechnet. Ihre Funktion ist in die „Interaktion“ (72) dieser ihr vorgegebenen Bezeugungsinstanzen der Schrift, der Tradition, des Zeugnisses des ganzen Volkes Gottes und des Lehramtes eingebettet. Sie schöpft aus ihnen ihre Inhalte und hat diese „in methodisch exakter Argumentation“ zu durchdringen sowie sach- und zeitgemäß darzulegen. Andererseits hat sie die Bezeugungsinstanzen aber auch „am Maßstab der Schrift (die doch selber eine „Bezeugungsinstanz“ ist!) zu prüfen“ (69) und insofern kommt ihr „eine kritische Rolle in der Kirche“ zu (70).

Doch hat diese kritische Rolle offenbar Grenzen. Die Möglichkeit, z.B. Irrtümer des Lehramtes aufzudecken, wird ihr nicht eingeräumt. Sie kann „Verkürzungen und Verformungen in der Vermittlung(!)  der Offenbarungswahrheit bewusst machen und nach Kräften korrigieren“(70). Diese eingeschränkte kritische Funktion der Theologie hängt mit der Doppeldeutigkeit zusammen, in der hier die Schrift verstanden wird. Ist sie eine „Bezeugungsinstanz“, die auf einer Linie mit der Tradition, dem Glaubenssinn, dem Lehramt und dann auch der Theologie steht, dann bleibt der Theologie nur die Funktion, die durch Tradition, Glaubenssinn und Lehramt gefilterte Schriftwahrheit der Offenbarung Gottes zu explizieren und – wie es im Hinblick auf die notwendige Differenzierung von Glaube und Vernunft ziemlich unklar heißt – sich um „ein rationales Verstehen der Offenbarung in ihrer Wahrheit" zu bemühen (69). Wird die Schrift aber den anderen „Bezeugungsinstanzen“ wirklich gegenüber gestellt, wie es die reformatorisch klingende Rede vom „Maßstab“ der Schrift zu sagen scheint, dann wäre die Schrift nicht nur „Bezeugungsinstanz“ wie die Theologie selbst, sondern ein freies Gegenüber von Tradition, Glaubenssinn und Lehramt.

Die Schrift in dieser Freiheit in Bezug auf Tradition, Glaubenssinn und Lehramt zur Geltung zu bringen, müsste dann die Aufgabe der Theologie sein, wobei (was hier unterbleibt) exakt zu klären wäre, was eigentlich über methodische Verfahrensweisen hinaus ihre „Wissenschaftlichkeit“ ausmacht. Die Theologie wäre so gesehen aber nicht selbst eine „Bezeugungsinstanz“, sondern auf der Basis der grundlegenden kritischen Bedeutung der Schrift ein kritischer Dienst an den anderen „Bezeugungsinstanzen“ des Wortes Gottes. Wenn in diesem Sinne zu gelten hätte, dass die Theologie eine Funktion der Kirche sei, dann könnte dem vom reformatorischen Verständnis der Schrift her zugestimmt werden.

Aber in diesem Sinne gilt das in der Studie nicht. Denn die kritische Funktion der Theologie wird hier dadurch gebrochen und entschärft, dass sie den anderen „Bezeugungsinstanzen“ nur dienstbar sein kann, welche die Schrift ihres Charakters als „unüberholbare Norm“ (72) gerade entkleiden. Das zeigt sich am eindrücklichsten am Gebrauch, der von der Theologie in dieser Ausarbeitung in ökumenischer Absicht gemacht wird. Es handelt sich hier um die Kunst, gegensätzliche Lehrmeinungen der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche zugunsten der römisch-katholischen Lehrmeinung aneinander anzugleichen, ohne – wie bisher schon deutlich wurde und auch weiter deutlich werden wird – den Maßstab der Schrift alleinigen Maßstab sein zu lassen.

7. Das Apostelamt

Im Blick auf das Apostelamt wird behauptet: „Grundlegend für den Aufbau (Kursiv durch die Vf.) der Kirche ist das Apostelamt ... Die Kirche der nachapostolischen Zeit bleibt auf die Überlieferung der Apostel angewiesen“, d.h. auf ihr in der Schrift dokumentiertes Wort und Zeugnis. Denn es ist „uns“ das unüberholbare, maßgebliche Zeugnis von Jesus Christus, dem Versöhner, dem Haupt seiner Gemeinde. Darum ist „im ständigen Rückbezug auf die Apostel“, genauer: im ständig neuen Hören und Achten auf die Propheten und Apostel die Verkündigung der Kirche „selbst apostolisch“. „So dient das apostolische Amt ... der Einheit der Kirche“ (19), nämlich eben indem und sofern es die Stimme der Propheten und Apostel hört und achtet und so mit ihr übereinstimmt.

Ob darum schon die Frage nach dem Verhältnis von Apostelamt und der Kirche als der „Traditionsgemeinschaft“ (51) einigermaßen „gelöst“ ist (53), das ist allerdings die Frage. In den oben genannten Äußerungen bleibt undeutlich, ob die Kirche deshalb apostolisch ist, weil es in ihr bestimmte Ämter gibt, die aufgrund ihres Daseins für die apostolische Kontinuität sorgen, oder ob die Kirche dann apostolisch ist, wenn ihre Glieder und in ihr auch die besonders berufenen Amtsträger der Kirche das apostolische Urzeugnis vernehmen und zur Geltung bringen. Dann aber wird in aller Klarheit, und das ist in hohem Maß irritierend, gemeinsam das Angewiesensein der Kirche auf das Wort der Apostel so begründet:  „Es (!) bildet sich ein Leitungsamt heraus, das an der Autorität der Apostel teilhat und für die angemessene Weitergabe der apostolischen Tradition sorgt“ (19). Diese gemeinsam gemachte Aussage, die dem Leitungsamt, weil es sich als Leitungsamt herausgebildet hat, indikativisch  solches zuschreibt und von der behauptet wird, dass sie dem Zeugnis der Schrift entspreche, ist für die Studie von grundlegender Bedeutung. Sie wird im folgenden unter verschiedenen Aspekten vertieft, aber nicht mehr in Frage gestellt – und kann es auch nicht, weil die Kriterien „entschärft“ sind, die dafür in Betracht kommen könnten oder vielmehr müssten. Hier wird das Wort der Apostel mit solchem Leitungsamt derart zusammengerückt, dass das Angewiesensein „der“ Kirche auf das Apostelamt sich unter der Hand vermischt mit einem Angewiesensein der Glaubenden auf die Kirche, verstanden als ihr Leitungsamt. Durch das Zusammenstellen von Apostelamt und Leitungsamt sind beide nebeneinander geordnet und ist das letztere dem ersteren nicht mehr klar nachgeordnet.

Grundlegend für die Kirche ist nach evangelischem Verständnis das Wort Gottes, wie es in einmaliger Weise durch die Apostel bezeugt ist. Dadurch ist der Apostolat zwar notwendig für das geschichtliche Entstehen der Kirche, nicht aber für ihr wesenhaftes Sein. In diesem Sinn ist der Kanon und nicht das Bischofsamt Nachfolger des Apostolats.

Wenn die Kirche nach evangelischer Erkenntnis die Versammlung derer ist, „bei welchen das Evangelium rein verkündigt wird“, so ist damit gesagt, dass diese Reinheit nicht dadurch gewährleistet ist, dass es in der Kirche ein Amt gibt, sondern dadurch, dass in ihr - und dabei in spezifischer Weise vom Amt - das Evangelium verkündigt wird und so seine Verkündigung mit dem Urzeugnis der Apostel übereinstimmt.

8. Kirchliches Amt und „Laien“

In der Studie wird  „gemeinsam“ Gutes gesagt über das „allgemeine Priestertum aller Glaubenden“, das den Bereich des Gottesdienstes, der Verkündigung der großen Taten Gottes sowie auch das Lebenszeugnis im Alltag umfasst (125). Es hat so „aktiv Anteil am Leben und Tun der Kirche“ (135). Die Studie sagt ferner, es sei  auch römische Auffassung, dass das besondere Amt in der Kirche und das allgemeine Priestertum aller Glaubenden „einander zugeordnet“ sind (131) und dass also nicht etwa dieses jenem untergeordnet ist.

Unbeschadet der Zustimmung zu diesen Ausführungen, die aber durch die Verwendung des römisch-katholischen Terminus vom „gemeinsamen Priestertum“ bereits eine problematische Unklarheit in die reformatorische Vorstellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen bringen, stellen sich auch Fragen zu deren näherer Entfaltung. Es heißt, die Kirche sei „der Raum“, in dem Gott den Menschen begegnet und sie zum Glauben führt. Nach Jak. 1,17 hat „Gott uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit“, was nach reformatorischer Auslegung heißt, dass die Kirche im ganzen Geschöpf des Wortes Gottes (creatura verbi divini) ist (so immerhin auch (89)!). Aber wer ist dann „die Kirche“, die den Glaubenden (die doch als solche schon Glieder am Leibe Christi sind, deren „Versammlung“ die Kirche ist, in der Verkündigung und Sakramentsfeier stattfindet) so „gegenüber“ steht (44), dass sie diesen Glaubenden dann „die Heilsteilhabe“ vermitteln kann? Ist die Kirche nun doch nur die Amts-Träger-Person?

Nach römischer Ansicht unterscheiden sich allgemeines Priestertum aller Gläubigen und das hierarchische Priestertum „dem Wesen nach“, so dass es neben der „Rechtfertigungsgnade für alle Christen“ noch eine besondere, diesen wesentlichen Unterschied begründende spezifische Begnadung der Amtsträger gibt (131). In (132) wird nun dieser wesentliche Unterschied als gemeinsame Aussage formuliert. Aber was begründet diesen Unterschied? Dies, dass Christus (und nicht die Gemeinde) zu diesem besonderen Amt beauftragt (ebd.)? Ja, aber der Auftrag aller Christen zur „Verkündigung der großen Taten Gottes“ (125) ist doch ebenso in dem Auftrag Christi begründet und nicht etwa darin, dass der Priester dazu beruft. In der Argumentation sind zwei Ebenen vermischt, die zu unterscheiden sind: die Frage nach der Ordnung der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi, also eines besonderen Dienstes und die Behauptung eines Priester-Amts, welches dann als „die Kirche" zwischen Christus und den Glaubenden „vermittelt". Aber dieses Unbestrittene kann doch nicht ausschließen, dass die Gemeinde Männer und – N.B. – Frauen zu diesem im Auftrag Christi zu verrichtenden besonderen Dienst „delegiert" (gegen (132)). Die evangelische Erkenntnis von dem einen Dienst der Verkündigung des Evangeliums in Predigt und Sakramentsdarbietung, der prinzipiell allen Glaubenden anvertraut ist und zu dem Einzelne besonders berufen werden, wird trotz der oben zitierten begrüßenswerten Aussagen in deren näherer Erläuterung verdunkelt.

9. Der „Petrusdienst“

Der Unterabschnitt über das Papstamt ist der bei weitem längste der ganzen Studie, länger als die meisten Kapitel.  Darin schlägt sich die besondere Bedeutung dieses Themas im Rahmen der Studie nieder: Die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“, um die es darin geht, kann nach römisch-katholischer Auffassung ohne das Papstamt nicht bestehen, denn es gehört „zu ihren wesentlichen und daher unaufgebbaren Strukturen“ (193.1). Das ist deshalb der Fall, weil nur dank des vom Papstamt geleisteten „Petrusdienstes“, der insbesondere in der Wahrnehmung seiner „letztverbindliche[n] Leitungs- und Lehrkompetenz“ besteht (193.3), die Kirche jene Einheit in der Wahrheit besitzt, die zu ihrem Wesen gehört. Anders gesagt, weil dieser Dienst ein für die Kirche „notwendige[r] Dienst am heilsnotwendigen Evangelium“ ist (193.1). „Geschichtlich verwirklicht“ ist das ihn leistende Amt „in Person und Aufgabenstellung des Bischofs von Rom, des römischen Papstes“ (193.2). In diesen Aussagen der Studie kulminieren ihre Ausführungen über die Einheit der Kirche im römisch-katholischen Sinn.

Der für den „Petrusdienst“ für möglich, ja für notwendig gehaltene Zugang, ergibt sich ganz konsequent aus den in den Kapiteln vorher vorgenommenen Entschärfungen und Zugängen hinsichtlich des Verständnisses von Christus und Kirche, Schrift und Tradition, von Lehramt und Priestertum aller Glaubenden. Auf der ganzen Linie der Studie liegt es, wenn die lutherische Seite im Blick auf den „Petrusdienst“ schließlich formuliert: Es gebe „keine grundsätzlichen Einwände“ gegen den „gesamtkirchlichen Petrusdienst“ unter den Bedingungen, dass die Überordnung der Hl. Schrift sowie die Gesamtverantwortung aller Getauften gewahrt werde (194). Da in (182) von der römisch-katholischen Seite herausgestellt wird, dass sie diese Bedingungen schon längst anerkennt, scheinen wenigstens diese Einwände ausgeräumt. Es rächt sich nun die Nebeneinanderstellung von biblischem Wort und „verbindlicher Tradition der Kirche“ (196), denn  es ist nach „Communio Sanctorum“ gerade die „Kirche“, die mit der „Gestalt des Petrus Funktionen eines Lehr- und Hirtendienstes verbunden“ hat (163).

Der Grundzug, der die Studie als ganzes kennzeichnet, dass „evangelische Zugänge“ zu römisch-katholischen Aussagen geschaffen werden sollen (vgl. 3.1. der Stellungnahme S. 3), gilt für dieses zentrale Kapitel in besonderer Weise. Dass die evangelischen Kirchen selbst eine Anschauung von der Realisierung universeller Gemeinschaft haben und diese immer wieder beschrieben haben - so in den Bekenntnisschriften -, wird nicht dargelegt. Es kommt nur einmal kurz und folgenlos zur Sprache (185), dass die evangelische Kirche selbst eine Tradition in der Ordnung und Gestaltung ihres Kirchenwesens hat. So bestätigt sich auch hier der Eindruck, dass von einem Bemühen der römisch-katholischen Seite, Zugänge zur evangelischen Sicht und Praxis zu schaffen, in „Communio Sanctorum“ keine Rede sein kann.

Problematisch ist bereits der in der Studie verwendete Begriff „Petrusdienst“. Zum einen wird dieser Begriff in ungeklärtem Ineinander sowohl funktional gebraucht für den Dienst an der universalkirchlichen Einheit der Kirchen überhaupt als auch für die spezifisch römische, durch den Papst repräsentierte Art dieses Dienstes. Zum anderen suggeriert der Begriff, dass der Dienst an der Einheit unbedingt und primär durch eine einzelne Person wahrgenommen werden muss; kollegiale und synodale Formen kommen immer nur neben dieser Gestalt in den Blick.

Problematisch sind weiterhin auch die exegetischen und die kirchenhistorischen Ausführungen.

Zur Begründung der Petrusvollmacht wird Mt. 16, 18 f. angeführt (159). In diesem Zusammenhang wird dann zwar auch auf Mt. 18, 18 verwiesen: Von der dort allen Jüngern übertragenen Vollmacht wird gesagt, sie richte sich darauf, innerkirchlich über Verfehlungen gegen Gottes Gebot zu richten und die Sünde zu vergeben. Ergänzend wird aber noch hinzugefügt: „Die apostolische Vollmacht und Verantwortung bezieht sich jedoch umfassender auf die Erschließung des Heilsweges Jesu für alle Menschen.“ Auf die sich hier notwendig stellende Frage, wie sich die dem Petrus übertragene Vollmacht (Mt. 16, 18) und die allen Jüngern übertragene Vollmacht (Mt. 18, 18) zueinander verhalten, wird nicht eingegangen. Oder wird stillschweigend das Verhältnis so gedeutet, dass die Petrusvollmacht über die allen Jüngern übertragene Vollmacht, den Menschen das Heil zu erschließen, noch hinausgeht?

Recht merkwürdig mutet das in (161) zum Verhältnis von Paulus und Petrus Gesagte an: „Für Paulus war es wichtig, mit Petrus Gemeinschaft zu haben (Gal. 1, 19; 2, 9), und unerträglich, wenn gerade Petrus sich in einer entscheidenden Frage nicht dem Evangelium gemäß verhält (Gal. 2, 11 ff.)“. Abgesehen davon, dass durch die Worte „nicht dem Evangelium gemäß verhält“ unterschlagen wird, dass es in dem Konflikt zwischen Paulus und Petrus um die Wahrheit des Evangeliums geht, wird der Anschein erweckt, als gehe es in dem biblischen Text darum, sowohl das Bestreben des Paulus, mit Petrus zusammenzusein, als auch sein Leiden an dem Konflikt mit Petrus vom Primat des Petrus her zu deuten. Die Relativierung der Autorität des Petrus durch Paulus, wie sie im Galaterbrief zum Ausdruck kommt, wird in eine Bestätigung der Autorität des Petrus umgedeutet.

Außer dem exegetischen Befund wird die kirchengeschichtliche Entwicklung als Beweis für die ekklesiologische Bedeutung des „Petrusdienstes“ angeführt (164 ff.).  Was die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Petrusdienstes betrifft, so wird durchweg im zweiten obengenannten Sinne des Begriffes von der Entwicklung des römischen Papsttums gesprochen; d.h., die Geschichte, die man – in normativer Absicht – zeichnet, ist die Vorgeschichte des gegenwärtigen römischen Stuhls. Dass sich im Laufe der Kirchengeschichte auch andere Weisen des Dienstes an der Einheit – der funktionale Sinn des Begriffs „Petrusdienst“ – erhalten oder herausgegebildet haben, kommt nicht in den Blick. Die Geschichte des römischen Stuhls wird als Erfolgsgeschichte gezeichnet. Zwar mangelt es nicht an kritischen Bemerkungen zu verschiedenen Zügen von Theorie und Praxis des Papsttums, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung von der Spätantike bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (168 – 173). Doch im Blick auf die eigentliche Aufgabe dieser Institution, der Einheit in der Wahrheit zu dienen, stellt man kein in die Tiefe gehendes Versagen fest.

Nun kann man gewiss von römisch-katholischen Theologen nicht erwarten, dass sie die Dinge anders sehen. Doch  diese historisch–dogmatische Skizze als eine gemeinsame Darlegung zu verstehen, deren Aussagen  auch die lutherischen Mitverfasser tragen, erstaunt. Bekanntlich konnte die Reformation in der Geschichte des Papsttums keine Erfolgsgeschichte sehen, sondern nur eine Geschichte des Verfalls. Dieses Urteil bezog sich nicht bloß auf allerlei Fehlentwicklungen und Missbräuche im einzelnen, von denen „Communio Sanctorum“ selbst etliche einräumt, von denen manche durch die Reformatoren zweifellos auch verzerrt präsentiert wurden; sondern es bezog sich zentral darauf, dass Rom gerade nicht der Einheit in der Wahrheit gedient habe und diene, sondern die Einheit auf Kosten der Wahrheit durchsetzen wolle. Nirgendwo zeigte sich dies aus evangelischer Sicht so deutlich wie darin, dass Rom die Reformatoren und ihre Anhänger aus der Kirchengemeinschaft ausschloss - ein Vorgang, der sich dann im Ausschluss der Gegner der Papstdogmen von 1870 wiederholte. Es ging den Reformatoren bei ihrer Sicht auf das Papsttums also wesentlich um das Verhältnis von kirchlicher Autorität und Wahrheit des Evangeliums.

Indem die Reformatoren dem Papsttum als dem Inbegriff kirchlicher Autorität vorwarfen, im Widerspruch gegen die Wahrheit des Wortes Gottes zu stehen, stellten sie positiv fest, dass keine Instanz in der Kirche gegen Irrtum gefeit oder gar Garantin der Wahrheit ist, sondern dass das Wort Gottes im Heiligen Geist sich selbst, notfalls auch gegen die kirchlichen Autoritäten, durchsetzt und diese nur seinerseits in der Wahrheit halten kann. Dies ist für die Reformatoren eine ekklesiologische Grundtatsache, die sie bereits im NT im Widerspruch des Paulus gegen Petrus im Galalerbrief belegt finden. Dieser Grundtatsache suchen die Reformatoren beim Aufbau ihres eigenen Kirchenwesens Rechnung zu tragen. Ein Papsttum dabei für kirchenkonstitutiv (iure divino) zu halten ist demnach für sie ausgeschlossen; über ein solches unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit mit eingeschränkten zeitlichen Vollmachten (iure humano) nachzudenken sehen sie sich frei. Allerdings kommen die Bekenntnisschriften auch unter diesen Gesichtspunkten zu dem Schluss, dass die Kirche besser ohne eine solche Institution bliebe. Vielmehr solle die Christenheit so regiert werden, „dass wir alle unter einem Häupt Christo leben und die Bischofe alle gleich nach dem Amt ...fleißig zusammenhalten in einträchtiger Lehre, Glauben, ... Sakramenten, Gebeten und Werken der Liebe etc.“ (Asm. II, 4 – BSELK 430, 6-8). Dem entsprechen die synodalen Vorstellungen zur Gestaltung der universalen Gemeinschaft, die das Luthertum aufgegriffen und entwickelt hat - Vorstellungen, die „Communio Sanctorum“ leider nicht zum Thema macht.

In der reformierten Tradition wurde betont, dass der lebendige Sohn Gottes selbst eine Gemeinde „durch seinen Geist und Wort ... versammelt" und diese „schützt und erhält“ (Heidelberger Katechismus, Frage 54). Er ist recht eigentlich „der einzige universelle Bischof“ der Kirche (Confessio Gallicana, Art. 30). Er ist es, indem er selbst das dreifache Amt als Prophet, König und Priester ein für allemal ausgeübt hat und so noch heute und für immer ausübt. An der Ausübung dieses dreifachen Amtes Christi nehmen Menschen auch aktiv teil: in Entsprechung zu dem, was Christus tut. Christus allein leitet die Christenheit, denn nur in seiner Hand sind diese drei Ämter vereinigt; hingegen sind die drei von Menschen versehene Dienste auf verschiedene Hände verteilt: die Aufgabe der Verkündigung (bzw. der reinen Lehre) auf die Pastoren (bzw. die Lehrer), die Aufgabe der Gemeindeleitung auf die Presbyter, die Aufgabe der Hilfeleistung auf die Geldverwalter und Helfer für die Armen und Kranken. Diese Unterscheidung muss auch in der äußeren Struktur der Kirche sichtbar sein. Die überörtlichen Ämter sind dabei in der Regel von den örtlichen delegiert.

Gegenüber der Situation im 16. Jahrhundert bedeuten die dogmatischen Festlegungen des Ersten Vatikanischen Konzils über den Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit des Papstes eine prinzipielle Verschärfung. Diese macht die damals durch die Reformatoren erwogene Anerkennung des Papsttums iure humano evangelischerseits unmöglich. Angesichts dieser Festlegungen wird in (181) von den evangelischen Mitverfassern die kritische Frage gestellt: „ob der nach ihrer Auffassung vom Evangelium her notwendige ‘Verbindlichkeitsvorbehalt’ allen Entscheidungen der Kirche noch gegenüber gewahrt ist, der in der Unverfügbarkeit und Letztverbindlichkeit des Evangeliums begründet ist.“ Im Blick auf die Festlegungen des Zweiten Vatikanischen Konzils wird von evangelischer Seite kritisch gefragt, wie „die Aussage, dass das kirchliche Lehramt nicht über dem Wort Gottes steht, sondern ihm zu dienen hat“, sich verhält zu „der gleichzeitig getroffenen Festlegung, dass nur das Lehramt der Kirche das Wort Gottes verbindlich erklären darf“ (182). Die Aussagen, die auf eine Beseitigung dieser Differenzen zielen, nämlich, dass die „Lehrverantwortung des Papstes“ auf der „gemeinsamen Wahrheitsverantwortung des Volkes Gottes beruhen“ und dass die Überordnung der biblischen Wahrheit anerkannt werden müsse, führen in ihrer Unbestimmtheit nicht weiter. Gleichwohl wird von lutherischer Seite am Ende gesagt: „Die Bindung eines solchen universalen Petrusdienstes an den Bischof von Rom legt sich für die abendländische Christenheit trotz aller Belastungen aus historischen Gründen nahe“ (191). Schließlich wird gemeinsam formuliert, der „Petrusdienst“ entspreche dem Wesen und dem Auftrag der Kirche (195).

Unverkennbar ist damit zugunsten der römisch-katholischen Lehre, nach der die Kirche, ihre Einheit und ihre Wahrheit ohne das Papstamt nicht bestehen können, die protestantische Überzeugung preisgegeben worden, dass alles auf die Einheit der Christen im Glauben ankommt, die durch die Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament gewirkt und zur Darstellung gebracht wird (CA 7), jegliches kirchliche Amt hingegen dem nachgeordnet ist und nicht zur Bedingung für die Kirchengemeinschaft gemacht werden kann.

10. Rechtfertigung der Sünder und die Heiligen

„Nach Überzeugung unserer Kirchen“, so wird in (117) auch gesagt, „hat die Rechtfertigungsbotschaft für die Lehre, das Leben und die Ordnung der Kirchen insgesamt zentrale Bedeutung...“ Von da aus eröffnet sich laut der Studie „der Weg zu einer Verständigung über die bisher strittigen Fragen einer Fürsprache der Heiligen und der Möglichkeit ihrer Anrufung“ (239). Also: „Wenn Glaubende Gott anbeten, dann ehren sie ihn auch in allen seinen Werken“ (236). Und: „Der heilige Mensch ist heilig als der Gerechtfertigte, der sein Leben in Glauben und Liebe führt“ und der „dergestalt Zeuge Christi geworden (ist), dass uns der Herr in ihm begegnet“ (240).

Wenn daraufhin die „Anrufung“ der Heiligen von lutherischer Seite nicht mehr als kirchentrennend angesehen wird (243), so fragt sich, ob in den angeführten Sätzen nicht doch Unklarheiten stecken, so dass die Gemeinsamkeit eher eine scheinbare ist. Wandelt sich das Ehren Gottes „in seinen Werken“ hier unversehens in ein Ehren seiner Werke? Und wenn denn der Heilige heilig ist „als der Gerechtfertigte“, wie kann dann sein „Glauben und seine Liebe“, so, als hätte er darin nun seine Rechtfertigung hinter sich, zum Gegenstand einer Heiligenverehrung werden? Genügt es da zu sagen, dass solche Verehrung „die alleinige Mittlerschaft“ Christi nicht mindern kann (241), ohne dass dabei klar herausgestellt ist, dass sie die alleinige Mittlerschaft Christi darum nicht mindern kann, weil die nach der Schrift so wunderlichen Heiligen bleibend auf sie und also auf die Rechtfertigung angewiesen sind?

Die Tür für ein fragwürdiges Verständnis der „Heiligkeit“ öffnet sich mit dem Satz: „Mit der menschlichen Freiheit (!) ist die Möglichkeit (!) eines schuldhaften Versagens gegeben, aufgrund dessen wir mit der Möglichkeit (!) ewigen Verderbens zu rechnen haben“ (214). Die „Möglichkeit“ von Schuld ist nach Joh. 8,34 nicht eine Gestalt von Freiheit, sondern von Anfang an Knechtschaft. Und wenn Schuld nur eine „Möglichkeit“ ist, dann gibt es anscheinend auch die Möglichkeit von Nicht-Schuld, aufgrund derer wir dann wohl gar mit der „Möglichkeit“ ewiger Errettung rechnen dürfen. Die Wirklichkeit des Erbarmens Gottes bezieht sich aber gerade auf die „schuldhaften Versager“, die durch den „Sohn“ erst „recht frei“ – vom ewigen Verderben! – gemacht werden. Und wird das in der Kirche verkündigt, gehört und geglaubt, dann ist sie damit in allen ihren Gliedern (und wohl besonders in denen, die „uns dünken die schwächsten zu sein“, 1. Kor. 12, 22) „die Versammlung aller Heiligen“ (5).

Das Grundproblem dieses gesamten Abschnittes über die „Verehrung der Heiligen“ ist ein diffuser Übergang vom neutestamentlichen Verständnis aller Christenmenschen als „Heiligen“ hin zu besonderen (liturgisch zu verehrenden) Heiligen. Verschärft wird dies noch durch die römisch-katholische Lehre und Praxis der kirchenrechtlichen „Heiligsprechung“ von Menschen, die als Christen im neutestamentlichen Sinn schon „Heilige“ sind. Die kritische Sicht darauf fehlt in „Communio Sanctorum“.

11. Schlussbemerkung

Am Schluss von „Communio Sanctorum“ heißt es: „Die in dem von der Bilateralen Arbeitsgruppe geführten Dialog gefundenen Annäherungen müssen sich in Lehre und Praxis unserer Kirchen bewähren. Weil sie zu einem umfassenden gegenseitigen Verstehen und Annehmen beitragen sollen, bedürfen sie der Rezeption auf allen Ebenen kirchlichen Lehrens und Lebens.“ (274) Bei aller Würdigung der erreichten Einigung kann eine Rezeption nicht empfohlen werden. Einige Punkte bedürfen vielmehr einer klärenden Revision.
 
Hannover, den 28. Februar 2002