A. Zur aktuellen Situation

A.IV. Vermarktlichung des Gesundheitssystems

A.IV.1. Zunehmende Ausrichtung des Gesundheitssystems auf eine ökonomische Programmatik

  1. Spätestens seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich mit der Öffnung der GKV für private Anbieter und der Pflegeversicherung für den Wettbewerb zwischen Trägern der Freien Wohlfahrtspflege und gewinnorientierten privaten Anbietern eine spürbar zunehmende Ökonomisierung und Vermarktlichung des Gesundheitssystems beobachten. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist zum einen der Wunsch, mithilfe der Konkurrenz der Anbieter untereinander und einer Abkehr vom Vollkostendeckungsprinzip Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen und Anreize zur Entwicklung innovativer Leistungskonzepte - etwa im Bereich des Gesundheitsmanagements - zu setzen. Auf diese Weise könnten Kosteneinsparungen, die unter anderem zur Begrenzung des Anstiegs der Lohnnebenkosten als notwendig angesehen werden, ohne Qualitätseinbußen gelingen. Allerdings haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Abkehr vom Kostendeckungsprinzip auch zum Druck auf die Entgelte der Beschäftigten und die zeitlichen Ressourcen für deren Arbeit geführt hat und damit letztlich zu neuen Qualitätseinbußen führen kann. Ausgangspunkt für die Veränderungen ist aber auch der Wunsch der Empfänger von Gesundheitsleistungen, starre Strukturen zu lockern, um mehr Wahlfreiheit und Mitbestimmung im Behandlungsprozess zu ermöglichen.
  2. Die verschiedenen mit der Vermarktlichung des Gesundheitssystems verbundenen Ziele und Erwartungen harmonieren also nicht in jedem Fall miteinander. Es kann zu Überforderungen und ungewünschten Akzentverschiebungen kommen. Aus Sicht der Leistungserbringer eröffnet Wettbewerbsorientierung neue Freiräume und Gewinnchancen, setzt sie aber zugleich dem Anpassungsdruck des Marktes aus. Aus Sicht der Nachfrager werden neue Autonomiespielräume eröffnet, sie bringen aber die Gefahr mit sich, dass Kosteneinsparungen zu Lasten der Qualität gehen und einer Technisierung der Medizin Vorschub leisten.
  3. Beispielhaft erkennbar werden diese Spannungsverhältnisse und Akzentverschiebungen in den Sondergutachten des ehemaligen Sachverständigenrats für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 1996 und 1997, die den Titel "Gesundheitswesen in Deutschland. Kostenfaktor und Zukunftsbranche" trugen. Kostenfaktor für die GKV und zunehmend auch die Versicherten - Zukunftsbranche der heute sogenannten Gesundheitswirtschaft. Hinter der gewählten Begrifflichkeit verschwindet die Sicht der medizinischen Versorgung als kostbare und über mehr als hundert Jahre mühsam erarbeitete soziokulturelle Errungenschaft zur kollektiven Bewältigung fundamentaler menschlicher Lebensrisiken. Dass es aufwendig und kostenträchtig sein würde, die "Ziele der Medizin" zu verfolgen, ist seit Bismarcks Zeiten nie in Frage gestellt worden. Neu ist der Gesichtspunkt, dass medizinische Versorgung auch der ökonomischen Wertschöpfung und Umsatzrendite vor allem privater Unternehmen zu dienen habe und dass es insofern eine Funktion auch der GKV sei, die Gesundheitswirtschaft auf dem "ersten Gesundheitsmarkt" zu unterhalten und jährlich überdurchschnittlich wachsen zu lassen.
  4. Im Zuge dieser Entwicklung werden bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu "lukrativen Geschäftsfeldern", Kliniken zu "Wettbewerbern", Arztpraxen zu vorgelagerten "Klinikportalen", Patienten zu "eigenverantwortlichen Kunden" mit einer auszuschöpfenden "Zahlungsbereitschaft". Immer wieder ist zu hören und zu lesen, die medizinische Versorgung sei "unterfinanziert", die zur Verfügung stehenden Finanzmittel grundsätzlich "knapp", neben den einer zusätzlichen "Einkommenssteuer" entsprechenden GKV-Beiträgen müssten neue "Finanzierungsquellen" "erschlossen" werden, sollte es nicht zu einer massenhaften "Rationierung" kommen. Die hier allein schon sprachlich fassbare Vermarktlichung dominiert die aktuelle Entwicklung der medizinischen Versorgung, und sie durchdringt den öffentlichen Diskurs über die Bewältigung von Krankheit mit medizinischen Mitteln. Sie verdrängt andere, ältere Diskurse wie etwa den zur anthropologischen Situation von akut und chronisch Kranken, zur professionellen Selbstdefinition von Ärzten, Therapeuten und Pflegenden, zur Humanität im Krankenhaus und Ethik medizinischer Organisation, zur objektivierenden Prioritätensetzung oder zur Verteilungsgerechtigkeit in der medizinischen Versorgung.

A.IV.2. Zweiter Gesundheitsmarkt

  1. "Gesundheit" ist in den letzten beiden Jahrzehnten zum Leitbegriff eines sich neu formierenden Wirtschaftssektors geworden, der von vielen vor allem als ein Feld für Innovationen und Investitionen, für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze angesehen wird. Der "Gesundheitsmarkt" reicht weit über die klassischen Felder der Krankenversorgung und Rehabilitation hinaus, zu ihm rechnen sich nicht nur Arznei- und Hilfsmittelhersteller, sondern auch Unternehmen, die Nahrungsmittel herstellen oder Reisen anbieten. Die erbrachten Leistungen auf dem Gesundheitsmarkt werden entsprechend nicht mehr nur von Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung getragen, sondern von einer zunehmenden privaten Nachfrage, von der Haushalte mit niedrigem Einkommen allerdings praktisch ausgeschlossen sind.
  2. Auf diesem neuen, "zweiten Gesundheitsmarkt" werden sogenannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) gehandelt. Es geht um Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die aus verschiedenen Gründen nicht von der GKV finanziert werden. Sie werden den sie beanspruchenden Patienten direkt in Rechnung gestellt und ermöglichen den sie anbietenden Ärzten ein zusätzliches Einkommen. Das jährliche Umsatzvolumen wird aktuell auf rund 1,5 Milliarden Euro geschätzt. Wenige IGeL sind aus medizinischer Sicht sinnvoll, ja notwendig (z.B. im Bereich der Reisemedizin); für viele liegt (noch) keine überzeugende Nutzen-Evidenz vor; manche sind geprüft und für unwirksam bzw. im Mittel nutzlos gefunden worden. Ein guter Teil bezieht sich auf Methoden der Alternativ- und Komplementärmedizin. Überproportional viele sollen der individuellen Primär- und Sekundärprävention dienen und damit die Eigenverantwortung stärken, sie verstärken aber angesichts ihres zweifelhaften Nutzens eher allfällige Unsicherheiten und Ängste.
  3. Der Deutsche Ärztetag hat sich im Jahr 2006 allerdings in einer Entschließung hinter die Einführung solcher IGeL-Leistungen gestellt: "In einem zunehmend von der Ökonomie geprägten Gesundheitssystem (sic!) muss es Ärztinnen und Ärzten erlaubt sein, auf eine solche Nachfrage (nach IGeL) zu reagieren und insoweit auch ökonomisch zu handeln, um ihre freiberufliche Tätigkeit und Existenz zu sichern." Nach einer Untersuchung haben rund 50 Prozent aller einen niedergelassenen Arzt in Anspruch nehmenden GKV-Versicherten schon einmal IGeL angeboten bekommen oder selbst nachgefragt und dann zum größeren Teil auch in Anspruch genommen. Diese Häufigkeit erreichte im Jahr 2010 die 40-Prozent-Marke. Bei fast allen Arztgruppen schien es häufiger zu Angeboten als zur Patientennachfrage gekommen zu sein; dies gilt besonders für Augenärzte, Gynäkologen und Orthopäden.
  4. Die Vermarktung von IGeL hat viele Facetten. Ein wesentliches Risiko ist in der Aushöhlung der traditionellen Arzt-Patient-Beziehung zu sehen: Denn der/die Kranke kann nicht sicher sein, warum ihr/ihm eine bestimmte Leistung außerhalb des GKV-Katalogs angeboten wird. Agiert der Arzt im besten Interesse des Patienten oder doch eher in seinem eigenen, ökonomischen Interesse? Angesichts der oft nebulösen Literatur- und Evidenzlage fehlt der Forderung nach einer "gemeinsamen Entscheidungsfindung" ("shared decision-making") und der Patientenautonomie ein wesentliches Substrat. Die verfasste deutsche Ärzteschaft hat zur Regulierung des Marktes 2006 zehn "Gebote" zum Anbieten und Erbringen von IGeL veröffentlicht und sie 2008 in einer Patientenbroschüre einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass - nicht nur in diesem Feld - die Identifikation und Kontrolle von "Interessenskonflikten" immer häufiger im Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen und medialer Recherchen steht. Eine weitere Facette der Entwicklung des zweiten Gesundheitsmarktes besteht in der Abgrenzung und Propagierung bisher unbekannter Gesundheitsstörungen wie zum Beispiel der Aufmerksamkeitsstörung bei Schulkindern, gegen die in den letzten Jahren zunehmend Medikamente verordnet wurden.

A.IV.3. Wettbewerb im Versicherungssystem

  1. Der Gesetzgeber hat vor zwei Jahrzehnten für nahezu alle Versicherten der GKV die Kassenwahlfreiheit eingeführt. Aus dieser - auch aus gleichheitsrechtlichen Überlegungen getroffenen - Entscheidung resultierte zwangsläufig, dass die Krankenkassen untereinander in einen verschärften Wettbewerb gestellt wurden. Die Konkurrenz der Kassen untereinander hat dazu geführt, dass sie ihre Versicherten als Kunden und nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger begreifen, die einen sozialen Rechtsanspruch in einer selbstverwalteten Körperschaft realisieren. Auch bemühen sich die Krankenkassen seither - etwa durch Gestaltung von Satzungsleistungen, Wahltarifen und Verträgen integrierter Versorgung -, ein den Versichertenpräferenzen entsprechendes Versorgungsangebot zu entwickeln. Dass dieses zwangsläufig vor allem den Ansprüchen junger, gesunder und relativ gut verdienender Versicherter entgegenkommt, zeigt die Zweideutigkeiten wettbewerblicher Lösungen im Gesundheitssystem auf. Der Wettbewerb verstärkt den Zwang, mit Blick auf den Beitragssatz (heute: Zusatzbeitrag) günstiger als die Konkurrenz zu sein. Dies führt auf der einen Seite zum Beispiel dazu, dass die Krankenkassen hart mit der pharmazeutischen Industrie um Rabattverträge verhandeln. Sie werden auf der anderen Seite aber auch restriktiver in der Leistungsgewährung - insbesondere gegenüber solchen Versicherten, die "schlechte Risiken" darstellen.
  2. Eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren in den letzten Jahren jene Probleme, die sich aus dem Nebeneinander von gesetzlicher und privater Versicherung ergeben. So wird mit Recht gefordert, dass alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Wahlrechte in Bezug auf den Versicherungsschutz haben sollten; eine Beschränkung dieses Wahlrechts auf Besserverdienende, Selbstständige und Beamte erfüllt diese Voraussetzung nicht. Von der Segmentierung des Versicherungsmarktes und von den unterschiedlichen Bedingungen, unter denen GKV und PKV wirtschaften, gehen zudem problematische distributive Wirkungen aus. Für die PKV sind als potenzielle Kunden vor allem die freiwillig Versicherten der GKV interessant, d.h. jene Versicherten, die sich zwischen beiden Systemen entscheiden können. Aus Sicht der potenziellen Kunden kommt ein Wechsel in die PKV dabei vor allem für junge, gesunde Alleinstehende und kinderlose Doppelverdiener in Frage. Entscheiden sie sich zu einem Wechsel, kommen der GKV gerade jene Versicherten abhanden, die überproportional zur Einkommens- und Risikosolidarität beitragen.
  3. Das Nebeneinander der beiden Versicherungssysteme kann darüber hinaus aber auch negative allokative Effekte haben und sich somit negativ auf die Markteffizienz auswirken. Private Krankenversicherungsunternehmen stehen im Wettbewerb um junge Neukunden und haben deshalb ökonomische Anreize, ihre Prämiengestaltung vor allem auf diese Gruppe zu konzentrieren. Dies führt zu niedrigen Einstiegstarifen, die mit dem Lebensalter rasch ansteigen. Während diese steigende Belastung in der jüngeren Vergangenheit aufgrund stetig steigender Löhne und Gehälter für viele privat Versicherte tragbar war, gilt dies angesichts der Wachstumserwartungen und der voraussichtlichen Lohnentwicklung für die nähere Zukunft nicht in gleicher Weise. Es ergibt sich zudem das Problem, dass Unternehmen der PKV aufgrund des mangelnden Wettbewerbs um Bestandskunden kaum Anreize haben, auf deren sich im Lebenslauf wandelnde Bedürfnisse einzugehen und z.B. die Versorgung bei chronischen Erkrankungen oder im höheren Lebensalter wirksam und kosteneffizient zu gestalten. Stattdessen kann es für sie vorteilhaft sein, eigenständige Tarife für Neukunden anzubieten und im Alter überproportional steigende Prämien für Bestandskunden in Kauf zu nehmen ("Vergreisung von Tarifen"). Der an der Schnittstelle zur PKV geführte Wettbewerb um freiwillig Versicherte kann zusätzlich auch im Bereich der GKV Marktineffizienzen verursachen. So stellen die neuen Selbstbehalts- und Beitragsrückerstattungstarife der GKV-Träger vor allem darauf ab, die Beitragsbelastung junger, gesunder und gut verdienender Versicherter zu senken, um für diese Gruppe einen Wechsel zur PKV weniger attraktiv zu machen. Dem GKV-System werden damit aber Mittel zur Gewährleistung der Einkommens- und Risikosolidarität und für auf Versicherte mit schlechten Risiken zielende Programme einer besseren Versorgung entzogen. Allokative Verzerrungen können schließlich durch die unterschiedlichen Vergütungsstrukturen in GKV und PKV auch im Bereich der Leistungserbringung entstehen. Die höheren Vergütungssätze im System der PKV sowie die dort fehlenden Leistungsmengenbegrenzungen setzen vor allem im ambulanten Bereich finanzielle Anreize, Privatversicherte bei der Allokation medizinischer Leistungen zu bevorzugen. Folge kann eine Fehl- und Überversorgung Privatversicherter und eine entsprechende Unterversorgung gesetzlich Versicherter sein. Tatsächlich ist der Ausgabenanstieg der PKV im Vergleich zur GKV bei den ambulanten Arztkosten besonders ausgeprägt.

"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

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