Kirche mit Hoffnung

2. Die Aufgabe: Was Leitlinien wollen und leisten können

2.1 Leitlinien als Handlungsperspektive

2.1.1. Leitlinien kirchlicher Arbeit sind heute sinnvoll, um zur Überwindung des ziellosen Handelns der Kirche beizutragen, mit dem auf das Wegbrechen gewordener Strukturen und Lebensweisen der Kirche nur reagiert wird. Es geht für die Kirche darum, von neuem eine Perspektive ihres Handelns zu gewinnen. Diese müßte sie befähigen, die Situation, in der sie heute ihrem Auftrag nachzukommen hat, nicht nur hinzunehmen, sondern selbst zu gestalten und die dazu erforderlichen mutigen Schritte nicht zu scheuen.

Leitlinien zum Gewinnen solcher Perspektiven können nicht den Charakter von gesetzlichen Normen für das kirchliche Handeln haben. Vielmehr geht es um Gesichtspunkte, ohne deren Berücksichtigung in den unterschiedlichen konkreten Entscheidungsprozessen in Frage steht, ob hier das für den Dienst der Kirche Zukunftsfähige entschieden wird. Mit "Leitlinien reagiert die Kirche" darum "auf eine veränderte Situation in der Gesellschaft, um sich der Anforderungen an ihre Arbeit neu bewußt zu werden".(2)

2.1.2. Leitlinien hat es auch bisher schon gegeben, oft mehr unbewußt als inspirierende Ideen, seltener bewußt als ausformuliertes Programm. "Volkskirche" ebenso wie "Minderheitskirche" sind in diesem Sinne besonders herausragende, aber nicht die einzigen Beispiele prägender Leitlinien. (3) So verschieden sie in ihrer Intention auch sind, beide haben gemeinsam, daß sie für unterschiedliche Bedingungen jeweils zutreffende Beschreibungen des kirchlichen Milleus sind und damit auch Handlungsmotive verbinden. "Volkskirche" ist dabei vorrangig eine Herkunftsangabe, die die geschichtlich bedingte Prägung der Kirchengestalt festhält. Der gegenwärtigen Entwicklung wird der Begriff immer weniger gerecht; er transportiert jedoch zugleich bleibende Anforderungen an die kirchliche Arbeit.

"Minderheitskirche" ist zunächst nicht mehr als eine Zustandsbeschreibung. Sie will wirklichkeitsnah und ungeschminkt Auskunft über den derzeitigen Mitgliederbestand geben und unter Beachtung des gesellschaftlichen Umfeldes auf die damit verbundenen Folgen für die kirchliche Arbeit hinweisen. Gelegentlich wird damit die Erinnerung an die neutestamentlichen Anfänge der Kirche verbunden, um dadurch drohender Resignation zu wehren.

Beide Begriffe können erfahrungsgemäß zu jeweils unterschiedlichen kirchlichen Leitbildern verinnerlicht werden. Sie werden zum ekklesiologischen Programm erhoben, wenn sie nicht nur Zustandsbeschreibung und Motivationsansage, sondern auch Handlungsziele sein sollen. Beide Begriffe sind somit in der Gefahr, aus geistlichen Nöten theologische Tugenden zu machen. Als Zielbestimmungen kirchlicher Arbeit reichen sie jedoch nicht aus.

2.1.3. Leitlinien kirchlicher Arbeit sind zu unterscheiden von den biblischen Leitbildern, die der Gemeinde als dem Volk Gottes ihren Ort und ihre Aufgabe im Heilsplan Gottes bezeugen. Leitbilder machen je für sich Aussagen zu Grundfunktionen und Grunderfahrungen der Kirche. Leitlinien haben sich daher an biblischen Leitbildern wie denen des wandernden Gottesvolkes, vom Salz der Erde und Licht der Welt, der Stadt Gottes und dem Leib Christi zu orientieren. Wenn kirchliche Strukturen z.B. dem Bild des wandernden Gottesvolkes, das hier keine bleibende Statt hat (Hebräer 13,14; vgl. 1. Petrus 1,1) gerecht werden wollen, so werden sie offen, flexibel und auf Veränderung hin angelegt sein müssen. Sie haben ihr Recht einzig darin, daß sie der Kirche und den Gemeinden helfen, ihrem Auftrag gerecht zu werden und mit dem Evangelium dorthin zu gehen, wo die Menschen sind.

Praktisch wirksam können Leitlinien aber nur werden, wenn sie auf allen Ebenen des kirchlichen Dienstes im Bewußtsein sind, d.h. wenn sie diskutiert und gegebenenfalls modifiziert werden. Sie müssen deshalb zunächst als Beginn eines Dialogprozesses in der Kirche verstanden werden, der jedoch nachdrücklich auf Veränderungen in der Kirche zielt, die sich an dem missionarischen Auftrag orientieren. Dies haben die Leitlinien im Auge. In diesem Prozeß kommt der theologischen Vergewisserung eine grundlegende Bedeutung zu.

2.2. Theologische Vergewisserung

2.2.1. Der Dienst der Kirche geschieht unter der Voraussetzung des Glaubens, daß der lebendige Jesus Christus niemals aufhören wird, seine Gemeinde durch das Wirken des Heiligen Geistes zu sammeln. Die Kirche wird es darum - in welcher Gestalt auch immer - zu allen Zeiten geben. Sie hat den Auftrag, mit ihren Gaben und Möglichkeiten allen Menschen das Evangelium zu verkündigen, sie zur Gemeinde Jesu Christi zu sammeln, Sünden zu vergeben und von daher für das Leben aller Menschen in den Konflikten und Nöten der Gesellschaft verantwortlich einzutreten. Alles, was in der Kirche geschieht, muß auf ihren im Glauben gewissen Grund und damit auf ihren Auftrag zurückbezogen sein, damit sie in ihrem unverzichtbaren Dienst an den Menschen unter der Verheißung Gottes unverwechselbar bleibt. Die Leitlinien legen darum Gewicht darauf, daß alle Reformen der Strukturen und Dienste der Kirche von der theologischen, geistlichen Vergewisserung des Auftrages der Kirche ausgehen müssen.

Diese Vergewisserung stellt die Kirche in den weiten Horizont der Gegenwart Jesu Christi, der für alle Menschen gelebt hat und gestorben ist und sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit zum Horizont der ganzen Menschenwelt gemacht hat. Ohne die Gewißheit dieser alles menschliche Ausrechnen der Zukunft überbietenden Gegenwart Jesu Christi, die durch das Wirken des Heiligen Geistes erfahren wird, ist jede Kirchenreform in der Gefahr, in der begrenzten Perspektive kurzfristiger Notwendigkeiten stecken zu bleiben. Die Gestaltung der von Menschen verantworteten Ordnung der Kirche und ihrer Dienste in der Welt muß sich demgegenüber an dem lebendigen Grunde der Kirche orientieren. Vor allem drei Gesichtspunkte müssen dabei theologisch und geistlich klar sein:

2.2.2. Die Kirche ist zum Zeugnis von Jesus Christus in die Welt gesandt. Sie ist darum Zeugnisgemeinschaft in dem Sinne, daß alle Glieder der Gemeinde zum Zeugnis berufen sind. Gerade in einer Gesellschaft, der dieses Zeugnis fremd geworden ist, müssen alle Kräfte darauf konzentriert werden, daß dieses Zeugnis geschehen kann und Menschen dem Evangelium in ihrem persönlichen Leben zu begegnen vermögen. Strukturen der Kirche, die nur der Erhaltung einer überkommenen Kirchengestalt und dem kirchlichen Eigenleben dienen, sind deshalb so zu verändern, daß sie erkennbar auf den Zeugnisauftrag bezogen sind. Der praktischen Befähigung aller Christinnen und Christen muß dabei besondere Aufmerksamkeit gelten, so daß sie mit ihren Gaben und Fähigkeiten zum Zeugnisdienst in der Lage sind. Auch wer in der Kirche hauptamtlich arbeitet, kann nicht davon absehen, daß er oder sie mit seinem oder ihrem Beruf - welcher Art auch immer - an dem Zeugnisauftrag der ganzen Kirche beteiligt ist.

2.2.3. Die Kirche ist dazu da, um anderen Menschen mit dem Wort, aber auch mit der Tat zu dienen. Sie ist Dienstgemeinschaft. Das bedeutet, alle Menschen, die an dem Zeugnisauftrag teilhaben, stellen sich für das Heil und das Wohl anderer Menschen zur Verfügung. Sofern sie Sünderinnen und Sünder sind, geschieht das nicht aus einer Haltung der Selbstüberschätzung heraus, sondern im Wissen darum, daß Jesus Christus sie immer wieder aufs neue auf den Weg bringen muß. Gerade in einem Leben, das von dem herkommt, der Sünden vergibt, ist Raum für eine verstehende Offenheit für die Welt. In ihm wächst insbesondere das Engagement für die Würde und das Wohl von Menschen, die unter den Verhältnissen in der Gesellschaft an Seele und Leib leiden.

Menschen im Dienste Jesu Christi finden trotz ihres Versagens die Erfüllung ihres Lebens darin, daß sie selbstlos für andere da sind. Das hat zur Konsequenz, daß sie um des Dienstes willen bereit und fähig sind, so wenig wie möglich von den Lebens-Mitteln der Kirche für sich selbst zu gebrauchen und um des Dienstes willen gegebenenfalls darauf zu verzichten. Besitzstandswahrung ist eine dem geistlichen Wesen der Kirche unangemessene Haltung. Das muß in den Strukturen und am Lebensstil der Gemeinde, am Teilen und am Teilhaben zu erkennen sein. Es ist ein Lebensstil, der in der Nachfolge Jesu Christi auch zum Verzicht bereit ist. Dem hat auch die Gehaltsordnung der kirchlichen Dienste Rechnung zu tragen. Es darf nicht vergessen werden, daß die Art und Weise des Lebens und der Strukturierung der Kirche in einer missionarischen Situation auch wesentliche Bedeutung für die glaubhafte Verkündigung des Evangeliums hat.

2.2.4. Weil an dem einen Dienst der Kirche alle Glaubenden beteiligt sind, gibt es in der evangelischen Kirche keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Amtsträgern und Laien. Die ganze Kirche ist in der Vielfalt ihrer verkündigenden und diakonischen Dienste vielmehr eine Kommunikationsgemeinschaft, in der alle aufeinander angewiesen sind. Diese Kommunikation findet auf vielerlei Weise statt, vor allem indem sich die Gemeinde im Erzählen und Hören um das Evangelium von Jesus Christus versammelt, ihre unterschiedlichen Erfahrungen in das Licht des Evangeliums stellt und für die Menschen, zu denen sie gesandt ist, betet.

Die gemeinsame Anrufung Gottes ist ein stärkeres Band der Gemeinschaft als alles andere auf seine Weise dringend nötige menschliche Bemühen um Kommunikation. Denn wo die Gemeinde im Gottesdienst Gottes Gegenwart erfährt und ihm im Danken und Bitten die Ehre gibt, wird sie zu einer geistlichen Gemeinschaft. Als solche ist sie in einem fundamentalen Einverständnis mit Gott und darum miteinander allen Grenzen, die bei der weltlichen Gestaltung der Kirche auftreten, weit voraus. Ist die Kirche in diesem Sinne geistliche Gemeinschaft, die in der Anrufung Gottes existiert, wird die Aufgabe ihrer Neugestaltung zur Sache aller, die sich ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich entsprechend daran beteiligen, weil sie sich der Gemeinschaft (Koinonia) derer freuen, die mit dem menschenfreundlichen Gott auf dem Wege sind. Sie wissen dann, daß es ohne den Geist und die Phantasie der vielen Schwestern und Brüder, die den Erneuerungsprozeß der Kirche tragen, gar keine Erneuerung der Kirche gibt.

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