„Die Friedensfähigkeit der Religionen stärken“

Patriarch Mesrob II. zu Besuch bei der EKD

"Die geistliche Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen, die wir hier auf vielfältige Weise erlebt haben, ist für uns das Wichtigste", betonte der Patriarch der Armenischen Kirche in Istanbul und der gesamten Türkei, Mesrob II., beim Abschluss seines Besuches in Deutschland.

Der Patriarch hielt sich auf Einladung des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, vom 5. bis 11. Juni 2002 zu einem ökumenischen Besuch in Deutschland auf. Ein Jahr zuvor hatte der Ratsvorsitzende mit einer Delegation die Kirchen in der Türkei aufgesucht und damals unterstrichen, wie sehr die kleinen Minderheitskirchen in der Türkei die Unterstützung der Schwesterkirchen in Deutschland brauchen. Auch Bundespräsident Johannes Rau empfing Mesrob II. im Schloss Bellevue.

„Der christlich-muslimische Dialog wird in der Türkei seit Jahrhunderten im Alltag gelebt“, sagte der Patriarch. Er selber versuche zur Zeit, auch auf der Ebene der religiösen Führer der Muslime und anderer Glaubensgemeinschaften in der Türkei einen Dialog der Religionen zu führen, mit dem Ziel, die Friedensfähigkeit der Religionen zu stärken und fundamentalistischen Missbrauch religiöser Überzeugungen einzudämmen. Dafür bot ihm der EKD-Ratsvorsitzende jede nur denkbare Unterstützung der Evangelischen Kirche an. So will Kock an einer für kommenden Herbst in der Türkei geplanten interreligiösen Dialogveranstaltung teilnehmen.

Unter 60 Millionen Einwohnern stellen die etwa 100.000 Christen eine kleine Minderheit dar, unter denen die Armenische Kirche mit ca. 65.000 Mitgliedern die zahlenmäßig größte ist. Die Armenische Kirche versucht auf vielfältige Weise, in der weithin islamisch geprägten Gesellschaft der Türkei Zeugnis vom christlichen Glauben zu geben.

Der Patriarch dankte der Leitung des Diakonischen Werkes der EKD in Stuttgart für die vielfältige Unterstützung der armenischen Kirche durch die Arbeit der Katastrophenhilfe, die Hilfsprojekte der „Aktion Kirchen helfen Kirchen“ und für die Aufklärungsarbeit des Menschenrechtsreferats.
 
Der Patriarch nutzte die Einladung nach Deutschland, um sowohl der Botschaft der Türkei als auch der Botschaft der Republik Armenien in Berlin die schwierige Situation der Armenischen Kirche darzustellen. Nach bis heute belastenden Epochen ihrer jüngeren Geschichte lebt diese - mit 1700 Jahren eine der ältesten historischen Kirchen - heute verteilt auf vier Zentren: im armenischen Etschmiadzin, im libanesischen Antelias bei Beirut, sowie in Jerusalem und Istanbul.

In den Begegnungen mit der armenischen Gemeinde in Deutschland, deren 35.000 Mitglieder in Deutschland aus allen vier Zentren stammen (mehr als die Hälfte aus der Türkei), ermahnte der Patriarch die Gläubigen: die Gemeinschaft des christlichen Glaubens müsse sichtbar werden und strahle in die Gesellschaft hinein, wo immer man lebe. Bei Besuchen in mehreren evangelischen Berliner Gemeinden sowie bei Begegnungen mit Vertretern der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg betonte der Patriarch angesichts der Säkularisierungsprozesse in Westeuropa wie in der Türkei: "Die Jugend muss zusammenfinden. Sie wird den christlichen Glauben an die nächste Generation weitervermitteln. Ihr sollte unsere besondere Aufmerksamkeit gehören." Er schlug deshalb einen Jugendaustausch zwischen armenischen Gemeinden in der Türkei und evangelischen Gemeinden in Deutschland vor.

In der Lutherstadt Wittenberg, einer weiteren Station seines Deutschlandbesuchs, sagte Patriarch Mesrob bei einem Gottesdienst an Martin Luthers ehemaliger Predigtstätte, der Stadtkirche zu Wittenberg, in seiner Ansprache: "Wir Christen glauben, dass Gottes Antwort auf unser menschliches Versagen der Versöhnungsweg Christi ist. Wir haben das Privileg und die unausweichliche Pflicht, das um jeden Preis zu verkündigen."

Nach einem intensiven Gespräch mit Bischof Axel Noack, Magdeburg, und Begegnungen mit dem Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen im Kultusministerium von Sachsen Anhalt, Ermano Meichsner, und dem Oberbürgermeister der Stadt Wittenberg, Eckhard Naumann, besuchte der Patriarch das MESROB-Zentrum der wissenschaftlichen Forschungsabteilung für armenische Studien der Universität Halle-Wittenberg (Stiftung Leucorea). Das Zentrum ist nach dem Namenspatron des Patriarchen benannt, jenem großen Theologen der Armenischen Kirche, der schon 1100 Jahre vor Martin Luthers Verdeutschung der Heiligen Schrift die Bibel ins Armenische übersetzt hatte.

Der Ratsvorsitzende und Patriarch Mesrob beendeten ihre ökumenische Begegnung am Sonntagabend mit einem gemeinsamen Gottesdienst im Berliner Dom. In ihren Predigten ebenso wie in einer gemeinsamen Erklärung unterstrichen die beiden leitenden Geistlichen: „Die geistliche Dimension umfasst nicht nur gemeinsame Gebete und gemeinsame gottesdienstliche Feiern. Das Zeugnis aller christlichen Kirchen gilt dem Menschen in all seinen Lebensbezügen und schließt darum die Weltverantwortung mit ein.“

Beide Kirchenführer wiesen auf die weltweiten Bemühungen der Kirchen zur friedlichen Konfliktbearbeitung hin, die im Rahmen der jüngsten Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) zum Ausdruck komme. Sie riefen in diesem Zusammenhang zur Überwindung der Gewalt in Israel/Palästina und zur Wiederaufnahme von politischen Gesprächen über eine friedliche Zukunft der beiden Völker auf.

Hannover, 14. Juni 2002
Pressestelle der EKD