Die EKD im Kontext der europäischen Einigung

Hermann Barth

Vortrag vor der Synode der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar

Wenn man das mir gestellte Thema in ein Bild fassen will, dann kann man vielleicht folgende Formulierung wählen: Die evangelische Kirche auf der europäischen Bühne. Auf der Bühne gibt es verschiedene Rollen: Hauptrollen, Nebenrollen, Komparsen, Bühnenarbeiter, Souffleur. Welche Rolle traut sich die evangelische Kirche auf der europäischen Bühne zu? In welcher Rolle wird sie von anderen Akteuren wahrgenommen? Oder spielt sie vielleicht gar nicht mit auf der europäischen Bühne und ist auf die Zuschauerplätze verwiesen?

Man nähert sich dem Thema am besten über die Konkretion. Darum werde ich in einem I. Teil meines Vortrags an fünf Fallbeispielen zeigen, was auf der europäischen Bühne für die evangelische Kirche auf dem Spiel steht. Es geht in den Beispielen 1. um den rechtlichen Status der Kirchen in Europa, 2. um die kulturellen Voraussetzungen und Grundlagen der Europäischen Union, 3. um die vom Rat der Europäischen Union erlassene Antidiskriminierungs-Richtlinie, 4. um die Erweiterung der Europäischen Union und 5. um die sogenannte Bioethik-Konvention. In einem II. Teil meines Vortrags werde ich dann einige grundsätzliche Überlegungen zur Rolle der evangelischen Kirche auf der europäischen Bühne anstellen.

I. Fallbeispiele

1. Der rechtliche Status der Kirchen

Der rechtliche Status der Kirchen ist im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, vor allem in Artikel 140 und den dort übernommenen Artikeln der Weimarer Reichsverfassung, präzise bestimmt und auf Dauer gesichert. Den Regelungen des Grundgesetzes stehen entsprechende Regelungen in den Länderverfassungen und in vertraglichen Abmachungen zwischen den Kirchen und den Ländern an der Seite. Die Situation in vielen europäischen Nachbarstaaten ist eine andere. Das brauchte uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht nennenswert zu beunruhigen - jedenfalls so lange nicht, wie das nationale Recht, hier das deutsche Staatskirchenrecht, nicht von supranationalen Normen überlagert und relativiert werden kann. Der Ausbau der Europäischen Union hat eine neue Situation geschaffen. Denn prinzipiell gilt: Es gibt fast keine gemeinschaftsrechtsfesten, also gemeinschaftsrechtsfreien Rechtsmaterien.

Zusammen mit der katholischen Kirche hat darum die evangelische Kirche seit längerer Zeit Anstrengungen unternommen, um im europäischen Vertragswerk eine Klarstellung zum rechtlichen Status der Kirchen zu erreichen und auf diese Weise möglichen Harmonisierungsbestrebungen einen Riegel vorzuschieben. Das Resultat dieser Bemühungen ist die von der Regierungskonferenz in Amsterdam 1997 angenommene und die Schlussakte des Vertrages von Amsterdam ergänzende "Erklärung zum Status der kirchlichen und weltanschaulichen Gemeinschaften".

Sie hat folgenden Wortlaut:

"Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise."

Die Erklärung versteht die erheblichen Unterschiede, die zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten bei der Ausformung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche bestehen, als Ausdruck ihrer nationalen Identität. Der Schutz der nationalen Identität aber ist ausdrücklicher Bestandteil des Vertrags über die Europäische Union. Das ist ein für die politische Entwicklung der Europäischen Union zentraler Grundsatz: Wir wollen nur so viel Vereinheitlichung wie nötig, aber so viel Pluralität wie möglich. Europa soll keine Einheitsfarbe haben, sondern Raum lassen für die Buntheit der nationalen und regionalen Gegebenheiten. Das bezieht sich auch auf die rechtliche Stellung der Kirchen.

Es hat einige Mühe gekostet, die zitierte Erklärung zum Status der Kirchen durchzusetzen, da es von einigen Mitgliedsstaaten, beispielsweise vom laizistisch geprägten Frankreich, erheblichen Widerstand gab. Diese Mitgliedsstaaten haben auch verhindert, dass es statt einer bloßen Erklärung zur Schlussakte zu einem regelrechten Vertragsartikel kam. Ein regelrechter Kirchenartikel wäre natürlich die bessere Lösung gewesen.

Die deutschen Kirchen sahen in der Erklärung zur Schlussakte des Vertrages von Amsterdam nur einen - politisch allerdings bedeutsamen - Zwischenschritt zu einem Artikel im Vertrag selbst. Die derzeit noch andauernden Verhandlungen über einen europäischen Verfassungsvertrag bieten die Gelegenheit, dieses Ziel zu erreichen. Zusammen mit der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (und mit weiteren Partnern aus den europäischen Kirchen) hat sich der Rat der EKD erfolgreich darum bemüht, dass eine entsprechende Bestimmung in den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen wird. Der Europäische Konvent hat sich in diesem Sommer auf einen Artikel verständigt, der folgenden Wortlaut hat:

„(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.

(2) Die Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.

(3) Die Union pflegt in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags dieser Kirchen und Gemeinschaften einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen.“

Mit diesen Formulierungen hebt der Europäische Konvent den Inhalt der bisherigen Erklärung Nr. 11 der Schlussakte des Vertrages von Amsterdam auf die Ebene des europäischen Verfassungsrechts. Als sehr positiv ist außerdem hervorzuheben, dass die europäischen Institutionen im 3. Absatz dieser Bestimmung zu einem Dialog mit den Kirchen formell verpflichtet werden – eine Bestimmung, die es im nationalen Recht nicht gibt, die aber, quasi kraft Gewohnheitsrecht, in Deutschland (im Unterschied zu vielen anderen Mitgliedsstaaten der EU) praktiziert wird.

Der vom Konvent erarbeitete Entwurf liegt nun in den Händen der Regierungskonferenz. Wie das Ergebnis ihrer Arbeit, die spätestens im Mai nächsten Jahres abgeschlossen werden soll, aussehen wird, kann man heute noch nicht vorhersagen. Viel spricht aus heutiger Sicht dafür, dass der zitierte Artikel ungeschmälert die Beratungen überstehen und daher eines Tages Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts werden wird.

2. Die kulturellen Voraussetzungen und Grundlagen der Europäischen Union

Bei den Beratungen über einen europäischen Verfassungsvertrag geht es aus der Sicht der Kirchen jedoch nicht nur darum, die Zuständigkeit für das Verhältnis von Staat und Kirche unmissverständlich den Mitgliedsstaaten zuzuordnen. Mindestens genauso wichtig ist ihnen, dass die Europäische Union sich in Zukunft noch stärker als bisher als gemeinsamer geistig-kultureller Raum versteht, der mehr sein will als ein politischer Zusammenschluss mit vornehmlich kommerziellen Absichten.

Die Europäische Gemeinschaft – als Vorläuferin der heutigen Europäischen Union – war von Anbeginn an eine Wertegemeinschaft.

Davon legt bereits die Präambel des ersten Integrationsvertrages, des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951, ein beredtes Zeugnis ab. In dieser Präambel bekräftigen die vertragschließenden Mitgliedsstaaten ihre Entschlossenheit, „an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für weitere und vertiefte Gemeinschaft unter den Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können“. In Artikel 6 des geltenden Vertrages über die Europäische Union findet man ein ausdrückliches Bekenntnis zu den politischen Grundwerten, die die gemeinsame Grundlage der Verfassungen der Mitgliedsstaaten bilden: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam.“

Eine Vertiefung dieser Wertegemeinschaft versprechen sich die Kirchen aktuell davon, daß die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die am 7. Dezember 2002 in Nizza proklamiert wurde, in den neuen Verfassungstext integriert und dadurch rechtsverbindlich gemacht wird. Der vom Europäischen Konvent verabschiedete Entwurf eines Verfassungsvertrages sieht genau dieses vor.

Aus zeitlichen Gründen ist es mir nicht möglich, auf die inhaltliche Fassung der Grundrechte genauer einzugehen.

Besondere Beachtung verdienen der Artikel zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie diejenigen Artikel, die sich mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten befassen.

Der Artikel zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat im Entwurf des Konvents folgende Fassung:

„(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“

Die von kirchlicher Seite schon im Zuge des Diskussionsprozesses über die Charta der Grundrechte angestrebte Erweiterung um die korporative Komponente der Religionsfreiheit ließ sich nicht durchsetzen. Die Mitgliedsstaaten verständigten sich darauf, über den Wortlaut der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht hinauszugehen, und ließen sich auch nicht durch das Argument beeindrucken, dass die Menschenrechtskommission des Europarates in ihrer Spruchpraxis den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine Berufung auf den einschlägigen Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention aus eigenem Recht durchaus zugebilligt hat.

Bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gehen die Charta der Grundrechte und entsprechend jetzt auch der Entwurf des Konvents deutlich über die Beschränkung des Grundgesetzes auf die politischen und zivilen Abwehrrechte hinaus. Das entspricht einer in den vergangenen Jahrzehnten eingetretenen Weiterentwicklung im Verständnis der Menschenrechte. Man muss dabei allerdings darauf achten, dass die Staaten und Staatengemeinschaften nicht mehr an wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten kodifizieren, als staatliches Handeln auch gewährleisten kann.

Nicht fehlen dürfen jedoch einige Anmerkungen zu der noch andauernden Diskussion über die Präambel des Verfassungsvertrags. Die Kirchen haben sich gegenüber dem Europäischen Konvent mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass die Präambel ausdrücklich Bezug nimmt sowohl auf die in Europa wirksam gewordenen religiösen Prägekräfte als auch auf die Verantwortung vor Gott. Zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas gehört ohne Zweifel die jüdisch-christliche Überlieferung. Diese Feststellung ist nicht allein im Sinne der Würdigung historischer Wirkungen gemeint, sie soll vorrangig zum Ausdruck bringen, dass die Europäische Union als Rechts- und Kulturgemeinschaft auch weiterhin auf diese Prägekräfte angewiesen ist. Bei der Bezugnahme auf Gott geht es nicht darum, die Europäische Union auf den christlichen Gott oder überhaupt auf den Gottesglauben zu verpflichten. Vielmehr soll eine entsprechende Formulierung bewusst halten, dass alle staatliche Macht begrenzt und der Mensch nicht seine eigene letzten Instanz ist.

In beiden Punkten waren die Kirchen (und die in ihrem Sinne argumentierenden Regierungen) bislang nur begrenzt erfolgreich. Zwar werden in allen Sprachfassungen „die religiösen Überlieferungen“ angesprochen, was für die Präambel der Charta der Grundrechte angesichts des Widerstandes vor allem der französischen Regierung noch nicht durchsetzbar war. Stärker als die religiösen Überlieferungen werden jedoch die „humanistischen Überlieferungen Europas“ herausgestellt; eine ausdrückliche Nennung des Christentums als Teil des kulturell-religiösen Erbes fehlt ganz. Auch ein Gottesbezug ist in den Entwurf der Präambel nicht aufgenommen worden.

Der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags liegt jetzt in den Händen der Regierungskonferenz, die, wie erwähnt, ihre Arbeit gerade erst aufgenommen hat. Noch gibt es Chancen, die aus der Sicht der Kirchen bestehenden Defizite der Präambel zu beheben. Man muss dabei allerdings wissen und beachten, wo die Prioritäten liegen. Belgien hat bereits angekündigt, eine weitere Diskussion über einen Gottes- oder Transzendenzbezug zum Anlass zu nehmen, den Artikel über den Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften wieder in Frage zu stellen. Das Interesse der Kirchen muss sich vorrangig darauf richten, das mit diesem Artikel Erreichte auf keinen Fall zu gefährden.
Ein aktueller Vorgang macht im übrigen deutlich, dass mit den in der Präambel allenfalls möglichen unbestimmten Aussagen über Gott und das religiöse Erbe Europas noch wenig an inhaltlicher Klarheit erzielt ist. In seiner ominösen Rede zum 3. Oktober hat Martin Hohmann – in grotesker Vernachlässigung dessen, was in religiösem Eifer und unter Berufung auf Gottes Willen angerichtet worden ist und weiter angerichtet wird – gesagt:

„Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts ... Daher plädiere ich entschieden für eine Rückbesinnung auf unsere religiösen Wurzeln und Bindungen. Nur sie werden ähnliche Katastrophen verhindern, wie sie uns Gottlose bereitet haben ... Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir den Gottesbezug in die Europäische Verfassung aufnehmen.“

3. Die Anti-Diskriminierungs-Richtlinie des Rates der Europäischen Union

Bei der Regierungskonferenz von Amsterdam im Jahr 1997 wurde auch der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft neu gefasst. Artikel 13 beschäftigt sich mit dem Kampf gegen Diskriminierung und hat folgenden Wortlaut: Der Rat der Europäischen Union kann

"geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen."

Diese Formulierung hat bei den deutschen Kirchen, auch in der evangelischen Kirche, erhebliche Beunruhigung ausgelöst. Warum? Wer kann etwas gegen den Kampf zur Überwindung der Diskriminierung haben?

In einer anständigen Gesellschaft darf es keine Diskriminierung geben. Denn die "moralische Gemeinschaft" konstituiert sich - mit den Worten von Jürgen Habermas - "über die negative Idee der Abschaffung von Diskriminierung und Leid sowie die Einbeziehung der - und des - Marginalisierten in eine wechselseitige Rücksichtnahme.

Aber man muss genauer hinsehen. Das Gleichheitsprinzip sagt nicht, dass alles gleich zu behandeln ist, sondern es fordert, dass Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend verschieden behandelt wird. Die Kirchen waren deshalb nicht glücklich darüber, dass der zitierte Artikel 13 des EG-Vertrages "Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung" ohne jede Differenzierung zusammengestellt hat und auf derselben Ebene abhandelt. Jedenfalls beim Religionsmerkmal muss man zwischen zulässigen und unzulässigen Unterscheidungen differenzieren. Machen wir es uns an einigen Beispielen deutlich: Wenn eine Kirchengemeinde eine Erzieherin für einen evangelischen Kindergarten einstellen will, darf sie dann eine Bewerberin zurückweisen, weil sie nicht der Kirche angehört, oder ist das eine unzulässige Diskriminierung? Wenn ein Dekanat einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin für die evangelische Jugendarbeit sucht, darf es dann die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche zur Einstellungsvoraussetzung machen, oder handelt es sich dabei um eine unzulässige Diskriminierung? Wenn ein evangelisches Krankenhaus Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen im ärztlichen Dienst und im Pflegedienst anstellt, darf dabei die Kirchenzugehörigkeit ein Kriterium für die Personalauswahl sein, oder ist dies eine unzulässige Diskriminierung? Man sieht an diesen Beispielen sehr rasch, wie konkret eine Anti-Diskriminierungs-Richtlinie der Europäischen Union in den kirchlichen Alltag hineingreift. In den genannten Fällen geht es nach Überzeugung der deutschen Kirchen nicht um verwerfliche Diskriminierungen, sondern um zulässige, ja um des Auftrages der Kirche willen notwendige Unterscheidungen. Anders sieht es aus etwa bei der Anstellung von technischem Personal in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen.

Der Rat der Europäischen Union hat inzwischen zwei Anti-Diskriminierungs-Richtlinien erlassen, die eine vom 29. Juni 2000 "zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft", die andere vom 27. November 2000 "zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf". Schon der Umstand, dass nicht alle Fragen der Gleichbehandlung in einer einzigen Richtlinie behandelt werden, ist aus kirchlicher Sicht ein Differenzierungsgewinn. In den Vertretern der Bundesregierung hatten die deutschen Kirchen sehr sachkundige und sehr engagierte Fürsprecher ihrer Anliegen. Vor allem mit Unterstützung der britischen und irischen Regierungsvertreter ist es gelungen, eine Textfassung zu erreichen, die es zulässt, dass Religions- und Konfessionsmerkmale auch in Zukunft bei der Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Berücksichtigung finden können.

In Artikel 4 der Richtlinie vom 27. November 2000 heißt es in Absatz 1 generell, daß eine Ungleichbehandlung dann keine Diskriminierung darstellt,

"wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt".

Absatz 2 bezieht sich dann speziell auf berufliche Anforderungen im kirchlichen und weltanschaulichen Bereich und formuliert:

"Die Mitgliedsstaaten können im Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen ... beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, ... wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt."

Nicht leicht zu lesen und erst recht nicht leicht zu hören - ich weiß. Über die Sprache von europäischen Richtlinien wird viel gelästert. In der Sache jedenfalls ist aus kirchlicher Sicht viel erreicht worden. Der Streit darüber, für welche kirchlichen und diakonischen Tätigkeiten im einzelnen die Kirchenzugehörigkeit "eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt", bleibt uns nicht erspart. Aber das hat nicht allein mit dem europäischen Recht zu tun.

Wegen interner Meinungsverschiedenheiten haben sich weder die Bundesregierung noch die sie tragende Koalition bisher über Gesetzentwürfe zur Umsetzung der vorgenannten Richtlinien verständigt. Streit besteht insbesondere darüber, ob man sich bei der Richtlinie vom 29. Juni 2000 „zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ strikt auf die EG-rechtliche Vorgabe beschränken, also nur Maßnahmen gegen Diskriminierungen aufgrund der Rasse und der ethnischen Herkunft vorsehen, oder die Palette aller Diskriminierungsmerkmale des Artikel 13 EG-Vertrag, also auch Regelungen zum Merkmal Religion und Weltanschauung, zur Anwendung bringen soll. In der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen gibt es starke Kräfte, die für den breiten Ansatz plädieren, während sich die evangelische und die katholische Kirche dafür einsetzen, dass man sich strikt auf die Merkmale „Rasse und ethnische Herkunft“ beschränkt.

4. Die Erweiterung der Europäischen Union

Die Geschichte der Europäischen Union ist eine Geschichte der Erweiterung. Aus der ursprünglichen Sechsergemeinschaft ist mittlerweile eine Gemeinschaft von 15 Staaten geworden. Im nächsten Jahr werden es 25 Mitglieder sein. Die europäischen Kirchen haben den Gedanken des größeren Europa, des ganzen Europa stets gefördert. So waren auch ihre eigenen Strukturen, die Gründung der Konferenz Europäischer Kirchen im Jahr 1959 und der Leutenberger Kirchengemeinschaft im Jahre 1973, von Anfang an gesamteuropäisch angelegt. Alle Argumente, die für das politische Projekt Europa geltend gemacht werden können – das friedenspolitische, das ökonomische und das kulturelle –, drängen darauf, dass dabei nicht ein exklusiver Club entsteht, sondern die Einheit des gesamten Kontinents in den Blick genommen und verwirklicht wird. Aber je erfolgreicher sich der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union entwickelt, desto bedrängender stellen sich bestimmte Fragen:

Wie weit kann und soll die Erweiterung gehen? Insbesondere: Soll die Europäische Union auch die Aufnahme der Türkei anstreben?

Gibt es einen Punkt, von dem an die Erweiterung zu einer Schwächung oder gar Gefährdung der Europäischen Union führt?

Wie verhalten sich Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union zueinander? Und was ist heute stärker dran: Erweiterung oder Vertiefung?

Ich kann diese Fragen hier nur andeuten. Vor zwei Wochen sind sie von dem Berliner Historiker Heinrich August Winkler in einem großen Zeitungsbeitrag eingehend erörtert worden . Ich beschränke mich jetzt darauf, seine prononcierten und provozierenden Thesen wiederzugeben:

„Ohne überzeugte Europäer kein Europa, ohne ein europäisches Wir-Gefühl keine überzeugten Europäer, ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte kein europäisches Wir-Gefühl: Die EU muss der Vertiefung den Vorrang geben vor der Erweiterung, erst recht vor der Erweiterung um die Türkei.“

5. Die sogenannte Bioethik-Konvention

Am 4. April 1997 ist das "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarates" zur Unterzeichnung aufgelegt worden. Dieses Übereinkommen, das lange unter dem Stichwort "Bioethik-Konvention" lief, ist zwischen 1994 und 1998 in der deutschen Öffentlichkeit und nicht zuletzt in Kirche und Diakonie heftig diskutiert worden. Bis heute steht eine Entscheidung des Bundestages aus, ob die Bundesrepublik Deutschland dieses Übereinkommen unterzeichnet.

Es sind vor allem drei Punkte, an denen sich in Deutschland Kontroversen entzündet haben:

- Das Übereinkommen bleibt an einer Reihe von Punkten hinter dem in Deutschland geltenden Schutzniveau zurück. Es enthält in Artikel 27 allerdings auch die Feststellung: "Dieses Übereinkommen darf nicht so ausgelegt werden, als beschränke oder beeinträchtige es die Möglichkeit einer Vertragspartei, ... einen über dieses Übereinkommen hinausgehenden Schutz zu gewähren." Dennoch wird kritisch gefragt, ob mit einer Unterzeichnung und Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland nicht für das bisherige deutsche Schutzniveau eine Nivellierung nach unten drohe. Der Rat der EKD hat bei der Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages auf diese Gefahr hingewiesen und vor ihr gewarnt. Aber er sieht darin keinen Grund, von der Unterzeichnung abzuraten - dies um so mehr, als der beschriebenen Gefahr die Chance gegenübersteht, wie bei der Schaffung anderer internationaler Konventionen so auch mit diesem Übereinkommen zur Anhebung der Mindeststandards beizutragen.

- Die Frage von Nivellierung und Anhebung der Mindeststandards wird besonders akut im Blick auf die Regelung der Embryonenforschung. Das Übereinkommen lässt in Artikel 18 Absatz 1 die "Forschung an Embryonen in vitro" prinzipiell zu. Das steht im Gegensatz zu den Regelungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes von 1990. Die Gegner einer Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens befürchten, dass nach seinem Inkrafttreten in Deutschland der Druck noch größer wird, das hohe deutsche Schutzniveau in Richtung auf den Mindeststandard zu reduzieren. Auch hier gilt aus der Sicht des Rates der EKD: Der warnende Hinweis auf die Gefahr einer Nivellierung nach unten ist bitter nötig. Aber die befürchtete "Sogwirkung" besteht mit und ohne Übereinkommen. Deutschland hat ihr bisher widerstanden. Es kommt - gerade in der gegenwärtigen Debatte über Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik, ganz aktuell: angesichts des in der vergangenen Woche vom Europäischen Parlament gefassten Beschlusses zur finanziellen Förderung der Stammzellforschung durch die EU - auf die Stärkung des politischen Willens an, ihr auch weiterhin zu widerstehen. Im übrigen sollte nicht übersehen werden, dass das Übereinkommen in Artikel 18 Absatz 2 die "Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken" ausdrücklich verbietet. Ich wäre - angesichts der derzeitigen bioethischen Debatte - sehr froh, das Übereinkommen wäre schon in Kraft und würde eine internationale Übereinstimmung über das Verbot der Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken dokumentieren.

Die Leidenschaftlichkeit des Widerspruchs gegen das Übereinkommen ist vor allem mit dem dritten Streitpunkt verbunden, der fremdnützigen Forschung an einwilligungsunfähigen Personen. Sie wird nur unter stark eingrenzenden und präzisierenden Kautelen zugelassen. Aber es ist unübersehbar, dass auch so der ethische Grundsatz tangiert wird, wonach das menschliche Leben niemals bloß als Material und Mittel zu anderen Zwecken genutzt werden darf. Es komme - so die Gegner einer Unterzeichnung des Übereinkommens - darauf an, den Anfängen zu wehren. Das Prinzip der Selbstbestimmung dürfe unter keinen Umständen - wie hochrangig die Forschungsziele auch sein mögen - relativiert werden. Das bedingungslose Beharren auf dem Prinzip der Selbstbestimmung hätte allerdings den Preis, dass ein bestimmter Kreis von Patienten von der medizinischen Erforschung ihrer Krankheit ausgeschlossen bliebe. Bei Kindern weicht man aus wohlerwogenen Gründen schon heute von dem Prinzip ab. Der Rat der EKD ist in seiner Stellungnahme gegenüber dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages dabei stehengeblieben, über die im Widerstreit stehenden ethischen Argumentationen Rechenschaft zu legen und sie beide als ethisch vertretbar zu qualifizieren. Das hat nichts zu tun mit einem unentschlossenen Jein, sondern lässt im Geist evangelischer Freiheit Raum für die gewissenhafte persönliche Urteilsbildung.

II. Grundsätzliche Gesichtspunkte

Die Fallbeispiele haben gezeigt, wie viel auf der europäischen Bühne für Politik und Rechtsprechung in Deutschland, aber auch für die deutschen Kirchen auf dem Spiel steht. Sie haben zugleich erkennen lassen, wie kompliziert die Sachverhalte und wie heikel die ethischen Abwägungen sind und wie viel von der Zusammenarbeit der verschiedenen kirchlichen Institutionen und der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Politik abhängt. Im folgenden wende ich mich einigen grundsätzlichen Gesichtspunkten zu, die die Summe aus den bisher auf der europäischen Bühne gemachten Erfahrungen ziehen und beim weiteren kirchlichen Engagement auf dieser Bühne Beachtung verdienen. Vier solcher Gesichtspunkte trage ich vor.

1. Das politische Europa beschränkt sich nicht auf eine einzige Bühne. Die Kirchen müssen mehrere Bühnen im Auge haben und auf ihnen agieren.

Ich habe die Fallbeispiele bewusst so ausgewählt, dass das meiste Licht auf die Bühne der Europäischen Union fällt. Der Grad der Integration in dieser Gemeinschaft von bald 25 und voraussichtlich wenig später 27 europäischen Staaten ist so weit vorangeschritten, dass nicht nur durch das sogenannte Primärrecht der einzelnen Verträge, sondern erst recht durch das sogenannte Sekundärrecht in Gestalt von Richtlinien und Verordnungen die unterschiedlichsten Rechtsgebiete der Mitgliedsstaaten vom Recht der Europäischen Union und von der darauf beruhenden Rechtsprechung tangiert werden. Zwar ist die Europäische Union bisher in politischer und rechtlicher Hinsicht nicht einfach an die Stelle ihrer Mitgliedsstaaten getreten, und vermutlich wird es zu dieser Entwicklung in der für uns überschaubaren Zeit auch nicht kommen. Aber die Souveränität der Mitgliedsstaaten besteht nur noch eingeschränkt fort. Dies ist ja auch der Grund, warum mit Recht immer lauter verlangt wird, für die Europäische Union zu einer wirklichen Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative zu kommen. Die Kirchen müssen sich jedenfalls darauf einstellen: Viele Dinge werden heute nicht mehr in Berlin, sondern in Brüssel entschieden. Mit einer Formulierung aus der Umweltpolitik könnte man sagen: Eine end of the pipe-Strategie ist unzureichend. Wer sich erst dann um Entwicklungen kümmert, wenn es um die Umsetzung von EU-Vorgaben in nationales Recht geht, der kommt zu spät, und den bestraft das Leben. Die Kirchen müssen versuchen, schon dann ihre Gründe vorzutragen und ihren Einfluß geltend zu machen, wenn in Brüssel Entwürfe von Vertragstexten und Richtlinien kursieren.

Eines der Fallbeispiele, die sogenannte Bioethik-Konvention, bezog sich aber nicht auf die Europäische Union, sondern auf den Europarat. Im Gegensatz zur Europäischen Union ist er keine supranationale Organisation, sondern völkerrechtlich strukturiert. Auf ihn wurden keine Hoheitsrechte übertragen. Er hat keine Befugnis zur Rechtssetzung, arbeitet aber Konventionen aus, die den Mitgliedsstaaten zur Annahme empfohlen werden und als völkerrechtliche Verträge zu ihrem Inkrafttreten der Unterzeichnung und Ratifikation bedürfen. Bisher gibt es fast 180 solcher Konventionen. Dem Europarat gehören heute nahezu alle europäischen Staaten, nach dem Stand von 2002 insgesamt 44, als Mitgliedsstaaten an.

Seine Organe, mit Sitz in Straßburg, sind das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Unter den vom Europarat initiierten Abkommen sind besonders bedeutsam die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 samt ihren späteren Zusatzprotokollen und die Europäische Sozialcharta von 1961. Die Europäische Menschenrechtskommission garantiert in einem Katalog die Grundrechte und Grundfreiheiten und ermöglicht es nicht nur den Vertragsstaaten, sondern auch Individuen, diese Rechte in einem internationalen Verfahren bei einem internationalen Organ, nämlich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, auch gegenüber dem eigenen Staat geltend zu machen.

Nicht übersehen werden sollte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 1995 die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) abgelöst hat. Der OSZE gehören sämtliche europäischen Staaten an. Nach dem Stand von 2002 sind dies 55. Von herausragender Bedeutung war in der Vergangenheit, noch zu KSZE-Zeiten, die Schlussakte von Helsinki 1975, die, ohne selbst ein völkerrechtlicher Vertrag zu sein, erhebliche politische Bindungswirkungen entfaltet und die Ost-West-Beziehungen nachhaltig beeinflusst hat. Seit einigen Jahren übernimmt die OSZE auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien wichtige friedenspolitische Aufgaben. Vermutlich wird die OSZE in der Zukunft von wachsender friedenspolitischer Bedeutung sein. Von mehreren Seiten, auch in dem vor zwei Jahren unter dem Titel "Friedensethik in der Bewährung" veröffentlichten neuen friedensethischen Beitrag des Rates der EKD, wird empfohlen, die regionalen Organisationen der Vereinten Nationen zu stärken.

2. Die Kirchen sind bisher nur beschränkt europatauglich. Sie sind gegenwärtig weder ein klar erkennbarer noch ein gut organisierter Akteur auf der europäischen Bühne.

Die Kirchen verfügen in Europa durchaus über einige gemeinsame Strukturen und Organisationen. Alle diese vorhandenen Strukturen und Organisationen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirchen im Blick auf die Handlungsmöglichkeiten, über die sie in Europa verfügen, weit hinter Politik, Wirtschaft und Recht zurückhängen. Was im politischen Bereich als Souveränitätsverzicht der Staaten diskutiert wird, steht im kirchlichen Raum auch nicht andeutungsweise zur Debatte.

Wer vergleicht, welche finanziellen Mittel die Kirchen in ihrem eigenen Bereich ausgeben, und welche finanziellen Mittel an die gemeinsamen Strukturen und Organisationen in Europa gehen, wird ein eklatantes Missverhältnis erkennen. Ohne Zweifel muss die Kirche vor Ort der Schwerpunkt des kirchlichen Handelns und des Einsatzes finanzieller Mittel bleiben. Aber es ist auch deutlich, dass, wenn sich die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen ändern, die Kirchen im Blick auf ihre Arbeit nicht in den Strukturen der Vergangenheit verharren dürfen.

Ein Überblick über die vorhandenen europäischen Strukturen und Organisationen der Kirchen macht rasch deutlich, was mit der Aussage gemeint ist, die Kirchen seien auf der europäischen Bühne weder ein klar erkennbarer noch ein gut organisierter Akteur:

- Die auf der römisch-katholischen und der nicht-römisch-katholischen Seite entwickelten Strukturen stehen unverbunden nebeneinander. Das ist auf der nationalen Ebene nicht anders, aber dort - jedenfalls kann man das für die deutschen Verhältnisse sagen - gibt es viel eingespieltere und darum wirksamere Formen der informellen Absprache.

Die römisch-katholische Kirche ist auf der europäischen Bühne mehrfach vertreten. Der Heilige Stuhl ist Völkerrechtsubjekt und darum selbst Mitglied der OSZE. Beim Europarat ist der Heilige Stuhl durch einen Gesandten mit der Stellung eines Ständigen Beobachters vertreten. Seit 1970 unterhält der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, zunächst in der Rechtsform einer Apostolischen Nuntiatur, seit 1997 durch einen Nuntius. Zusätzlich zu den diplomatischen Vertretungen des Heiligen Stuhls bei den einzelnen europäischen Institutionen hat die römisch-katholische Kirche zwei Organisationen geschaffen, die Lobbyarbeit auf der jeweiligen europäischen Handlungsebene betreiben können und sollen. Dies ist zum einen die 1971 gegründete CCEE (Consilium Conferentiarum Episcopalium Europae, also: Rat der Bischofskonferenzen Europas), die gesamteuropäische Belange verfolgt. Es ist zum anderen die ComECE (Commissio Episcopatuum Communitatis Europae, also: Kommission der Bischofsämter im Bereich der Europäischen Gemeinschaft), die unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden, Bischof Dr. Josef Homeyer aus Hildesheim, sowohl in Brüssel als auch in Straßburg bei der Europäischen Union Büros unterhält.

Die älteste europäische Struktur der nicht-römisch-katholischen Kirchen ist die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Sie ist 1959 gegründet worden und hat gegenwärtig 126 Mitgliedskirchen aus fast allen europäischen Ländern. Ihr Sitz ist weiterhin Genf, obwohl die europäische Musik im wesentlichen in Brüssel und Straßburg spielt. Sie ist praktisch eine regionale ökumenische Konferenz der reformatorischen, anglikanischen und orthodoxen Kirchen Europas.

Ursprünglich hatte die KEK ihre besondere Aufgabe darin, in einem ideologisch und machtpolitisch gespaltenen Europa Brücken über die Grenzen hinweg zu bauen und friedenstiftende Maßnahmen zu fördern. Deshalb hat die KEK in ihrer Studienarbeit auch den KSZE-Prozess intensiv begleitet. Nach dem Fortfall des Ost-West-Gegensatzes sind die Menschenrechtsarbeit, die Begleitung der Umsetzung der OSZE-Beschlüsse sowie die Unterstützung der Mitgliedskirchen in Mittel- und Osteuropa in den gesellschaftspolitischen Umbrüchen nach 1989/90 in den Vordergrund getreten. Ein gewichtiger Beitrag zur Stärkung und Vertiefung des ökumenischen Gedankens ist die zusammen mit der CCEE vorbereitete Charta Oecumenica. Auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin ist sie von den deutschen Kirchen feierlich unterzeichnet worden.

Organisatorisch in die KEK eingebunden ist die Arbeit der Kommission für Kirche und Gesellschaft.

Ihre Geschichte lässt sich bis ins Jahr 1964 zurückverfolgen. Damals wurden sowohl das "Ökumenische Zentrum von Kirche und Gesellschaft" als auch der "Beratende Ausschuss von Kirchen für die europäischen Institutionen" ins Leben gerufen, das erstere eine Gründung von EG-Bediensteten, Pfarrern und Journalisten, um Kontakte und Gespräche über europäische Fragen zu ermöglichen, das letztere eine Einrichtung evangelischer Kirchen aus dem Bereich der damaligen Europäischen Gemeinschaften und der Kirche von England. 1978 wurden beide Organisationen zur "Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft in der Europäischen Gemeinschaft" zusammengeführt. Das Jahr 1982 brachte eine Erweiterung des Mandats dieser Kommission auf Fragen aus dem Bereich des Europarates. Deshalb wurde der Name in "Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft" (auf Englisch: European Ecumenical Commission for Church and Society, abgekürzt: EECCS, gesprochen: iex) geändert. Das Abkürzungswesen und -unwesen treibt - es tut mir leid - gerade auch auf europäischer Ebene schreckliche Blüten und trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass das Gewirr von kleinen und großen Organisationen undurchdringlich und nur noch für Insider zugänglich erscheint. Nach früheren Rivalitäten zwischen der EECCS und der KEK ist seit dem 1. Januar 1999 die EECCS durch Umwandlung in die Kommission für Kirche und Gesellschaft organisatorisch in die Arbeit der KEK eingebunden. Dadurch ist auch ihr Auftrag erweitert worden.

Der Auftrag der Kommission umfasst neben der Verantwortung für Anliegen der Kirchen innerhalb der Europäischen Union auch gesamteuropäische Themen des sogenannten konziliaren Prozesses, Menschenrechtsfragen einschließlich des Minderheitenschutzes, die Begleitung der weiteren europäischen Integration, die Sicherheitspolitik und anderes mehr. Es ist schwer, diesem Aufgabenkatalog zu genügen, insbesondere angesichts der schwierigen Abstimmungsvorgänge mit den orthodoxen Kirchen.

Die Kommission besteht aus 24 Personen, die - bei Berücksichtigung von fachlichen Kompetenzen - unter regionalen und konfessionellen Aspekten vom Zentralausschuss der KEK berufen werden. Die jährliche Generalversammlung der Kommission wählt einen aus sechs Personen bestehenden Exekutivausschuss, der die Arbeit des Büros der Kommission in Brüssel steuert. Das Büro ist mit vier Stabsmitgliedern ausgestattet, die für die laufenden Geschäfte zuständig sind. Dazu treten die beiden Referenten der Außenstelle des Bevollmächtigen des Rates der EKD in Brüssel als assoziierte Stabsmitglieder.
Ein großer Teil der Arbeit wird in den acht Ausschüssen erledigt, die für bestimmte Aufgabengebiete gebildet worden sind und in Abständen zusammentreten. Gegenwärtig bestehen Ausschüsse für folgende Sachgebiete: Europäischer Integrationsprozess, Friedens- und Sicherheitspolitik, Nord-Süd-Fragen, Fragen der Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik, Menschenrechte und Religionsfreiheit, Bioethik, "Eine Seele für Europa" und Gesetzgebung und Rechtsprechung der EU. Die Ausschüsse tagen in der Regel zweimal in 18 Monaten. Schon aus diesem Arbeitsrhythmus ergibt sich, dass eine ständige, zeitnahe kritische Begleitung der politischen Vorgänge nicht möglich ist.

In der Leuenberger Kirchengemeinschaft - die seit diesem Herbst „Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa“ heißt - sind über 100 Kirchen, insbesondere lutherischer, reformierter und unierter Herkunft, zusammengeschlossen. Auf der Grundlage der von ihnen unterzeichneten "Konkordie reformatorischer  Kirchen in Europa" gewähren sie einander Kirchengemeinschaft und damit Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Zur Verwirklichung ihrer Kirchengemeinschaft wollen die Signatarkirchen ihr Zeugnis und ihren Dienst gemeinsam ausrichten und sich um die Stärkung und Vertiefung der gewonnenen Gemeinschaft bemühen. Die gemeinsame Ausrichtung von Zeugnis und Dienst soll dazu beitragen, sich im Gegenüber zu den Herausforderungen der Gegenwart auf möglichst übereinstimmende Konsequenzen aus dem Evangelium zu verständigen.

Zur Verwirklichung dieser Ziele, wie sie in der Konkordie niedergelegt sind, hat die 5. Vollversammlung im Juni 2001 in Belfast beschlossen, "die theologischen und ethischen Aspekte und die humanitären Konsequenzen politischer Entscheidungen aus der Sicht des Evangeliums gemeinsam zu erörtern, in grundlegenden Fragen die protestantischen Stimmen zu bündeln und sie in der europäischen Öffentlichkeit zur Sprache und zu Gehör zu bringen". Dadurch soll die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) "in die Lage versetzt werden, profilierter und zeitnaher als bisher in aktuellen wichtigen Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Ökumene ein deutliches evangelisches Zeugnis abzulegen und insbesondere die Präsenz der evangelischen Kirchen auf europäischer Ebene auszubauen. Hierbei sind auch die bereits vorhandenen Strukturen und Kooperationen, insbesondere mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), zu nutzen und zu vertiefen." Das klingt gut, das Problem ist erkannt und benannt. Aber werden die Kräfte reichen, um das Problem einer mangelhaften und unkoordinierten evangelischen Präsenz auf der europäischen Bühne tatsächlich zu lösen? Eine Reihe von kirchlichen Vertretern, vor allem von den am Rhein gelegenen Kirchen, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und den Niederlanden, tritt dafür ein, auf der Grundlage der GEKE eine europäische evangelische Synode zu bilden. Dadurch könne die Stimme der evangelischen Kirchen in Europa deutlicher hörbar gemacht werden. Aber was kann eine Synode im politischen Tagesgeschäft, in dem es nicht zuletzt auf viele informelle Gespräche mit Vertretern der politischen Exekutive und Administration ankommt, ausrichten? Bei der Vollversammlung in Belfast sind keine Absichten erkennbar geworden, eine eigene Interessenvertretung in Brüssel zu errichten; vielmehr sollen vorhandene Strukturen und Kooperationen genutzt werden. So wird es darauf hinauslaufen, dass die GEKE für die im Abschlußbericht von Belfast genannten aktuellen Themen, nämlich Bioethik, Friedensethik, Situation ethnischer und religiöser Minderheiten sowie Bildung und Ausbildung, Projektgruppen mit Fachleuten aus Kirche, Politik und Gesellschaft bilden wird. Deren Arbeitsergebnisse können dann von den zuständigen Organen der GEKE entgegengenommen, geprüft und über vorhandene Einrichtungen wie die Kommission für Kirche und Gesellschaft auf die europäische Bühne gebracht werden.

Zieht man eine Summe, so kommt man an der Feststellung nicht vorbei, dass die Kirchen Europas weder in ihrer Gesamtheit noch in ihrem evangelischen Anteil bisher ein koordiniertes, kraftvolles Auftreten auf der europäischen Bühne zustandegebracht haben. Das scheitert nicht nur an den bekannten ekklesiologischen Gräben zwischen der römisch-katholischen Kirche, den orthodoxen Kirchen und dem reformatorischen Flügel. Es hat bei den nicht-römisch-katholischen Kirchen auch viel mit ihrer - vor allem historisch, aber nicht nur historisch bedingten - Selbstdefinition über ein regionales oder nationales Territorium zu tun. Die orthodoxen und die reformatorischen Kirchen kommen nur schwer über die Kleinstaaterei hinaus. Wir erleben das seit 50 Jahren schmerzlich in der Gemeinschaft der Gliedkirchen der EKD. Wie viel mehr gilt es für den europäischen Raum! Nicht zu übersehen sind schließlich tiefe Unterschiede in der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat und in den Grundkoordinaten der politischen Ethik. Die reformatorischen und die orthodoxen Kirchen sind hier nach wie vor durch Welten getrennt - diese Aussage beschreibt nicht einfach einen Zustand, sondern vielmehr eine dringliche Aufgabe: Wir müssen den orthodoxen Kirchen helfen, einen Transformationsprozess zu durchlaufen, für den die Kirchen des Abendlandes Jahrhunderte Zeit hatten! Aber auch unter den reformatorischen Kirchen Europas herrscht in der politischen Ethik und in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche alles andere als Einmütigkeit: Man denke nur an das Nebeneinander der etablierten Großkirchen, etwa in Deutschland, England oder Finnland, und der Freikirchen. Schließlich muss man auch die Frage stellen, ob die nicht-römisch-katholischen Kirchen Europas – ganz abgesehen vom Gesichtspunkt der Effektivität – die finanziellen und personellen Ressourcen haben, um auf der europäischen Bühne drei verschiedene Rollen zu besetzen: die KEK, die Kommission für Kirche und Gesellschaft und die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa. Es könnte die Zeit kommen, in der man eine Wahl treffen muß: in den vorhandenen Strukturen weitermachen und die abnehmenden Mittel im bisherigen Maßstab auf mehrere Institutionen verteilen oder aber Prioritäten setzen und die Ressourcen bündeln.

3. Die EKD und die Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen verfügt in der Dienststelle Brüssel des Bevollmächtigten des Rates der EKD über eine kraftvolle Vertretung ihrer institutionellen Interessen und ihrer ethischen Positionen auf der europäischen Bühne. Wenigstens für die EKD, die Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen und die gesamtkirchlichen Werke muss es gelingen, die Aktivitäten auf der europäischen Bühne sorgfältig aufeinander abzustimmen und die vorhandenen Kräfte zu bündeln.

Eine Dienststelle der EKD in Brüssel gibt es seit 1990. Davor wurden auch die Belange der EKD auf der europäischen Bühne von der seinerzeitigen „Europäischen Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft“ (EECCS) wahrgenommen. Jedoch verstärkte sich mehr und mehr der Eindruck, dass die spezifischen Gegebenheiten der deutschen Situation nicht genügend berücksichtigt und die kritischen Einwände nicht energisch genug vorgetragen wurden. So entschloss sich die EKD, in Brüssel eine eigene Stelle zu errichten. Sie ist dem Bevollmächtigten des Rates der EKD, früher in Bonn, jetzt in Berlin, zugewiesen, der darum seither mit seiner vollständigen Bezeichnung "Der Bevollmächtigte des Rates bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union" heißt.

Leiterin der Brüsseler Dienststelle ist derzeit Frau Oberkirchenrätin Sabine von Zanthier. Sie hat wie ihre Vorgängerin Oberkirchenrätin Heidrun Tempel und ihr Vorvorgänger Oberkirchenrat Hans-Joachim Kiderlen eine juristische Ausbildung. Insgesamt arbeiten in der Brüsseler Dienststelle vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Seit diesem Jahr gibt es neben der Leiterin noch eine weitere Stelle des höheren Dienstes, die gleichfalls mit einer Juristin besetzt wurde; den Juristen traut man offenbar für die dort zu leistende Arbeit mehr zu als den Theologen!

Die Arbeit der Brüsseler Dienststelle wird in den Leitungsgremien der EKD ebenso wie in den Gliedkirchen außerordentlich geschätzt. Sie hat mehrere Funktionen: Zunächst ist sie eine Art Frühwarnsystem, um die evangelische Kirche auf Entwicklungen aufmerksam zu machen, die früher oder später institutionelle kirchliche Interessen in Deutschland tangieren oder ethisch relevante Fragestellungen aufwerfen könnten; die Brüsseler Dienststelle weist auch frühzeitig hin auf neu aufgelegte Förderprogramme, in deren Rahmen sich auch kirchliche Einrichtungen um finanzielle Zuwendungen bewerben können. Sodann bringt sie kirchliche Gesichtspunkte in die Beratung politischer Entscheidungen und in die Vorbereitung neuer Rechtssetzung ein; das geschieht nicht nur bei formellen Anhörungen; wie wir das genauso vom politischen Geschäft in Deutschland kennen, sind das persönliche Gespräch, die vertrauliche Information und der über lange Zeit erworbene Vertrauensvorschuss von ausschlaggebender Bedeutung. Das alles kann man unter der Rubrik "Lobbyarbeit" einordnen; das ist nichts Unfeines und nichts Anrüchiges.

Über die Lobbyarbeit hinaus bietet die Brüsseler Dienststelle thematische Veranstaltungen und Gesprächsrunden an, mit denen sie aktuelle sozialethische Fragen ins Licht des christlichen Verständnisses der Welt und des Menschen rückt.

Die Brüsseler Dienststelle ist für die EKD und ihre Gliedkirchen unersetzlich, weil nur auf diesem Wege - in enger Abstimmung mit der Europaabteilung des Kirchenamtes der EKD, der Arbeitsgemeinschaft Europa-Fragen der EKD, den Europareferenten/innen der Gliedkirchen sowie, soweit vorhanden, den Europaausschüssen der Synoden - die Interessen und sachlichen Positionen der deutschen Kirchen ausreichend wahrgenommen und vertreten werden. Wir können das nicht den gemeinsamen Einrichtungen der europäischen Kirchen überlassen oder anvertrauen, wir müssen das schon selbst machen. Aber - das muss man nun sofort hinzufügen - wir dürfen das nicht im Alleingang und schon gar nicht unter Übergehung der europäischen Partnerkirchen tun. Darum ist es unerlässlich, dass die Brüsseler Dienststelle der EKD ihre Aktivitäten sorgfältig mit der Kommission für Kirche und Gesellschaft und einzelnen anderen europäischen Kirchen, die staatskirchenrechtlich in einer ähnlichen Situation wie die EKD sind - dazu zählt vor allem die Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands -, abstimmt.

Angesichts der Fülle der Aufgaben, die sich auf der europäischen Bühne stellen, und angesichts der Tragweite, die die politischen und rechtlichen Entwicklungen in Europa für die evangelischen Kirchen in Deutschland haben, ist die Brüsseler Dienststelle der EKD eigentlich zu klein. Aber ich will hier kein Lamento anstimmen. Wir kennen das Problem aus den kirchlichen Haushaltsberatungen, sei es auf landeskirchlicher, sei es auf EKD-Ebene, zur Genüge: Nahezu jeder kirchliche Arbeitsbereich hält sich für unterausgestattet und für zu gering dotiert, und einige haben sogar Recht mit ihrer Klage. Um so wichtiger ist es allerdings, Doppelstrukturen zu vermeiden und die in einem bestimmten Arbeitsfeld verfügbaren Kräfte zu bündeln. Dieser Grundsatz hat auch für das europäische Engagement der evangelischen Kirchen in Deutschland konkrete Bedeutung.

Wie in der Bundeshauptstadt so unterhält das Diakonische Werk der EKD auch in Brüssel eine eigene Dienststelle. Sicher muss man berücksichtigen, dass es die Diakonie auf dem sich bildenden Markt sozialer Dienstleistungen mit einer Reihe sehr spezifischer Probleme zu tun hat und die diakonischen Strukturen nicht ohne weiteres mit den kirchlichen identisch sind - obgleich es sich durchaus lohnen würde, den letzteren Aspekt gesondert zu problematisieren. Was ich aber nicht verstehen kann, ist der Umstand, dass die Dienststellen des Diakonischen Werkes und des Bevollmächtigten des Rates - ob in Berlin oder in Brüssel - nicht eine Bürogemeinschaft bilden und keine gemeinsame Spitze haben. Gerade im Servicebereich und beim Personal mit juristischer Qualifikation ließen sich sicher noch erhebliche Synergieeffekte erzielen. Was beim Diakonischen Werk der EKD bereits vollzogen ist, ist bei der einen oder anderen der großen Gliedkirchen der EKD jedenfalls immer wieder eine starke Versuchung: sich nämlich mit einer eigenen personellen Präsenz in Brüssel zu etablieren. Ich kann nur hoffen, dass in Kirche und Diakonie die Einsicht Platz greift, dass wir unsere ohnehin bescheidenen Kräfte nicht ohne zwingende Notwendigkeit aufsplittern dürfen.

4. Die evangelische Kirche ist auf der europäischen Bühne durch evangelische Laienchristen nicht weniger vertreten als durch kirchliche Einrichtungen und kirchliche Repräsentanten.

Für das evangelische Kirchenverständnis ist es charakteristisch, dass die Kirche nicht mit den Bischöfen oder sonstigen kirchlichen Amtsträgern, überhaupt nicht mit den rechtlich geordneten kirchlichen Institutionen identifiziert wird, sondern dass, wie es im Augsburger Bekenntnis heißt, "die Versammlung aller Gläubigen" die Kirche ist. Ich habe bei meinen bisherigen Darlegungen zur Präsenz der evangelischen Kirche auf der europäischen Bühne nahezu ausschließlich von ihren rechtlich geordneten Strukturen, ihren Einrichtungen und ihren amtlichen Repräsentanten gesprochen. Aber das ist nicht alles, was über diese Präsenz gesagt werden kann und muss. Denn sie wird auch durch diejenigen evangelischen Frauen und Männer gewährleistet, die als Politiker, Juristen, Beamte oder Wissenschaftler in Brüssel, Straßburg oder anderen Orten tätig sind.

Was ich meine, kann ich am eindruckvollsten exemplifizieren, wenn ich - jetzt auf der Bühne der deutschen Politik - auf die herausragenden Protestanten im Amt des Bundespräsidenten hinweise: Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker und Johannes Rau. Sie hatten alle drei vor ihrer Wahl zum Bundespräsidenten auch kirchliche Ämter oder Funktionen inne. Sie gaben diese mit ihrer Wahl auf, blieben aber nichtsdestoweniger - oder um so mehr - Repräsentanten der evangelischen Sache.

Das römisch-katholische Kirchenverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass das kirchliche Amt den Alleinvertretungsanspruch für die Repräsentanz der römisch-katholischen Sache erhebt. Was katholisch ist, bestimmt der Papst in der Gemeinschaft der Bischöfe. So ist es unter uns Evangelischen nicht, so sollte es jedenfalls nicht sein - es gibt allerdings mancherlei Versuchungen und Versuchlichkeiten in unseren Reihen.

Damit die Stimme der evangelischen Laienchristen - auf der deutschen ebenso wie auf der europäischen Bühne - hörbar und wirksam wird, bedarf es auf der Seite dieser Laienchristen einer ausgeprägten Bereitschaft, sich als evangelische Christen erkennbar zu machen – und entsprechend auf der Seite der Kirche der Bereitschaft, die Rolle der Laienchristen wichtig zu nehmen, ihnen den Rücken zu stärken und sie zu unterstützen. Angesichts der beschriebenen Differenz zwischen dem evangelischen und dem römisch-katholischen Kirchenverständnis ist es immer wieder schmerzlich, festzustellen, dass katholische Laienchristen, die eigentlich in der Theorie gar keine autoritative und authentische Stimme des Katholizismus sind, viel deutlicher als die evangelischen Laienchristen ihre kirchliche Identität sichtbar machen. Bei den evangelischen Laienchristen hat man nicht selten das Gefühl, dass sie sich entweder genieren oder sich gar dessen schämen, sich als Mitglieder der evangelischen Kirche zu "outen". Aber je weniger selbstverständlich Kirche und Christsein in unseren säkularen westlichen Gesellschaften sind, um so wichtiger wird es, dass sich die Laienchristen nicht verstecken, sondern überzeugende, gewinnende und darum einladende Vertreter und Vertreterinnen ihrer Kirche sind.

Ich habe zu Beginn meines Vortrags gefragt, welche Rolle die evangelische Kirche auf der europäischen Bühne spielt, welche Rolle sie sich selbst zutraut und welche Rolle ihr von anderen Akteuren zuerkannt wird. Man kann aber noch eine ganz andere Frage stellen: Welches Stück wird denn auf der europäischen Bühne gespielt, und wer hat es geschrieben? Es geht doch auch auf der europäischen Bühne um einen Ausschnitt aus der Geschichte Gottes mit den Menschen und mit seiner Kirche. Insofern ist es gut, zum Schluss daran zu erinnern, dssß - so notwendig alle menschlichen Bemühungen um verantwortliches Handeln sind - Wohl und Wehe der Menschen und Wohl und Wehe der Kirche in Gottes Händen liegen und bei ihm gut aufgehoben sind.