Predigt über Jesaja 55, 1-5 im Missionsfestgottesdienst „Mission moves – Gemeinsam für das Leben unterwegs“ in St. Gallen

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde!

Dietrich Bonhoeffer schrieb am 30. April 1944 aus dem Gefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge:
„Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie sind, nicht mehr religiös sein….“

Heute – fast 70 Jahre später – bestätigen Untersuchungen diese hellsichtigen Gedanken Dietrich Bonhoeffers.
Es gibt in unserem säkularisierten Europa mancherorts eine Unkenntnis Gottes in zweiter und dritter Generation. Dort lässt sich wahrnehmen, dass nicht erst unsere christlichen Antworten, sondern schon die ausdrückliche Frage nach Gott für viele Menschen schlicht unverständlich ist. Gott, Gnade, Glaube, Kirche sind wie Worte einer Fremdsprache, zu der Menschen ohne „Übersetzung“ keinen Zugang finden.

Daneben erleben wir vielfältige Mischungen religiöser Versatzstücke. Mit ihnen basteln sich Menschen ihre ganz eigenen und individuellen Zufluchten. Und sie „switchen“ dabei zwischen Christentum, Buddhismus, Esoterik, Spiritismus und Magie wie man von einem Fernsehkanal zum anderen umschaltet. 

Und dann gibt es nicht wenige Zeitgenossen, für die naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu einer Art von Ersatzreligion geworden sind. Sie erklären den Glauben an Gott zu einer chemischen Funktion der Botenstoffe im Gehirn. Und sie kritisieren Glaubensgewissheiten als Sinnes- und Selbsttäuschung, die dazu noch als fatale Folgen Realitätsverlust, Engstirnigkeit und unkritische Traditionshörigkeit nach sich ziehen würden. Um des Friedens und Zusammenhaltes willen fordern sie deshalb einen „notwendigen Abschied“ von Gott und eine religionsfreie laizistische Gesellschaftsordnung in ganz Europa.

Sollten wir also die hellsichtigen Gedanken Dietrich Bonhoeffers und die Ergebnisse der aktuellen Untersuchungen zum Anlass nehmen, uns von der christlichen Mission in einem säkularisierten Europa zu verabschieden? Das sei ferne!

Ich bin davon überzeugt: Die Kirche Jesu Christi ist eine missionarische Kirche oder sie ist nicht seine Kirche! Gerade angesichts der Religionslosigkeit, der Gott-Vergessenheit und des christlichen Traditionsabbruchs in unserem säkularisierten Europa brauchen wir eine neue missionarische Kreativität. Wir brauchen eine missionarische Kreativität, um die Sehnsüchte der Menschen nach Sinn, Trost und Lebensgewissheit als Sehnsucht nach Gott zu wecken, wach zu halten und neu zur Sprache zu bringen. Und wir brauchen eine missionarische Kreativität für das Zur-Sprache-Bringen der frohen Botschaft: Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, will ein erfülltes und glückliches Leben für alle seine Menschenkinder!

Diese kreative Missions-Aufgabe aber, liebe Gemeinde, stellt sich nicht erst für unsere Zeit und für unsere Orte. Diese Aufgabe stellte sich auch schon für den Propheten Jesaja vor zweieinhalb Jahrtausenden in Babylon: Er wollte den Gotteshunger der Israeliten im Exil neu wecken. Er wollte sie darin neu gewiss machen: Der Gott ihrer Väter und Mütter ist auch ihr Gott! Er wollte Gottes Verheißungen neu zur Sprache bringen für die Verzweifelten und die Abgefundenen, für die Fragenden, Zweifelnden und Suchenden, für die Widerständigen         und die Hoffenden. Er wollte neu zur Sprache bringen, dass allein der Gott Israels den Hunger und den Durst nach einem erfüllten Leben nachhaltig zu stillen vermag. 

Hören wir auf die Worte, wie sie uns im 55. Kapitel des Jesaja-Buches überliefert sind.   

Ich lese die Verse 1-5:
„Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!
Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst!
Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot (lo-lächäm, also „Nichtbrot“) ist,
und sauren Verdienst, für das, was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.

Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir!
Höret, so werdet ihr leben!
Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen,
euch die beständigen Gnaden Davids geben.

Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter.

Siehe, du wirst Heiden rufen, die du nicht kennst,
und Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen
um des HERRN willen, deines Gottes,
und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.“


Der Prophet Jesaja hat für seine frohe Botschaft wahrlich eine neue und aufrüttelnde Kreativität entwickelt: Er lässt Gott in der Rolle eines Marktschreiers auftreten!

Gott ruft die Durstigen zum Wasser. Gott lädt die Armen ein, ohne Geld zu kaufen. Nicht nur das lebensnotwendige Wasser, sondern dazu auch Wein und Milch als Zeichen überfließender Lebensfülle. Gott ruft den Begüterten zu, ihre Kaufentscheidungen zu überprüfen. Denn immer wieder lassen sich Menschen „Nicht-Brot“ als Brot andrehen und verschleudern ihr sauer verdientes Geld für wertlose Dinge, die weder den Leib noch die Seele sättigen. Und es war und es ist für uns Menschen doch so wichtig und so lebensentscheidend, „Nicht-Brot“ als „Nicht-Brot“ zu erkennen – und zwar bevor wir verhungert sind!

Wie ein Marktschreier ruft Gott die Mittellosen und die Begüterten dazu auf, seinem Wort Gehör zu schenken: „Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

Gottes Wort nämlich ist es, das die Menschen lehrte und bis heute lehrt, Brot von „Nicht-Brot“, Wertvolles von Wertlosem und Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Gottes Wort vermag den Lebens-Hunger und den Lebens-Durst nachhaltig zu stillen. Gottes Wort ist das Brot und das Wasser des Lebens. Gott will es uns schenken.   
                                                                                                                         
Wenn wir bereit sind, Gott unsere Ohren zuzuneigen und sein Wort zu hören, dann werden die Grundbedürfnisse unseres Leibes und unserer Seele gestillt. Und wir werden sogar nachhaltige Freude und Überfluss erleben! Der gnadenreiche und herrliche Gott will und wird seine Menschen herrlich machen, wenn sie sein Wort hören und seinem Wort vertrauen.

Der Prophet Jesaja, liebe Gemeinde, hat damals in Babylon den Gotteshunger der Israeliten neu wecken können. Er hat  ihnen Gottesworte angeboten, die ihren Hunger und Durst nach einem erfüllten Leben nachhaltig zu stillen vermochten. Die in die Fremde verbannten Israeliten wurden wieder ganz neu hineingenommen in Gottes Gnadenbund. Der Gott Abrahams und Saras, der Gott Isaaks und Rebeccas, der Gott Jakobs, Leas und Rahels, der Gott Davids, Michals und Bathsebas wurde wieder neu zu ihrem Gott.

Und sie haben Gottes Gnade und Treue als Einzelne und als Volk wieder neu erfahren können: Im Jahr 539 v. Chr. eroberte Kyros Babel und den Israeliten wurde erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie konnten ihr Land, ihre heilige Stadt Jerusalem und auch den Tempel wieder neu aufbauen. Sie konnten mit ihrem Gottesglauben und ihrem Gottvertrauen neu zu Zeugen werden für die Völker.

„Siehe, du wirst Heiden rufen, die du nicht kennst, und Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen“.                                                               

Fünf Jahrhunderte später hat Gott diese alte Verheißung des Propheten in einer neuer Weise aufgenommen und lebendig werden lassen: Jesus Christus hat alle Menschen, auch uns, die wir nicht zum Gottesvolk Israel gehören, mit hineingenommen in den ewigen Gnadenbund Gottes.

Dieser Jesus sagt von sich: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (Johannes 6,35)

Und in dem Wochenspruch für die heute beginnende Woche lädt Jesus die Menschen ein: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11, 28)

Diesen Jesus bekennen wir als das lebendige Wort Gottes für  alle Welt und alles Volk. Seine Einladung weiterzugeben in Worten und Taten, das ist seit 2000 Jahren der Auftrag der Kirche. Und deshalb möchte ich es noch einmal wiederholen:
Die Kirche Jesu Christi ist eine missionarische Kirche oder sie ist nicht seine Kirche!
Mission bewegt Menschen, vom Brot des Lebens zu nehmen. Mission bewegt sich aber auch selbst.                                                     

Christliche Mission hat gelernt, dass Mission, Diakonie und partnerschaftliche Entwicklungsarbeit untrennbar zusammengehören. Und sie hat gelernt, dass auch Mission und Ökumene sowie Mission und interreligiöser Dialog gerade in unserem säkularisierten Europa zusammengehören. Wohl ist für Christinnen und Christen das Antlitz Gottes und Gottes Gnadenbund „allein in Jesus Christus“ (solus Christus) offenbar und erfahrbar geworden. Aber die Bibel lehrt uns immer wieder neu, dass wir Menschen Gottes Wort und Gottes Gnade nicht allein an unsere konfessionellen religiösen Einsichten binden können. Gottes Geist weht wo und wie er will. Er lässt sich nicht auf unsere christlichen Kirchen begrenzen. 

Das sehe ich als eine der größten Herausforderungen für unsere christliche Mission in einem säkularisierten und religiös-pluralen Europa:
- Offen und einladend auf Menschen zuzugehen, denen Gott, Glaube und Kirche fremd geworden sind.
- Menschen in Wort und Tat nahe zu bringen „was das Christentum und wer Christus heute für uns ist“.
- Unseren christlichen Glauben überzeugt und überzeugend zur Sprache zu bringen, dies aber im Respekt vor anderen religiösen Beheimatungen. 
Ziel christlicher Mission ist es doch, die Liebesbewegung Gottes in die Welt zu bezeugen und fortzusetzen. Darum weiß sich eine missionarische Kirche nicht allein für das Seelenheil von Menschen verantwortlich, sondern auch für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Sie engagiert sich deshalb für Solidarität, Toleranz und Zusammenhalt in der Gesellschaft.                         

Von dieser Liebesbewegung Gottes will und muss eine bewegte und bewegende Mission gerade auch in unserem säkularisierten Europa Zeugnis geben: Gott will ein erfülltes und glückliches Leben für alle seine Menschenkinder. Nicht nur Wasser und Brot, auch Milch und Wein, Gutes und Köstliches sollen nach dem Wort und Willen Gottes uns Menschen sättigen und erfreuen. Christus will für alle Menschen auch heute „Brot des Lebens“ und „Kelch des Heils“ sein.

Als missionarische Kirche stehen wir in der Tradition der Propheten und Apostel. Ja, wie Gott selbst stellen wir uns wie Marktschreier an den Stand mit Lebensbrot und Lebenswasser auf dem Marktplatz Europa. Als missionarische Kirche bleiben wir gemeinsam unterwegs für  ein gutes und erfülltes Leben in Europa und weltweit.

Amen.