Predigt im ökumenischen Gottesdienst anlässlich der bundesweiten Eröffnung der Woche für das Leben im Mariendom in Erfurt (Mt 5, 1-12a)

Bischof Norbert Trelle, Stellvertretender Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz

Meine lieben Schwestern und Brüder,

die Bibelstelle, die Landesbischof Bohl eben aus dem Matthäus-Evangelium vorgetragen hat, gehört zu den bekanntesten Abschnitten des Neuen Testamentes. Sie steht am Anfang der sogenannten Bergpredigt, des großen ethischen Lehrstücks im Matthäus-Evangelium, das drei Kapitel umfasst und aus dem immer wieder gern zitiert wird. Die Bergpredigt ist gewissermaßen das Handlungsprogramm für Christinnen und Christen, das direkt aus dem Mund Jesu kommt. Die Bergpredigt steht am Anfang seines öffentlichen Wirkens.

Erstmals führt das Evangelium an dieser Stelle eine so große Rede Jesu an, denn davor wird eher summarisch von dem Beginn seines Wirkens in Galiläa berichtet. Die Bergpredigt beginnt mit den Worten, die wir eben hörten – den acht Seligpreisungen. Natürlich hat der Evangelist die große Rede Jesu in voller Absicht so konstruiert. Vor wichtigen Dokumenten steht oft eine Präambel, die in sehr fundamentaler Weise beschreibt, wie der ihr folgende Inhalt verstanden werden will – sie gibt eine Lesehilfe zum Verständnis.

Ganz ähnlich richten die Seligpreisungen unser christliches Denken und unser christliches Herz auf das aus, was Jesus im Folgenden von uns verlangt. Im Hinblick auf unser Thema „Herr, Dir in die Hände“ enthalten die Seligpreisungen einige erwähnenswerte Aspekte:
Zunächst ist es sehr bemerkenswert, wen Jesus hier seligpreist. Selbst wenn man den Bedingungen der damaligen Gesellschaft Rechnung trägt, sind es nicht diejenigen Menschen, die wir heute gerne „Leistungsträger“ nennen. Es sind nicht die wirtschaftlich Erfolgreichen, oder die, die auf der sozialen Leiter oben stehen. Es sind nicht die, die bewundert werden und denen man nacheifern möchte. Jesus lenkt das Augenmerk auf ganz andere Gruppen von Menschen: auf die Trauernden, auf die Friedfertigen, die gerne als schwach angesehen werden,auf diejenigen, die Gerechtigkeit ersehnen, und auf die Menschen, die sich barmherzig den Bedürftigen zuwenden.

Solche Menschen preist Jesus selig. „Selig“ ist die Übersetzung des griechischen Wortes „makarios“, das wörtlich „glücklich“ heißt. In der deutschen Sprache gibt es kein Wort, das genau das trifft, was Jesus damit meint. Es umfasst nämlich eine diesseitige Komponente und etwas darüber Hinausgehendes. Am ehesten weist die erste Seligpreisung darauf hin, was gemeint ist: „Ihnen gehört das Himmelreich.“ Es geht also keineswegs nur um unser irdisches Wohlergehen. Es geht auch um eine Verheißung. Sie weist über unser irdisches Leben hinaus.

Denn es ist von Relevanz für unser Heil, was Jesus möchte. Wenn er in den Seligpreisungen und im weiteren Verlauf der Bergpredigt ziemlich genau und radikal beschreibt, wie er sich das Leben in seiner Nachfolge vorstellt, dann betrifft dies unser gesamtes christliches Leben bis hin zum Tod und zur Auferstehung. Es wurde uns kürzlich in der Liturgie der Kar- und Ostertage erneut so eindringlich vor Augen geführt. Aber es hat eben auch etwas mit unseren Einstellungen und unserem Handeln als Christinnen und Christen zu tun. Auf Gottes Anruf hat eine Antwort durch unser Handeln zu erfolgen. Die Beispiele der Evangelien sprechen hier ebenfalls eine deutliche Sprache. Immer hat christliches Handeln mit der Zuwendung zu den Schwächsten der Gesellschaft, den Armen, Kranken, Aussätzigen und Verstoßenen zu tun.

Unbestritten hat das Christentum seit seinem Bestehen den vielfach bezeugten biblischen Auftrag der caritas, der Zuwendung zum bedürftigen Nächsten ernstgenommen. Stellt man die Frage nach ausgeprägt christlichen Werten, so steht sicherlich die Nächstenliebe ganz oben. Nächstenliebe, die systematische und institutionalisierte Zuwendung zum bedürftigen Nächsten, ist aus dem Christentum nicht wegzudenken. Die christliche Zuwendung zu den kranken Menschen hatte neben dem Aspekt der Linderung der körperlichen Leiden auch den Zweck, den kranken Menschen in der Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen zu halten. Für den Helfenden war dieses Tun unmittelbar relevant, also von großem Ausmaß auf die Gott-Mensch-Beziehung. Nur so konnte im Mittelalter Franziskus (+1226) einen Aussätzigen küssen, Elisabeth von Thüringen (+1231) an einem Gründonnerstag einen Leprakranken pflegen, ihm Hände und Füße waschen und seine eitrigen Wunden küssen, und nur aus Nächstenliebe konnte sich der Jesuitenpater Friedrich von Spee (+1635) in seiner Pflege von pestkranken Menschen aufopfern. Für die jüngere Zeit ist das vielfach als Vorbild zitierte Beispiel Mutter Teresas (+1997) zu nennen.

Dass in jeder Gesellschaft die besonders Schutzbedürftigen neu zu beschreiben sind, ist selbstverständlich. So gehört heute auch das ungeborene Leben als besonders schutzbedürftig dazu. Es kann nicht für sich selbst sorgen. Ebenso sind die Menschen mit schweren Krankheiten zu berücksichtigen, die trotz aller moderner Medizin und Pflege Zuwendung auch von Angehörigen und Freunden benötigen. In neuer Weise stellt auch das Sterben eine Herausforderung dar, denn der Ort des Sterbens hat sich von zu Hause in die stationären Einrichtungen der Krankenhäuser und Hospize verlagert. Es wäre ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, wenn der Wunsch, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen – der ja augenblicklich intensiv diskutiert wird   nur deshalb entsteht, weil jemand sich alleingelassen fühlt. Unser Auftrag als Christen ist, die Menschen im Sterben zu begleiten, ihnen Mut und Hoffnung und vor allem Halt zu geben. Wir dürfen uns nicht durch eine Hilfe zur Selbsttötung von ihnen abwenden, sondern müssen uns ihnen zuwenden.

Hier ist jede einzelne Christin und jeder einzelne Christ im Sinne der Verheißung der Seligpreisungen gefordert: Seid barmherzig, denn dann gehört Euch das Himmelreich.

Ich möchte auf einen letzten Aspekt der Seligpreisungen hinweisen: Die Seligpreisung „Selig, die arm sind vor Gott“ wurde früher einmal mit „Selig, die Armen im Geiste“ übersetzt. Es geht dabei sicher nicht um geistig behinderte Menschen. Es geht um eine Geisteshaltung, die uns alle ansprechen sollte. Gemeint sind Menschen, die wissen und danach leben, dass nicht der Mensch allein alles vermag. Es geht um die geistige Haltung der Demut. Das deutsche Wort kommt von Dien-mut. Es bedeutet Mut zu dienen und zwar Gott und den Menschen. So verstehen wir uns als Christinnen und Christen.