Rede anlässlich des ökumenischen Jahresempfangs der kirchlichen Dienststellen in Brüssel

Manfred Kock

Es gilt das gesprochene Wort!

„Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich“
(Römerbrief Kap. 11,18b)

Das Thema meines Vortrags oder besser sein biblisches Motto ist dem Brief des Apostel Paulus an die christliche Gemeinde im antiken Rom entnommen. Paulus war der erste christliche Missionar, der seinen Fuß auf europäischen Boden setzte. Auf seinen Reisen von Kleinasien nach Griechenland, oder auf dem Seeweg um Zypern herum, durch die Ägäis und zuletzt über Kreta und Malta nach Rom führten ihn seine Wege. Er war in Regionen unterwegs, die damals wie heute für Europa von besonderer Bedeutung sind. Paulus war nicht nur ein beeindruckender Prediger des Evangeliums, sondern er legte mit seinen Briefen und zahllosen persönlichen Kontakten den Grundstock für ein ökumenisches „Netzwerk“ von christlichen Gemeinden und Kirchen in der gesamten Mittelmeerregion. Aus seinen Briefen spricht die Sorge um den Zusammenhalt der verschiedenen Ortsgemeinden – und ihre Verbindung nach Jerusalem. Die schon damals sehr bunten und vielfältigen Gemeinden warnte er nachdrücklich davor, ihre Ursprünge im Judentum zu vergessen. Sich von den eigenen Wurzel zu kappen hat keine Verheißung. Er schärfte der Gemeinde in Rom ein, das von Gott erwählte Volk Israel und die bleibende Gültigkeit seiner Verheißungen für das jüdische Volk auch künftig zu achten. Denn für Christinnen und Christen gilt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich." Diese Mahnung wurde häufig überhört und in ihr Gegenteil verkehrt. Die europäische Geschichte der Judenverfolgung ist lang, schmerzlich und beschämend.

Was bedeuten nun die Worte des Paulus am Vorabend der Erweiterung der Europäischen Union? Welches sind die prägenden geistig-religiösen Wurzeln, die wir als Europäer nicht vergessen sollten und an die auch im Zusammenhang mit dem Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union gedacht werden soll und muss ?
 
2. Die Wurzeln Europas

Europa ist kein einheitliches Gebilde und ist dies nie gewesen, Europa ist geprägt von Veränderung und Pluralität und zieht seine kulturelle Substanz aus vielen Wurzeln. Europa ist ein Mosaik aus unzähligen kleinen und größeren Teilen, die alle für das Gesamtbild unentbehrlich und wertvoll sind. Ein politisches Unikat und ein geografisches Unikum zugleich, denn wer vermag ganz präzise zu sagen: Hier ist Europa zuende und dort beginnt es. Europa wächst nicht aus einer einzelnen Wurzel, sondern wird von einem starken und vielfältigen Wurzelgeflecht getragen. Ich möchte von den wesentlichen religiösen Wurzeln und ihrer Bedeutung für das zusammenwachsende Europa sprechen. Sie verbinden sich mit klingenden Namen: Jerusalem, Athen, Rom, Konstantinopel, Kiew und Moskau.

Europa ist älter als die Kirchen, es schließt germanisches, jüdisches und slawisches Erbe ein; die römische und griechische Antike und die arabisch﷓sarazenische Kultur haben ebenfalls den europäischen Entwicklungsstrom gespeist.

Was die christlichen Impulse angeht, so ist Europa im Osten in byzantinisch orthodoxer, im Westen in römisch﷓katholischer und reformatorisch-protestantischer Ausformung geprägt worden. Die durch die Jahrhunderte hindurch entwickelten unterschiedlichen konfessionellen Räume sind bis in unsere Gegenwart spürbar. Sie beeinflussen ﷓ verbunden mit den Wirkungen der neuzeitlichen Aufklärung ﷓ die Kultur und das Lebensgefühl der Menschen bis heute. Hinzu kommt die Prägung, die das Judentum für Europa geleistet hat.
Was können die Kirchen auf diesem Hintergrund zu einem Europa der Zukunft beitragen?
In drei Schritten will ich antworten:
 
2.1   Versöhnung in Europa

Die christlichen Kirchen können einen Beitrag zur Entwicklung und Wahrung von Frieden und Gerechtigkeit in Europa leisten, wenn sie sich auf die Mitte ihrer Botschaft besinnen, denn aus ihr kommen Offenheit und  Versöhnungsfähigkeit. Die Kirchen müssen dabei helfen, dem Missbrauch von Religion zu wehren. Das ist gerade in diesen Monaten eine herausragende Aufgabe.

Auch gegenwärtig gibt es noch blutende Teile Europas, die sich konfessioneller Gegensätze bedienen, um Gewalt und Terror ideologisch zu begründen. In Nordirland sind es die katholischen und protestantischen Traditionen; in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist es im Augenblick unter dem Schild des multinationalen Militäreinsatzes einigermaßen ruhig, aber dort sind es in erster Linie römisch﷓katholische und orthodoxe Herkünfte, die gegeneinander und in Spannung zu muslimischen Traditionen stehen.

Ethnische Konflikte können jederzeit aufbrechen. Ein Zusammenwachsen wird nur möglich sein, wenn Rücksicht auf die Vielfalt genommen wird. So wie das protestantische Verständnis von Ökumene von einer Einheit in der Vielfalt ausgeht, so ist auch eine politische Einheit nur denkbar, die unterschiedliche Kulturen und Lebensformen respektiert. Wo solche Unterschiede zum Hebel für ökonomische Ungleichheit,  zum Ausschluss von politischer Teilhabe oder zur Kompensation von Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexen genutzt werden, da geschieht Missbrauch der kulturellen und religiösen Herkunft.

Das Wachsen der Europäischen Union lenkt den Blick auch auf den Beitrag des Islam zur Kultur in Europa. Inzwischen leben etwa 15 Mio. Muslime in Europa, in Deutschland sind es mehr als 3 Millionen.

Kontakte zu muslimischen Gemeinden haben sich in der Zeit nach der Erschütterung durch die Attentate vom 11. September 2001 bewährt. Doch wir sind erst Anfänger im Dialog mit den Muslimen. Vielerorts lähmen Unsicherheiten über die eigene christliche Identität die Integrationskraft. Erst wenn wir mehr für die Vergewisserung unserer Identität getan haben, werden wir auch die Bereicherungen durch die Anwesenheit anderer Religionen in unserem Land entdecken können. „Statt einem Kampf der Kulturen das Wort zu reden, sollten wir einen Kampf um Kultur aufnehmen.“(1)  – heißt es in der Kulturdenkschrift der EKD, die wir kürzlich veröffentlicht haben.

Der Dialog mit Muslimen ist nicht einfacher geworden. Wer im Islam für wen eigentlich verbindlich sprechen kann, dies bleibt selbst in jenen europäischen Ländern unklar, in denen gesetzliche Vorgaben die Muslime zu verbandlicher Zentralisierung zwingen. Uns begegnet bei einem Teil der Muslime Gesprächsbereitschaft, andere schotten sich völlig ab. Es gibt in der Öffentlichkeit Stimmen, die von prinzipieller Unfähigkeit des Islam zum Dialog sprechen.

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hält die muslimisch-türkische Diaspora für „im Prinzip nicht integrierbar“ (Interview in der TAZ v. 10.9.02). Der Orientalist Hans-Peter Raddatz warnt davor, die Gewaltbereitschaft und den Hass auf die sog. „Ungläubigen“, dazu rechnen Juden und Christen, nur den Fundamentalisten zuzuschreiben und sich für den offiziellen Dialog einer „Islam-Fiktion“ zu bedienen (so in der WELT v. 11.9.02). Andere weisen hin auf Imame in Moscheen und Lehrer in den Koranschulen, die Hass auf die Welt des Westens gepredigt hätten und sich als Basis ihres Erziehungsprogramms des Wahhabismus bedienen, der seine machtvolle Realisation in der saudi-arabischen Herrscherdynastie habe.

So nachdenklich solche Stimmen machen können, sie tragen zur Lösung unseres Integrationsproblems in Europa nicht bei. Wir haben zum Dialog keine Alternative. Er ist der einzige vorstellbare Weg in die Zukunft. Bei diesem Dialog darf jedoch nicht der Fehler gemacht werden, die verschiedenen religiösen Herkünfte für bedeutungslos zu erklären. Nivellierung und Assimilation sind keine Lösung.

Bei allen Begegnungen mit Muslimen sind unsere Gesprächsfähigkeit und unsere kritische Wahrnehmung gleichermaßen gefragt. Erfahrungen aus der Geschichte unserer Kirche und unseres Landes, die wir zu ganz wesentlichen Teilen der Reformation und der Auseinandersetzung mit der Aufklärung verdanken, haben wir in die Gespräche mit den Muslimen einzubringen.

  • Dazu gehört, dass wir die organisatorische Trennung von Kirche und Staat befürworten und in der Partnerschaft von Staat und Kirche ein bewährtes Modell gefunden haben, das der Freiheit des Glaubens dient und zugleich der Gesellschaft Nutzen bringt.

  • Dazu gehört, dass wir staatliche wie geistliche Autorität relativieren und gegen die Ansprüche der Gemeinschaft persönliche Freiheit und die Prinzipien des Rechtsstaats als Grundlage des demokratischen Zusammenlebens befürworten.

  • Dazu gehört, dass wir das Gewaltmonopol des Staates anerkennen.

  • Dazu gehört, dass die Freiheit des Einzelnen immer mit der Bereitschaft zur Verantwortung verbunden sein muss.

  • Dazu gehört das Eintreten für die Gleichstellung von Männern und Frauen.

  • Dazu gehört, dass wir uns aus christlicher Überzeugung für Benachteiligte, für gerechte soziale Strukturen, die Förderung des Friedens und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.

Die Zuspitzung der kirchlichen Aufgaben für Europa auf diese Fragen macht deutlich: Es geht nicht um europäisch﷓abendländische Restauration. Die blutige Geschichte Europas zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht schon automatisch Herz und Seele für Europa gewährleisten. Das menschliche Gesicht Europas bedarf der nüchternen Erkenntnis, dass triumphalistische Dominanz christlicher Provenienz auch mit dem dunklen Schicksal Europas verwickelt ist.

  • Mit ihrer Spaltung liefern die Kirchen ein negatives Bild. Spaltung schwächt die Glaubwürdigkeit ihres Auftrages. Solange die Kirchen die gewachsenen Unterschiede aggressiv gegeneinanderstellen oder die unterschiedlichen Herkünfte zur ideologischen Waffe für den Kampf zwischen Wirtschaftsinteressen missbrauchen lassen, sind sie Hindernis im europäischen Einigungsprozess.

  • Die Einigungsschritte der Kirche sind daher Ausdruck einer Bußbewegung, die auf eine Gemeinschaft der versöhnten Verschiedenheit zielt. Es gibt Hoffnungszeichen für die weitere Entwicklung. Die Charta Oecumenica ist ein solches Zeichen.

  • Viele Kirchen in Europa haben sich an kolonialistischer Beherrschung beteiligt, haben legitimiert, dass in der Welt Kulturen zerstört wurden, und haben geschwiegen, wenn die Ausrottung von Menschengruppen in Kauf genommen wurde. Ein „Überlegenheitswahn“ europäischer Völker sichert bis heute die Herrschaft über die Reichtümer und Märkte anderer Völker.

    Dass die Kirchen zur Umkehr bereit sind, zeigt sich heute im Kampf gegen den Hunger in der Welt und im Einsatz für Gerechtigkeit, den viele Kirchen leisten und bei den Regierungen ihrer Länder einfordern.

  • Bußbedürftig sind die Kirchen auch im Blick auf das Verhältnis von Männern und Frauen. Die Kirchen haben über Jahrhunderte in patriarchalischen Strukturen gelebt und darin das gesellschaftliche Leben geprägt. Trotz eines unübersehbaren Wandlungsprozesses gibt es nach wie vor Diskriminierung, ungleiche Bezahlung, falsche Lastenverteilung und unzureichende Beteiligung an Leitungsverantwortung. Was diese Frage angeht, stimmen wir den Bemühungen um rechtliche Regelungen gegen Diskriminierung in Europa zu.

  • Eine solche Bußbewegung bezieht sich auch auf die Verfehlungen gegenüber dem Auftrag, die Schöpfung Gottes zu bewahren. Der Auftrag der Heiligen Schrift, sich die Erde untertan zu machen, wurde als Recht zur Unterwerfung missverstanden. Die Folgen sind noch unübersehbar.


    Die Kirchen in Europa sind den europäischen Gesellschaften diese Bußbewegung schuldig. Freilich ist Buße „kein Ersatz für Gerechtigkeit und Wahrheit“ (Schlussdokument von Graz, 1997), sondern deren Voraussetzung.

2.2   Soziale Gerechtigkeit in Europa

Die kapitalistische Wirtschaft in Europa braucht Zähmung. Christliche Kirchen haben daran zu erinnern: der Mensch ist nicht Eigentümer, sondern Treuhänder der Erde. Aber die Globalisierung macht die Welt zu einem einzigen Markt.

In schwieriger und schmerzhafter Weise wird dies gegenwärtig auch in den osteuropäischen Gesellschaften spürbar, dass viele Menschen, ja ganze Berufsstände und Regionen an den Rand der ökonomischen Entwicklung gedrängt werden. Von den Erfolgen der ökonomischen Entwicklung profitieren also keineswegs alle gesellschaftlichen Bereiche.

In dieser Situation ist es nötig, dass die Kirchen sprechen. Dabei geht es nicht um kirchliche Interessen, sondern um die verbindende Kraft der Botschaft: „Du bist nicht für dich selber da!“

In den ökonomischen Entwicklungen sind die Kirchen Fürsprecher für das Leben, für das leidende, sterbende und behinderte Leben. Die Botschaft von der Erlösung Christi macht zur Hoffnung fähig. Sie entlastet, denn sie lässt auch Vorletztes und Unvollkommenheit aushalten.

2.3   Europa als Friedensfaktor stärken

Bei der Antwort auf die Herausforderungen durch Krieg, Terror und anderer ideologisch motivierter Gewalt sind die Gemeinsamkeiten der Kirchen besonders groß. Ihre Zusammengehörigkeit überschreitet die Grenzen zwischen den Völkern. Der Friede, „der höher ist als alle Vernunft“, kann Menschen wieder zu Gott und zueinander führen. Das zu bezeugen ist ihre zentrale Aufgabe. Dieses öffentliche Zeugnis sind die Kirchen den in Europa zusammenwachsenden Nationen schuldig. Sie nennen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Namen und setzen sich für die Strafverfolgung von Verbrechen durch nationale und internationale Gerichtsbarkeit ein.

Die Kirchen haben aus der biblischen Friedensbotschaft heraus dafür einzutreten, dass die Sicherheitspolitik weiterentwickelt wird. Nationalstaaten muss die Fähigkeit genommen werden, eigenständig Kriege zu führen. Wir müssen darauf bestehen, dass der ‘prima ratio’, also der politischen Konfliktlösung, höchste Priorität beigemessen wird, damit so selten wie möglich zu militärischer Gewalt als ‘ultima ratio’ gegriffen werden muss. Darum ist es nötig, die Fixierung der Politik auf die militärischen Optionen der Konfliktlösung, insbesondere bei der Terrorbekämpfung zu überwinden.

Die Vision eines „Europa mit menschlichem Gesicht“ leitet die Menschen und auch die kirchliche Arbeit seit Jahren. Vierzig Jahre lang war die Grenze durch Deutschland reales Symbol der Trennung der Welt in zwei Teile. Diese Grenze hat viele in unserer Kirche nicht davon abgehalten, Schritte auf dem Weg der Begegnung und der Versöhnung zu suchen. Und sie fanden jeweils auf der anderen Seite der Grenze Partner, die das verstanden haben.

Europa war dabei kaum ein eigenes kirchliches Thema. Erst seit dem Fall der Mauer ist die Herausforderung deutlich geworden. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat nach der Vereinigung des Landes ihren besonderen Auftrag auch darin gesehen, die Einigung Europas nicht auf die westeuropäischen Länder zu beschränken, sondern die östlichen Nachbarn einzubeziehen und dabei das kulturelle Erbe und die geschichtliche Verpflichtung aus den schrecklichen Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus und des Realsozialismus in den europäischen Einigungsprozess einzubringen.

Inzwischen ist die Entscheidung gefallen, weitere östliche Nachbarn der EU beitreten zu lassen. Das ist nicht nur und nicht in erster Linie ein ökonomisch bedeutender Vorgang. Er ist vor allem Ausdruck der gemeinsamen kulturellen Verantwortung, die wahrzunehmen ist für die Gestaltung des künftigen, friedlichen Zusammenlebens in unserem Kontinent, der eine Jahrhunderte lange Geschichte von Kriegen hinter sich hat. Es ist zu hoffen, dass dieser Prozess weiter entwickelt wird. Eine Rückkehr in nationalstaatliche Politik hätte verheerende Folgen.

Die „Christen und Kirchen, die sich zur Verheißung einer neuen Schöpfung als Bestandteil ihres Glaubens bekennen, haben die Aufgabe, ihre Vision einer gerechten, friedlichen und bewahrten Welt in die Gestaltung des neuen Europa mit einzubringen.“ So hat es im Jahre 1996 die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland einmal programmatisch  festgestellt.

Mit der Erweiterung stellt sich für die Europäische Union und alle die sie tragenden gesellschaftlichen Kräfte, also auch die Kirchen, die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen und Völker jenseits dieser Grenzen nicht aus der Solidarität ausgeschlossen werden. Die Frage, wer zu Europa gehört und wer nicht, darf das Klima untereinander nicht vergiften. Hier sehe ich die großen Herausforderungen im Dialog zwischen den Kirchen des Westens mit den Kirchen der orthodoxen Tradition.

3. Konstruktive Pluralität als christliches Erbe

Aufs Ganze gesehen sind also die gemeinsamen Wurzeln Europas, die uns heute tragen, vielgestaltig. Einen Exklusivanspruch auf das europäische Erbe kann niemand erheben - auch das Christentum nicht.

Gleichwohl gilt: Europa ist ganz wesentlich von christlichen Traditionen geprägt, selbst wenn das den politisch Handelnden nicht immer bewusst ist und sich manche mittlerweile gar nicht mehr so gerne daran erinnern lassen. Doch darf sich Europa nicht von seinen jüdisch-christlichen Wurzeln distanzieren oder gar der Versuchung eines oberflächlichen Modernismus unterliegen, sie zu kappen.

Ein Beispiel soll dies unterstreichen:

Im Westfälischen Frieden von 1648 ging es im Kern um die Frage, wie drei christliche Konfessionen – Katholiken, Lutheraner und Reformierte – die in der Zeit des 30 jährigen Krieges in die blutigen Kämpfe ihrer Staaten verwickelt waren, auf Dauer nebeneinander in geordneten Verhältnissen leben könnten. Die Antwort lag in der Ausgestaltung neuer nationalstaatlicher Rechtsordnungen in Europa. Diese Entwicklung wäre ohne die humanitären Anteile der christlichen Überlieferung nicht denkbar gewesen, doch lag ihr Ziel primär in der Schaffung eines Rechtsrahmens für das staatliche Handeln und nicht eines überkonfessionellen Rahmens für die christlichen Denominationen. Der Westfälische Frieden konzipierte eine eher nüchtern-pragmatische Rechtsordnung, die darauf zielte, die konfessionellen Lager soweit voneinander zu trennen wie nötig, damit nicht neuer Gewalt Vorschub geleistet wurde. Nicht ganz freiwillig wurden die Kirchen durch diese auch für sie verbindlichen Regelungen auf ein Nebeneinander auf relativ engem Raum eingestellt. Kein Zweifel, das war das Verdienst von Menschen, die sich einer humanen Rationalität eher verpflichtet fühlten, als den jeweiligen damaligen kirchlichen Eigeninteressen, die aus sich heraus zu einer solchen Lösung nicht gefunden hätten.

Die westlichen Kirchen haben aus den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte gelernt und sind selber zu Protagonisten jener Regelungen geworden, die sie in der Vergangenheit aus eigener Kraft nicht hätten formulieren und umsetzen können. Heute sind sie mit anderen gesellschaftlichen Kräften daran interessiert, dass im staatlichen und zwischenstaatlichen  Bereich nicht mächtige Einzelinteressen bzw. nationale oder parteipolitische Egoismen obsiegen.

Zum positiven europäischen Erbe gehört die konstruktive Wechselwirkung von religiösen Identitäten und weltanschaulich unabhängigen staatlichen Strukturen, die gleichwohl von Menschen gestaltet und gehandhabt werden, die ihre religiöse oder weltanschauliche Prägung ja konstruktiv in die Führung von Ämtern und Mandaten einbringen und darum ihre Kirchenzugehörigkeit nicht verstecken müssen.

Der friedliche Einigungsprozess Europas, dessen Zeugen wir sind, ist ein historisches Ereignis. Was die komplexen gesellschaftspolitischen Entwicklungen prägt, ist nicht statisch zu beschreiben. Kulturelle und auch religiöse Traditionen sind höchst lebendige Quellen, aus denen Europa Kraft schöpft. Darum dürfen sie bei der Suche nach notwendigen Identifikationsgrundlage für die Bürgerinnen und Bürger mit Europa weder als historische Relikte vernachlässigt noch als unveränderliche Gegebenheiten missverstanden werden.  Auf der Suche nach den gemeinsamen Wertgrundlagen ist zu entdecken, dass der Umgang mit dem religiösen Erbe Europas ein dynamischer Vorgang ist. Der christliche Glaube und die ihn vermittelnden Institutionen, Familie und Kirche, sind dabei lebendige Faktoren, die sich ständig neuen, veränderten Herausforderungen stellen müssen. Das reformatorische Prinzip der „ecclesia semper reformanda“, der permanenten Reform, gilt längst über den Protestantismus hinaus für alle Kirchen, mehr noch, es gilt für die moderne Gesellschaft schlechthin. Solche Lernbereitschaft und Flexibilität sind nicht einfach nur Kennzeichen der säkularen Moderne, sondern sie sind Markenzeichen jüdisch-christlichen Denkens. Als Werte behalten sie ihr Gewicht und ihr innovatorisches Potenzial am ehesten, wenn man sich ihrer religiösen Wurzeln erinnert.

4. Die Bedeutung des religiösen Erbes Europas für einen europäischen Verfassungsvertrag

Eine Verfassung der Europäischen Union, die identitätsstiftende Funktion haben soll, sollte den gebührenden Respekt vor den Quellen erkennen lassen, aus denen die Bürger der EU ihre Werte, ihr Selbstverständnis schöpfen. Sie sollte darum die gemeinsamen Wurzeln deutlich benennen. Zu diesen Grundlagen europäischer Identitäten gehören – wie bereits dargestellt - neben den kulturellen und philosophischen ganz wesentlich auch die religiösen Traditionen. Dabei spielt die Tatsache der christlichen Prägung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Europas zwar keine exklusive aber doch eine wichtige Rolle. Europa muss anderen Religionen und Weltanschauungen Raum geben, sofern sie bereit sind, sich aktiv und konstruktiv auf den Wertekanon der EU einzulassen.

Die Präambel des europäischen Verfassungstextes, sollte sie denn einen Verweis auf das religiöse Erbe - oder gar einen dezidierten Gottesbezug - enthalten, würde damit nicht von den Kirchen exklusiv vereinnahmt werden, so als bilde nur ein einziges religiöses, politisches oder weltanschauliches Glaubensbekenntnis die Möglichkeit zur Identifikation mit der Verfassung. Aber es ist unbestreitbar, dass die Grundlagen des europäischen Wertekanons sich aus den Quellen der christlichen Überlieferung gespeist haben. Es geht heute beim religiös-spirituellen Erbe um einen wesentlichen gemeinsamen Wurzelstrang Europas, nicht um eine kulturhistorische Nebensache. Ein Bezug auf das religiöse Erbe wirkt identitätsstiftend, und verweist neben der individuellen und partikularen Verantwortlichkeit auch modellhaft auf die gemeinschaftliche Verantwortung gesellschaftlicher Gruppen für die Zukunft Europas.

5. Geordnete religiöse Vielfalt als Bestandteil nationaler Identität - Konsequenzen aus der Erklärung 11 des Amsterdamer Vertrages

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet und in der Regel über Jahrhunderte historisch gewachsen. Die europäische Einigung kann nur dann erfolgreich fortgesetzt werden, wenn sie auf solchen Fundamenten aufbaut.

Ein künftiger Verfassungsvertrag für die Europäische Union müsste darum sicherstellen, dass die staatskirchenrechtliche Vielfalt erhalten bleibt. Europäische Politik und die Gesetzgebung der Union haben häufig nur indirekte, aber gleichwohl vielfältige Auswirkungen auf die Arbeitsfelder der Kirchen und auf deren eigene Gesetzgebung oder die rechtliche Verfasstheit von Caritas und Diakonie. Als Beispiele sei hier auf die Bedeutung des Tendenzschutzes für die Anstellungsbedingungen verwiesen; ein weiteres Beispiel ist der Bereich der karitativen bzw. diakonischen Dienstleistungen etwa in der häuslichen Krankenpflege, für die das europäische Wettbewerbsrecht keine Bedingungen schaffen darf, die mit den christlichen Standards von menschenwürdiger Pflege nicht oder nur schwer vereinbar sind.

Die Europäische Union sollte den Status der Kirchen in der Form, wie der durch das nationale Recht vorgegeben ist, unangetastet lassen. Ein Beitrag hierzu wäre eine ausdrückliche Klarstellung in einem künftigen Verfassungsvertrag, dass der Status der Kirchen in den Mitgliedstaaten als Bestandteil der nationalen Identität von der Europäischen Union respektiert würde.
 
6. Demokratie braucht Teilhabe - Plädoyer für einen strukturierten Dialog der Europäischen Union mit den Kirchen

Demokratie lebt von der Teilhabe die Bürgerinnen und Bürger und gesellschaftlicher Gruppen an den politischen Willensbildungsprozessen. Auch das zusammenwachsende Europa als Union demokratischer Staaten braucht wechselseitige Rückkopplung zwischen den Bürgern, den gesellschaftlichen Gruppen und politischen Entscheidungsträgern.

Der Dialog europäischer politischer Institutionen mit den gesellschaftlichen Kräften ist eine wichtige Voraussetzung, um die gemeinsamen, vielgestaltigen Wurzeln des religiösen, philosophischen und geistigen Gedankenguts zu pflegen, ihr Zukunftspotenzial zu erschließen und im politischen Alltag Gestalt gewinnen zu lassen. Auch müssen sich die politischen Entscheidungsträger Europas an die ethischen Maßstäbe ihres Handelns erinnern lassen, damit in Europa eine nachhaltige Politik gemacht wird, die den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Toleranz verpflichtet bliebt und zugleich ein menschliches Gesicht behält.

Nicht zuletzt darum sollte der Grundsatz der Partizipation, also der Teilhabe an den politischen Gestaltungsprozessen in einem künftigen Verfassungsvertrag verankert werden, um der besondere Rolle von Nichtregierungsorganisationen wie etwa den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften gerecht zu werden.

Die EU-Institutionen werden es alleine nicht schaffen, ihre Politik dem Bürger näher zu bringen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit der EU identifizieren. Sie brauchen die Vermittlung der gesellschaftlichen Gruppen und sollten sich darum weiterhin intensiv um das politische Gespräch mit ihnen bemühen. Gesellschaftlicher Konsens und Werteerneuerung wachsen aus vielen Diskursen, dort aber brauchen wir motivierte und engagierte Menschen. Noch immer gehört freiwillige Mitgliedschaft in organisierten Teilen der Gesellschaft wie Kirchen und Verbänden zu den elementaren Formen bürgerschaftlichen Engagements.

Die Kirchen und andere große gesellschaftliche Gruppen bieten in vielfältiger Weise Praxisfelder für gesellschaftliches Handeln, in dem sich Werte ausdrücken, bewähren müssen und zugleich reflektiert und weiterentwickelt werden.

Wo wären wir beispielsweise in der Frage der menschenwürdigen Versorgung von Krankenhauspatienten ohne tragendes familiäres Umfeld ohne die ehrenamtlichen Kräfte der Krankenhausseelsorge und der Krankenhaushilfe? Kirchen - und wie sie auch andere „Freiwilligenagenturen“ haben damit Brückenfunktion zwischen der Bürgerschaft, staatlichen Institutionen und politischen Verantwortungsträgern.

Schließlich möchte ich darauf verweisen, dass es sich beim Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen nicht etwa um eine eigenmächtige Anspruchshaltung handelt. Christen sollen ihr Licht nicht unter einen Scheffel stellen. Sie sind mit ihrer Botschaft und ihrem Dienst „Salz der Erde“.

Weil die Kirchen solche biblische Verpflichtung zum öffentlichen Zeugnis und Dienst ernst nehmen, engagieren sie sich in gesellschaftlichen Prozessen und beziehen öffentlich Stellung. In der säkularen Gesellschaft Europas können die Kirchen diesen Öffentlichkeitsauftrag nur dann zum Nutzen für alle erfüllen, wenn sie sich ihrerseits nicht ins Getto der Privatheit abgedrängt werden, sondern wenn sie die Gelegenheit behalten mit anderen gesellschaftlichen Gruppen im Rahmen der Zivilgesellschaft engagieren.

Das Besondere an Kirchen und Religionsgemeinschaften ist, dass sie nicht aus dem gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess legitimiert sind, sondern für die transzendente Dimension des menschlichen Lebens stehen und die darin begründeten Werte. Dies spielt eine wesentliche Rolle in der bioethischen Debatte. Das Menschenbild Europas ist von der biblischen Vorstellung der Gottebenbildlichkeit stärker geprägt als von anderen geistigen Einflüssen. Dies gilt auch für die davon abgeleiteten Werte, wie etwa der Menschenwürde, die gerade dort, wo sie von ihren religiös-spirituellen Wurzeln isoliert betrachtet wird, Anfälligkeit für Aufweichung zeigt. Ich denke dabei an die Frage des Personseins, die aus der Perspektive der biblischen Wurzeln anders beantwortet werden muss, als aus der Verkürzung auf ein reduziertes Verständnis vom „Bewusstsein“. Die biblischen Wurzeln mahnen an, dass das Personsein des Menschen, sein Wert und seine Würde nicht von ökonomischen, psychologischen oder physiologischen Kriterien abhängig gemacht werden dürfen.

Anders als andere gesellschaftliche Verbände, Parteien, Gewerkschaften u.a. vertreten die Kirchen keine Partikularinteressen. Sie setzen sich für Werte ein, die eine freie Gesellschaft für die Erfüllung ihrer Aufgaben und die Bewältigung ihrer Konflikte braucht: unbedingter Schutz der Menschenwürde, Toleranz und Verpflichtung auf Freiheit und Gleichheit der Menschen ebenso wie nachhaltige Förderung und Stärkung der Gemeinschaftsfähigkeit und damit Stärkung der Demokratie.

7. Sollte eine europäische Verfassung einen Gottesbezug benennen?

Der Gottesbezug eines Verfassungstextes ist stets konfliktträchtig und sollte in der gebotenen Zurückhaltung, die sich im Respekt vor anderen Verfassungstraditionen und vor Nicht- und Andersgläubigen ergibt, diskutiert werden.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält in seiner Präambel mit der Formulierung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen...“ einen ausdrücklichen Transzendenzbezug, um dadurch einerseits die Begrenztheit der positiven Verfassungsgebung zu verdeutlichen, und sich andererseits von jeglichem Absolutheitsanspruch des Staates auf alle Lebensbereiche zu distanzieren .

Diesen Weg hat das deutsche Grundgesetz auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Dritten Reiches mit dem totalen Staat gewählt. Hier hatte sich eine Ideologie zum Religionsersatz bzw. ein politischer Führer zur letzten Instanz über Tod und Leben aufgeschwungen und die selbst geschaffene Ordnung verabsolutiert. Indem nun die letzte Verantwortung vor Gott festgehalten wird, soll die Selbstbegrenzung des politischen Gemeinwesens zum Ausdruck gebracht werden. Der Verweis auf Gott als Horizont unserer Verantwortung relativiert alle Ansprüche auf menschliche Allmacht.

So wäre es wünschenswert, wenn durch einen zusätzlichen Gottesbezug im europäischen Vertragswerk festgehalten und unterstrichen würde, dass jeder Verabsolutierung der politischen Ordnung der Europäischen Union ein Absage erteilt wird.

Man könnte nun einwenden, dies sei doch vor allem ein deutsches Problem. Deutschland sei ein „gebranntes Kind“ und wolle deshalb sich selbst schützen, aber für Europa müsse das nicht in gleicher Weise gelten.

Ich sage: Gerade für Europa muss dies gelten. Denn die Hitlerdiktatur war nicht das einzige totalitäre Regime in Europa, wenn auch seine Aggressionen unvergleichbar waren und eine Verwüstung ganz Europas zur Folge hatten. Andere totalitäre Herrschaftsformen, nämlich die kommunistisch-stalinistischen und die nationalistisch-autoritären Diktaturen haben deutliche Spuren der Zerstörung hinterlassen.

Zugegeben: problematisch wird ein Gottesbezug in diesem Zusammenhang, wenn Totalitarismus gerade in Verbindung mit Religion oder Kirche erlebt wurde. Vor diesem Hintergrund könnte der Verweis auf Gott genau anders herum verstanden werden: nicht als Begrenzung staatlicher Macht, sondern als deren transzendente Legitimation.

Die Gefahr einer totalitären Vereinnahmung scheint mir aber bei einem deutungsoffenen Gottesbegriff, der die Selbstbegrenzung des Staates verdeutlicht und sich der Vereinnahmung durch eine bestimmte Religion oder Konfession entzieht, eher gering.

Der Transzendenzbezug in einer künftigen Europäischen Verfassung soll nicht die Verfassung im Sinne einer bestimmten Konfession oder Religion anreichern. Gott müsste dann vielmehr als deutungsoffene Chiffre stehen für die Begrenzung staatlicher Macht, die für alle Vorstellungen von Transzendenz offen ist, seien sie jüdischer, christlicher, muslimischer oder anderer Natur.

Ein solcher deutungsoffener Transzendenzbezug würde zugleich die vielfältigen europäischen Wurzeln widerspiegeln und denjenigen Menschen in Europa helfen, die ihr Wertesystem religiös verankert haben. Die wenigsten Menschen im heutigen Europa sind konsequente Atheisten, die jede Form von Religiosität ablehnen. Wenn man Umfragen aus den letzten Jahren Glauben schenken darf, dann ist der Glaube an Gott oder an eine göttliche Macht bei der überwiegenden Mehrheit fest verhaftet. Häufig orientieren sich Menschen nicht an bestimmten religiösen Dogmen und konfessionellen Ausprägungen, sondern drücken ihre religiöse Haltung einesteils in einem diffusen Transzendenzgefühl, andernteils in der Suche nach Klarheit und Gewissheit aus.

Wenn in der Präambel einer künftigen Europäischen Verfassung die Selbstbegrenzung des politischen Gemeinwesens durch einen expliziten Transzendenzbezug ausgedrückt würde, widerspräche das nicht dem Anspruch der EU, eine weltanschaulich neutrale verfasste Staatengemeinschaft zu verkörpern. Im Gegenteil ist die weltanschauliche Neutralität des Staates auch ein christliches Postulat, sie ist aus theologischer Sicht wünschenswert.

Wichtig für diese Auffassung ist Luthers Lehre von den „zwei Regimentern“ oder „zwei Reichen“. Luther unterschiedet zwei Handlungsweisen Gottes in bezug auf diese Welt: mit der „Linken“ will Gott die Welt erhalten und durch die politische Ordnung „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden (zu) sorgen“ (Barmen V). Mit seiner „Rechten“ will Gott die Welt erretten und Menschen ohne jeden Zwang, sondern allein durch die Verkündung des Evangeliums zum Glauben führen. Auf der Rechten zielt alles auf den Glauben, auf der Linken spielt der Glauben zunächst keine Rolle. Aus reformatorischer Sicht ist deshalb Ziel nicht ein christlicher Staat, sondern vielmehr ein Staat, der christlichen Werten Raum gibt und die freie Religionsausübung gewährleistet. Beide Regierungsweisen Gottes werden jedoch dadurch zusammengehalten, dass die Menschen in beiden Bereichen, auch in der Politik, mit ihren Verhalten vor Gott verantwortlich sind.

Die Politik ist kein autonomer, und insofern „gottloser“ Bereich unserer Gesellschaft, als Gottes Gebote, der Zuspruch seiner Vergebung und die Verheißung seines Friedens für Politiker keinerlei Relevanz hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Beispiele für Versagen und Schuld bei den Skandalen im Bereich der Parteienfinanzierung zeigen doch, dass der Buchstabe des Gesetzes nicht alles ist, was Menschen in politischer Verantwortung verlässlich hilft, die moralische Orientierung zu behalten.

Auch die Bewahrung der weltanschaulichen Neutralität des Staates braucht letztlich eine geistig-moralische Voraussetzung, die sich nicht automatisch schon aus dem Postulat solcher Neutralität ergibt. Das Bemühen, den Menschen anderer Überzeugung unbedingt respektieren zu wollen, wurzelt im Wissen und in der Gewissheit, dass auch dieser andere ein von Gott geliebter und respektierter Mensch ist. Diesen Wurzelgrund, diesen „Humus der Humanität“ kann sich weder der säkulare Nationalstaat noch das geeinte Europa selber schaffen.

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Diese theologische und politische Einsicht des Völkerapostels aus den frühen Tagen Europas hat in diesen Monaten und heute an der Schwelle zur Erweiterung der Europäischen Union bleibende Aktualität.

Fußnote:

(1)   Räume der Begegnung, Seite 66.