Christliches Werteverständnis in Gesellschaftsdebatte einbringen

23. Dialogbegegnung zwischen EKD und Russischer Orthodoxer Kirche

Ein christliches Werteverständnis müsse in der heutigen europäischen Gesellschaft teils verteidigt, teils ganz neu in die Diskussion eingebracht werden. Dabei seien die christlichen Werte im öffentlichen Bereich, wie etwa den Schulen, den Medien und der Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen von besonderer Bedeutung, stellten die Teilnehmenden der 23. Begegnung im bilateralen theologischen Dialog zwischen Vertretern und Vertreterinnen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Russischen Orthodoxen Kirche im Abschlusskommuniqué fest. Die Begegnung fand vom 17. bis 22. April 2005 auf Einladung des Patriarchen Alexej II. von Moskau und ganz Russland statt.

Der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs war Grund dafür, dass im Rahmen dieser Dialogbegegnung auch der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, für zwei Tage nach Moskau kam und in einer Begegnung mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen gemeinsam mit beiden Dialogdelegationen der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedachte. In seiner Ansprache hob er die Verpflichtung als Christen hervor, sich für Versöhnung und Frieden einzusetzen.

Als weiteres Thema standen in diesem Dialog als Blick nach vorne auch die verschiedenen Herausforderungen unserer Zeit im Mittelpunkt. Das Thema lautete „Die Bedeutung der christlichen Werte in den Herausforderungen der heutigen Zeit“. Die Vertreterinnen und Vertreter der beiden Kirchen stimmten darin überein, dass die christlichen Werte im Glauben und in der biblischen und kirchlichen Tradition begründet sein und in die Gesellschaft eingebracht werden müssen. Unterschiede zeigten sich in der Frage, welche Antworten für heute aus der Bibel gezogen werden können. Es genüge nicht, einen Konsens in der Theorie einer christlichen Ethik und Moral zu finden, vielmehr müsse der Bereich des Glaubenslebens in die ökumenische Verständigung mit einbezogen werden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Dialogs waren sich darin einig, dass die Gespräche fortgesetzt werden müssen, um in der Zukunft fähig zu sein, die Stimme des Christentums gemeinsam in der Gesellschaft hörbar zu machen.

Hannover, 25. April 2005

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi

Das Kommuniqué im Wortlaut:

Kommuniqué des bilateralen Theologischen Gesprächs zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland

vom 17.04.-22.04.2005 in Moskau /Sergeiev Posad

I.

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hatte vom 17.04. – 22.04.2005 zu bilateralen Theologischen Gesprächen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in das Danilov-Kloster in Moskau eingeladen. Diese Begegnung ist das 4. Gespräch in der Reihe der Gespräche, durch die 1992 in Bad  Urach zwei Zweige von Dialogen zusammengeführt wurden,  nämlich die Arnoldshainer-Gespräche ( begonnen 1959 zwischen der EKD und der ROK ) und die Sagorsk - Gespräche (begonnen 1974 zwischen dem BEK und der ROK ).

Dies war also insgesamt die 23. Begegnung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche.

Die Gespräche fanden im Kirchlichen Außenamt des Moskauer Patriarchats in Moskau auf dem Gelände des Klosters des Hl. Daniil und an der Moskauer Geistlichen Akademie im Dreifaltigkeitskloster in Sergejev Posad statt.

Schwerpunkte der Gespräche waren die 60 Jahre seit der Beendigung des 2. Weltkrieges und die Bedeutung der christlichen Werte in den Herausforderungen der heutigen Zeit.

An dem Gespräch nahmen teil:

Von Seiten der ROK:

Metropolit German von Wolgograd und Kamyshin (Delegationsleiter)
Erzpriester Vsevolod Tschaplin, Stellvertretender Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats
Erzpriester Georgij Mitrofanow, Dozent der St. Petersburger Geistlichen Akademie und des Seminars
Priester Igor Vyshanow, amtierender Sekretär des Kirchlichen Außenamtes für zwischenchristliche Beziehungen
Priester Vladimir Schmalij, Prorektor der Moskauer Geistlichen Akademie, Sekretär der Synodalen Theologischen Kommission, Berater des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats
Diakon Alexander Wasjutin, Mitarbeiter des Sekretariats des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats für zwischenchristliche Beziehungen
Prof. Alexej I. Ossipow, Professor an der Moskauer Geistlichen Akademie
Herr Valentin Lebedew, Chefredakteur der Zeitschrift „Orthodoxes Gespräch“, Vorsitzender des „Vereins orthodoxer Bürger“
Herr Alexander I. Kyrlishew, Wissenschaftlicher Berater der Synodalen Theologischen Kommission
Frau Elena Speranskaja, Mitarbeiterin des Sekretariats des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats für zwischenchristliche Beziehungen
Herr Alexej Schilenkow, Moskau (Dolmetscher)

Von Seiten der EKD:

Bischof Dr. h.c. Rolf Koppe, Leiter der Hauptabteilung Ökumene und Auslandsarbeit im Kirchenamt der EKD, Hannover (Delegationsleiter)
Pfarrer Prof. Dr. Christfried Böttrich, Greifswald
Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Petra Bosse-Huber, Düsseldorf
Propst Dr. habil. Johann Hinrich Claussen, Hamburg
Pfarrer Prof. Dr. Christof Gestrich, Berlin
Oberkirchenrätin Pfarrerin Dr. Dagmar Heller, Hannover
Pfarrer Michael Hübner, Exekutivsekretär des Studienkollegs für orthodoxe Stipendiaten der EKD, Erlangen
Stellvertretender Bischof Propst Siegfried Kasparick, Lutherstadt Wittenberg
Pfarrerin Dr. Ariane Schneider, Stuttgart
Pfarrer Prof. Dr. Martin Tamcke, Göttingen
Pfarrer Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Thöle, Bensheim (Berater)
Frau Nadja Simon, Pulheim (Dolmetscherin)

Ehrengast:

Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD und Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz

Gäste:

Pfarrer der Evangelischen Gemeindegruppe Deutscher Sprache Moskau, Fridtjof Amling
Synodalpräsident Prof. Dr. Alexander Pastor, ELKRAS, St. Petersburg

Die Sitzungen der Dialogberatungen wurden abwechselnd von Metropolit German und Bischof Dr. Koppe moderiert.

II.

Der Dialog stand im Zusammenhang des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges, dieses Thema wurde in folgenden Referaten entfaltet:

1) „60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Bischof Dr. Rolf Koppe)

2) „Die Russische Orthodoxe Kirche und der 2. Weltkrieg: Kirchliche Wiedergeburt in Russland im Kontext des militärischen Konflikts zwischen zwei totalitären Regimen“ (Erzpriester Georgij Mitrofanow)

1) Aus dem von ROK und EKD 2003 gemeinsam herausgegebenen Buch „Hinhören und Hinsehen“, erinnerte Bischof Rolf Koppe unter der Überschrift „Martyrium, Entfremdung und Versöhnung im 20. Jh.“ an die tief greifenden Einschnitte für beide Kirchen durch die Diktaturen des Nationalsozialismus bzw. des Bolschewismus. In dieser Zeit gab es in beiden Kirchen auch Zeugnisse einer Gemeinschaft in der Verfolgung, die nicht vergessen werden dürfen.

Nach dem Besuch von Pastor Martin Niemöller bei seiner Heiligkeit Patriarch Alexij I. in Moskau 1952 wurde nach dem 2. Weltkrieg ein neues Kapitel der Beziehungen zwischen der EKD und der ROK eröffnet, das neben gegenseitigen Besuchen, einen seit 1959 andauernden Dialog und vielfältige weitere Formen christlicher Verbundenheit und Hilfe hervorgebracht hat. Besonders dankbar wird an den Besuch von Seiner Heiligkeit Patriarch Alexij II. 1995 in Berlin erinnert.

Die Verbindungen zwischen beiden Kirchen sind trotz der politischen Umwälzungen und der Krise im ÖRK erhalten geblieben. Die anhaltende Verbindung zwischen ROK und EKD hat einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung geleistet. Sie bleibt auch weiterhin im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen, bei grundlegenden Fragen wie der Menschenwürde und in einem zusammenwachsenden Europa von großer Bedeutung.

2) Erzpriester Georgij Mitrofanov führte in seinem Vortrag aus: In der Zeit des 2. Weltkrieges wurde die Russische Orthodoxe Kirche nicht nur bewahrt, obwohl sie von der totalen Vernichtung bedroht war, sondern sie konnte auch ihre Position im Leben der weiterhin atheistisch gebliebenen sowjetischen Gesellschaft festigen.

Allerdings lässt sich das Geheimnis, wie die Kirche in einer vom Geist des Abfalls durchdrungenen Geschichte existieren konnte, nicht vollständig erklären, wenn auch gut bekannte kirchenhistorische Gründe genannt werden könnten.

Die in ihrem Wesen zu einem der größten Wunder des 20. Jh.s gewordene Wiedergeburt der ROK während der tragischen Jahre des 2. Weltkrieges, lässt sich mit dem Hinweis auf den Ursprung der christlichen Geschichtsweisheit, – den Ratschluss Gottes – erklären. Gerade der Ratschluss Gottes erlaubte es den einerseits apostatischen, kommunistischen und andererseits den neuheidnischen, nationalsozialistischen totalitären Regimen, die in einen tödlichen Zweikampf getreten waren, nicht, die durch die Fürbitte der Neumärtyrer geschützte Heilige Rus zu vernichten.

Das zweite Thema: „Die Bedeutung der christlichen Werte in den Herausforderungen der heutigen Zeit“ umfasste folgende Referate:

1) „Moderne Herausforderungen der traditionellen christlichen Moral“ (Diakon Alexander Wasjutin)

2) „Kirche und Werte in den Herausforderungen unserer Zeit“ (Prof. Dr. Christoph Gestrich)

3) „Die christliche Ethik und das christliche Ethos: Die theologische Sicht der christlichen Werte“ (Priester Vladimir Schmalij)

4) „Die Seligpreisungen als Grundlage christlichen Handelns“ (Prof. Dr. Christfried Böttrich)

1) Diakon Alexander Wasjutin sprach in seinem Referat über die Herausforderungen, vor denen  die christlichen Kirchen durch die moderne Welt stehen: Die wachsende Säkularisierung der Gesellschaft, moralischer und religiöser Relativismus, die Verschiebung der Werte des Lebens und die Orientierung des Menschen ausschließlich nach materiellen Interessen. Nach Meinung des Referenten soll die christliche Antwort auf diese Herausforderungen nicht in der Anpassung der Kirchen an diese Forderungen der entchristianisierenden Welt, sondern in der Verteidigung des traditionellen Systems der geistlichen Werte, bestehen. Deren Grundlage bleibt nicht auf die sozial gefasste Wahrnehmung des Evangeliums beschränkt, sondern nimmt den Menschen in seiner Beziehung zu Gott wahr.

2) Prof. Dr. Christoph Gestrich berichtete in seinem Vortrag von Schwierigkeiten an deutschen Gymnasien bei der Durchsetzung unterschiedlicher Interessen im Blick auf den Werteunterricht. Bei der Bestimmung des erst im 19. Jh.s aufgekommenen Begriffs des ethischen Wertes in seinem Verhältnis zu den Begriffen der Norm, der Tugend und den Geboten wurde gezeigt, dass „Werte“ heute vor allem von gesellschaftlicher Seite beansprucht werden. Das, was den Christen besonders wichtig ist: Glaube, Liebe, Hoffnung, Barmherzigkeit und andere Tugenden haben sie in einen Diskurs zu allgemeinen gesellschaftlichen Grundwerten wie „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ zu bringen. Christliches Denken hat vom Zentrum des Glaubens und von theologischen Einsichten (Trinitätslehre, Inkarnationslehre, Gottebenbildlichkeit) auszugehen: Der besondere Wert und die Würde des Menschen ergeben sich nicht aus z. B. den Genen, sondern aus der Gottesbeziehung.

Im letzten Abschnitt untersuchte Prof. Gestrich praktische Beispiele heutigen kirchlichen Wirkens für die gesellschaftliche Umsetzung der Werte. Es wurde u.a. auf kirchliche Bemühungen hingewiesen, den „Kampf der Kulturen“ (Huntington) zu verhindern und zu unrecht angegriffene gesellschaftliche Minderheiten zu schützen.

In diesem Zusammenhang wurde auch auf die im Rahmen der KEK ökumenisch gemeinsam verabredete Charta Oecumenica hingewiesen. Der kirchliche Einsatz für die Werte vollzieht sich nicht nur als Lehre, sondern ist wichtig auch in seiner Vorbildwirkung.

Gemeinsam muss die hermeneutische Aufgabe gemeistert werden, eine aus der Dogmatik und dem Glauben an Christus abgeleitete Ethik in einer durch Säkularisierung gekennzeichneten Gesellschaft verständlich und wirkungsvoll werden zu lassen.

3) Im Referat von Priester Vladimir Shmalij wurde betont, dass die akademische russische orthodoxe Moraltheologie des 19. Jh.s eine Reihe von methodischen Grundsätzen aus der westlichen Theologie übernimmt, die dem patristischen orthodoxen Erbe fremd sind. Unannehmbar für die Orthodoxe Theologie erscheint folgendes: Die Formalisierung der Beziehung zu Gott als zu einem unpersönlichen, abstrakten Gut; eine Auslegung der Gebote Gottes als eine heteronome, normative Ansammlung ethischer Grundlagen, die in bezug auf menschliches Schicksal äußerlich sind; die aus der Stoa stammende Idee des Naturrechts, die unkritisch zunächst vom westlichen christlichen und später vom orthodoxen Denken angenommen wurde.

Die Existenz der christlichen Ethik oder Moraltheologie als eine von den Grundlagen des Glaubens, des spirituellen Lebens und der Askese getrennte Disziplin ist unmöglich.

Daher sollte nicht über die christliche Ethik, sondern über das christliche Ethos gesprochen werden, unter diesem Terminus ist das gesamte Sein des Menschen zu verstehen, in dem die ethische Dimension mit der Tiefe seiner Existenz gleichgesetzt wird, als Dasein in der Kirche in Gemeinschaft mit Gott als das Leben in Christus, eines verklärten und sich verklärenden Seins, dem von ihm vollzogenen Weg zum Heil: dem Weg der Buße, der Reinigung von Sünde und Leidenschaften, den Weg der Vergöttlichung. Die christliche Ethik darf nicht als eine Sammlung formeller Vorschriften verstanden werden, die der wahren Natur des Menschen „äußerlich“ sind. „Christliches Ethos“ soll die wahre Existenz des Menschen, seine ethische Dimension als integrales Element seines Seins in seinen vielfältigen Bezügen (trinitarisch, christologisch, ekklesiologisch, sakramental und asketisch) zum Ausdruck bringen.

Die wichtigste Grundlage für das Verständnis der menschlichen Existenz ist das Paradigma des innertrinitarischen Seins, welches den Vorrang der Person in bezug auf ihre natürlichen Erscheinungen behauptet: Vorrang der Liebe und Entfaltung der Person in der Gemeinschaft mit anderen Personen. Das Heil in Jesus Christus ist darauf ausgerichtet, die durch die Sünde beschädigte Fähigkeit des Menschen, den Weg der Vergöttlichung zu beschreiten, wieder herzustellen. In dieser Perspektive gewinnt das geistlich-asketische Erbe der Kirchenväter, welches von der Orthodoxen Kirche bewahrt wird, an Bedeutung.

4) Prof. Dr. Böttrich führte aus: Die Verpflichtung, gemeinsame christliche Werte in die Gesellschaft zu tragen, beruht nicht auf politischer Pragmatik, sondern auf der Verpflichtung der Christen gegenüber dem Wort der Heiligen Schrift. Die Frage nach den christlichen Werten führt uns deshalb auf unsere gemeinsame biblische Grundlage zurück.

Anhand der exemplarischen Auslegung der Seligpreisungen wurde sichtbar, wie die Methodik der biblischen Hermeneutik es möglich macht, christliche Werte aufgrund der Bibel und ihrer Tradition zu formulieren.

Die Seligpreisungen sind sowohl in der orthodoxen Liturgie als auch in der evangelischen Predigttradition und Liturgie verankert. Sie beinhalten eine Spannung zwischen Zuspruch und Anspruch. Im Vergleich des Matthäus- mit dem Lukasevangelium lässt sich feststellen, dass die Bewahrung und die Aktualisierung der Botschaft Jesu Teil eines Traditionsprozesses sind, der schon im Neuen Testament selbst beginnt.

Besondere Bedeutung besitzt im Rahmen des gemeinsamen Gedenkens an das Kriegsende vor 60 Jahren die Seligpreisung der „Friedensstifter“. Hier sind die Kirchen aufgefordert, durch die gegenseitige Verständigung ein Zeichen für die Gesellschaft im 21. Jh. zu setzen.

III.

Die Teilnehmenden danken dem Patriarch Alexij II. und der ROK für die Einladung zu dieser Begegnung und die Gastfreundschaft. Sie danken auch für die Einladung der Delegationen zur Feier des 55jährigen Jubiläum der Priesterweihe seiner Heiligkeit Patriarch Alexij II.

Am Sonntag, ( 17.04.) nahm die deutsche Delegation in der Christi-Erlöser-Kathedrale betend an der vom Patriarchen geleiteten Göttlichen Liturgie teil. Bei dem anschließenden Empfang anlässlich Feier des 55jährigen Priesterjubiläums seiner Heiligkeit Patriarch Alexij II., begrüßte der Patriarch die Teilnehmenden des Dialoges; Bischof Koppe richtete seinerseits ein Grußwort an den Patriarchen.

Am Nachmittag stand ein Besuch im „Polygon (Schiessplatz) von Butovo“, einer Vernichtungs- und Begräbnisstätte des NKWD auf dem Programm. Dort gedachten die Dialogpartner in Gebeten unter der Leitung von Metropolit German und Bischof Koppe gemeinsam der Opfer, unter denen sich viele Märtyrer befinden, von denen einige als Neumärtyrer von der ROK heilig gesprochen wurden.

Der Dialog wurde durch abwechselnd von orthodoxer und evangelischer Seite gestaltete tägliche Morgen- und Abendgebete gerahmt.

Zur Eröffnung des Dialogs begrüßte Metropolit Kyrill die beiden Delegationen. Im Rückblick auf die bisherigen Gespräche betonte er, dass der theologische Dialog in gewissem Sinne eine Widerspiegelung der politischen Prozesse und ein Versuch gewesen sei, diese im christlichen Sinne zu beeinflussen. „Wir versuchen immer wieder, die Wichtigkeit dieses Dialogs zu bedenken. Zur Zeit sind wir dazu geneigt, diesen Dialog eher aus der Sicht der Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen unserer Kirchen, als ihn nach seiner  theologischen Bedeutung zu bewerten. Wir wollen nicht verheimlichen, dass in der Russischen Orthodoxen Kirche eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Fortsetzung des theologischen Dialogs vorhanden ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Fortsetzung nicht doch für sinnvoll erachten: Die Welt, Europa, die Kirchen haben in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erlebt. Ein Teil der protestantischen Welt folgt in diesen Vorgängen der säkularen Welt, die eine Hierarchie der Werte zerstört. Wir versuchen, die Norm des christlichen Lebens in der Auseinandersetzung mit den Tendenzen säkularer humanistischer Ideologie zu bewahren, die praktisch in allen Wünschen und Äußerungen des menschlichen Willens das Maß seiner modernen Existenz sehen. Wie es scheint, ist es jetzt an der Zeit, die Positionen zu klären und wir wünschen sehr, dass wir gemeinsam für die neuen Generationen den Glauben an Jesus Christus bewahren, entwickeln und anderen nahe bringen.“

Am Abend fand ein Empfang auf Einladung des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Russland, Dr. Hans-Friedrich von Ploetz, in dessen Residenz statt; Ehrengäste waren: Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, der Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, Kyrill, Vorsitzender des Kirchlichen Außenamtes, der Metropolit von Wolgograd und Kamyshin, German, Bischof Dr. Rolf Koppe, Erzbischof Georg Kretschmar (ELKRAS) und Synodalpräsident Prof. Dr. Alexander Pastor (ELKRAS).

Am Dienstag (19.04.) legten Delegationsmitglieder am Grab des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer in Moskau zur Erinnerung an die vielen Opfer des Krieges einen Kranz nieder.

Im Anschluss daran gedachten die Delegationen in der Kreuzkirche der Patriarchenresidenz im Danilov-Kloster in einem orthodoxen Bittgottesdienst unter der Leitung des Patriarchen und einer evangelischen Andacht unter Leitung des Ratsvorsitzenden der Opfer des 2. Weltkrieges.

Bei der anschließenden Begegnung begrüßte Patriarch Alexij II. die Delegationen u.a. mit den Worten: „Es ist bezeichnend, dass Ihr Besuch, lieber Bischof Huber, genauso wie die nächste Runde unseres Theologischen Dialogs am Vorabend der Feierlichkeiten des 60. Jahrestages seit dem Ende des 2. Weltkrieges stattfindet.

Als Pastor Niemöller nach dem Krieg nach Russland kam, hat er die Grundlage für eine dauerhafte Gemeinschaft zwischen den Protestanten Deutschlands und Orthodoxen Christen unseres Landes gelegt und die Verhandlungen über die theologischen Gespräche begonnen. Seit dieser Zeit waren die Begegnungen mit den Christen aus Deutschland unverändert herzlich.

Dankbar gedenken wir der Hilfe der deutschen Kirchen bei der Wiederherstellung der Kirchen und Klöster, im Bereich der Bildung, bei der Ausbildung kirchlicher Sozialarbeiter, die für uns nach wie vor wichtig ist. Unsere Gläubigen werden niemals die Hilfe der Christen aus Deutschland vergessen. In schwierigster Zeit haben sie uns mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt; eine solche Barmherzigkeit trägt stets gute Früchte, weil sie von Menschen geübt wird, die von der Liebe zu Gott und zum Nächsten bewegt werden. Sehr hoch schätzen wir auch die Möglichkeit für unsere jungen Leute, an den berühmten theologischen Hochschulen zu studieren. Mit großem Interesse stehen wir zur Fortsetzung des Theologischen Dialogs mit der EKD, der bereits über 40 Jahre andauert. Ich bin glücklich, die Teilnehmer des Dialogs zu begrüßen, der die schwere Zeit der Umwälzung der Sowjetunion und der ganzen Welt überdauert. Der Dialog selbst hat sich verändert: jetzt stehen Fragen, die mit dem Leben der Christen in der Gesellschaft zu tun haben, stärker im Mittelpunkt. Das ist wohl unvermeidlich in einer Zeit des Wandels und der Entstehung einer neuen Kultur. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kultur vom Christentum abfällt. Wir tragen die Verantwortung dafür, wie diese Kultur aussehen wird.“

Bischof Huber dankte in seiner Erwiderung für die Einladung nach Moskau und erinnerte an den Todestag des Reformators Philipp Melanchthon, der sich in besonderer Weise für die Beziehungen zur Ostkirche und für christliche Bildung eingesetzt hat. Das Gedenken an den von den Nationalsozialisten ermordeten evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer verband er mit der Erinnerung an die Zeit vor 60 Jahren:

 „Am Beginn des 21. Jahrhunderts wissen wir uns gemeinsam der Versöhnung und dem Frieden verpflichtet. In einer globalisierten Welt und in einem zusammenwachsenden Europa sind wir Kirchen aufgerufen, den Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Ich denke an die Herausforderungen durch säkularisierte Weltanschauungen, durch neue technische und medizinische Entwicklungen, durch das Nebeneinander von sozialer Armut und wirtschaftlichem Erfolg, durch die Begegnung der Religionen in unserer einen Welt, aber auch durch neue politische Konstellationen.“

Nicht zuletzt in der Diskussion mit seiner Eminenz Metropolit Kyrill, in Berlin, habe er festgestellt, dass auf dem Gebiet der ethischen Fragen viele Gemeinsamkeiten bestehen.

Es müsse eine wechselseitige Lernbereitschaft bestehen, schrittweise die schwierigen ethischen Fragen gemeinsam zu lösen. Dabei sei wichtig, gesellschaftlich relevante Begriffe wie z.B. den der Freiheit, nicht liberalistisch zu verstehen, sondern einen eigenen Beitrag zu dem Verständnis von „Freiheit in Verantwortung“ einzubringen.

Eine wichtige Ergänzung stelle dabei der Stipendiatenaustausch dar, durch den die theologische Zusammenarbeit vertieft werden könne, ebenso wie der Austausch zwischen evangelischen und orthodoxen Gemeinden, die schon jetzt im Leben der Kirche ein Echo finden.

Abschließend verlieh Bischof Huber der Hoffnung Ausdruck, dass wechselseitig im gemeinsamen Bekenntnis die Wahrnehmung der Unterschiede und die Respektierung als Kirchen möglich werde, damit die Botschaft von Versöhnung und Frieden gemeinsam in die Welt gebracht werde.

Am Donnerstag (21.04.) besuchten die Delegationen Poklonaja Gora, einen Gedenkort für die Opfer des Krieges.

Den Höhepunkt der Gespräche bildete ein Besuch im Dreifaltigkeitskloster von Sergejev Posad am Freitag (22.04.).

IV.

Zum Abschluss der Diskussion haben die Dialogteilnehmer die Ergebnisse zusammengefasst und einen Ausblick formuliert

Die Teilnehmer des Dialogs waren sich einig in der Trauer über die Opfer des blutigsten Krieges der Geschichte, in dessen Verlauf die christlichen Werte missachtet und mit Füßen getreten wurden und Millionen von Menschenleben dem sündhaften Streben geopfert wurden, ganze Völker zu versklaven oder zu vernichten, ihnen einen fremden Willen aufzudrängen und fremde Länder zu erobern. Die Teilnehmer waren sich einig in dem Wunsch, dass solche Bestrebungen für immer aus dem Leben der Völker verschwinden; nur so können künftige Kriege vermieden werden.

In der Diskussion über Fragen der christlichen Ethik haben die Teilnehmenden am Dialog unterschiedliche Traditionen in der biblischen Hermeneutik und in der theologischen Beschreibung der christlichen Moral festgestellt. Sie betonen, dass der Dialog zwischen den Kirchen sich nicht darauf beschränken darf, einen Konsens im theoretischen Bereich der christlichen Ethik zu erreichen. Das Ziel muss sein, sich auf ein einheitliches Verständnis des geistlichen Lebens in Christus zu verständigen.

Insofern erbrachte der Dialog eine Übereinstimmung in der Frage des Umgangs mit dem Thema der ethischen Werte. Beide Seiten legten Wert auf ihre Begründung im christlichen Glauben und in der biblischen und kirchlichen Tradition.

Das christliches Verständnis der Werte muss in der heutigen europäischen Gesellschaft teils verteidigt, teils in neue ethische Wertvorstellungen eingebracht werden. Hierbei sind die christlichen Werte im öffentlichen Bereich, wie etwa den Schulen, den Medien, der Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen, aber auch in aktuellen Diskussionen wie z.B. über die Bioethik besonders wichtig.

Beide Seiten sind sich einig, dass die Gespräche

als Dialoge über theologische Grundfragen,

als Austausch über die Situation der Kirchen in der Gesellschaft

und als Möglichkeit offizieller Begegnung zwischen EKD und ROK

bestehen bleiben sollen. Wünschenswert wäre eine Studiengruppe, die in der Zeit zwischen den offiziellen Gesprächen arbeitet, sich mit verschiedenen gemeinsam interessierenden Themen beschäftigt und die Dialoge vor- und nachbereitet.

Insgesamt ist dabei der Aspekt des theologischen Dialogs wieder zu stärken. Erinnert wird in diesem Zusammenhang, an die noch offenen thematischen Bereiche: Ekklesiologie, Hermeneutik und Anthropologie.

Mögliche gemeinsame Themen im Hinblick auf den gesellschaftlichen Bereich sind auch Bioethik, Demographie, Wirtschaft, das Verhältnis von Staat und Kirche, die christliche Sicht auf nationale europäische und weltweite gesellschaftliche Prozesse.

Angeregt wird ein gemeinsames Studium von biblischen und patristischen Texten.

Wir bitten die Kirchenleitungen die Frage nach der Koordination des Prozesses zu prüfen.

Beide Seiten betonen den Wunsch, den Austausch theologischer Stipendiaten zu intensivieren und die wechselseitigen Besuche von studentischen Gruppen fortzusetzen.

In der Moskauer Theologischen Akademie wurde die Endfassung des Kommuniqués besprochen und der Text in Anwesenheit von Studenten und Dozenten durch die Leiter der Delegationen feierlich unterzeichnet.

Metropolit German
von Wolgograd und Kamyshin

Bischof Dr. Rolf Koppe
Leiter der Hauptabteilung Ökumene
und Auslandsarbeit im Kirchenamt der EKD