Zehn Jahre Demokratie in Südafrika - zur Rolle der Kirchen in einer pluralen Gesellschaft

Wolfgang Huber

Berlin

I.

Wahlen gelten normalerweise als säkulare politische Ereignisse, an die sich nach einigen Jahren kaum jemand erinnert und die erst recht nicht zehn Jahre später gefeiert werden. Anders jedoch in Südafrika: Dort haben vor zehn Jahren, am  27. April 1994, die ersten demokratischen Wahlen nach dem Ende der Apartheid stattgefunden. Erzbischof Desmond Tutu hat diese Wahl als eine spirituelle - ja religiöse - Erfahrung bezeichnet: „Ich habe 62 Jahre darauf gewartet, zum ersten Mal in meinem Leben wählen zu können.“ In langen Schlangen standen Menschen aller Rassen in Südafrika zusammen, die vorher durch die Apartheid getrennt waren. Schwarze und Weiße, Farbige und Inder, Gebildete und Analphabeten, Reiche und Arme machten als Südafrikaner plötzlich die Entdeckung, dass sie zusammengehörten. Mit diesen Wahlen sind alle Südafrikaner gleichberechtigte Bürger ihres Landes geworden.

Diese Wahlen haben Menschen verändert. Schwarze gingen in die Wahllokale mit der lebenslangen Erfahrung, als Nichtperson ohne jegliche Würde behandelt zu werden. Sie kamen aus dem Wahllokal heraus und sagten: „Ich bin frei, meine Würde ist wiederhergestellt, ich bin als Mensch anerkannt.“ Auch weiße Südafrikaner hat diese Wahl befreit. Befreit von der Schuld aufgrund ihrer Hautfarbe Privilegien zu genießen, von der Last, von einem zutiefst unrechten und ungerechten System profitiert zu haben. Diese Wahlen haben nicht nur eine Regierung und ein politisches System verändert, sondern sie haben Menschen verändert und den Weg freigemacht für Versöhnung und Vergebung.

Mit der "Wahrheits- und Versöhnungskommission" hat Südafrika einen eigenen Weg beschritten, für den es nirgendwo in der Welt ein Vorbild gab. Diese Kommission hat sich in beispielhafter Weise über viele Jahre um Versöhnung und Ausgleich bemüht. Sie hat in eindrucksvoller Weise bewiesen, dass auch eine noch so schreckliche Vergangenheit dann wirksam aufgearbeitet werden kann, wenn Täter Verantwortung für ihre Taten übernehmen und wenn Unterdrückte und Opfer der Apartheid ihren Peinigern vergeben.

Noch heute mutet es wie ein Wunder an, dass sich der grundlegende politische Wandel in Südafrika im Großen und Ganzen friedlich vollzog. Ein Wunder, zu dem besonnene Politiker, herausragende Kirchenführer und Menschen aller Schichten und Gruppen in Südafrika beigetragen haben. Für sie alle stehen Nelson Mandela und Erzbischof Desmond Tutu, die dem Geist von Versöhnung und Vergebung, von Geschwisterlichkeit und gegenseitiger Achtung  Fleisch und Blut gaben und ihrer gespaltenen Nation die Vision eines friedlichen Zusammenlebens der Völker in einer „Regenbogen-Nation“ vor Augen stellten.

Diese Wahl und damit das offizielle Ende der Apartheid und der politischen Vorherrschaft der weißen Bevölkerung in Südafrika war auch ein großer Moment für die ökumenische Bewegung und viele Christen in Deutschland. Viele Kirchen und eine breite Öffentlichkeit haben weltweit den demokratischen Wandel in Südafrika solidarisch unterstützt und mit großer Sympathie begleitet. Die rassistische Apartheidpolitik hat viele Menschen in Deutschland empört. Diese Politik stand in eklatantem Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Schon in den sechziger Jahren, besonders aber seit den brutal niedergeschlagenen Schülerprotesten in Soweto im Jahr 1976, haben sich vor allem junge Menschen für die Überwindung dieses unmenschlichen Systems engagiert. Der gemeinsame Kampf gegen die Apartheid und die Solidarität mit den Menschen in Südafrika war über mehr als zwei Jahrzehnte der wohl wichtigste - aber auch umstrittenste  - Schwerpunkt der ökumenischen Zusammenarbeit der Kirchen und Christen weltweit.

Die Unterstützung der Kirchen in Südafrika und des südafrikanischen Christenrates hat auch die traditionellen Verbindungen der evangelischen Kirchen in Deutschland mit Südafrika vertieft und erweitert. Doch es soll auch nicht verschwiegen werden, dass der kirchliche Kampf gegen die Apartheid die Gespräche mit den deutschsprachigen Schwesterkirchen in Südafrika sehr belastet hat und die Frage nach den richtigen Mitteln dieses Kampfes sowohl in der ökumenischen Bewegung als auch in unseren Kirchen und Gemeinden in Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat. Die Forderung nach dem Boykott von Banken und von Früchten aus Südafrika sowie die finanzielle Unterstützung für soziale Projekte von Befreiungsbewegungen aus Mitteln der Ökumene waren Zerreißproben für uns. Vielleicht hätte die Unterstützung der Kirchen in Deutschland aus heutiger Sicht mutiger und entschlossener ausfallen können. Umso dankbarer sind wir den südafrikanischen Kirchen für die sehr gute geschwisterliche Zusammenarbeit, die bis heute anhält. Die Solidarität von Christen und Kirchen in Deutschland mit den schwarzen und weißen Schwestern und Brüdern in Südafrika, die sich für ein Ende der Apartheid eingesetzt haben, ist bis heute eine tragfähige Basis für eine intensive Zusammenarbeit angesichts der Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen.

Die Überwindung der Apartheid ist auch nach zehn Jahren noch nicht abgeschlossen. Bis heute belastet das Erbe der Apartheid Südafrika und seine Menschen. Der Kampf gegen Apartheid ist deshalb noch nicht zu Ende, es bleibt noch vieles zu tun. Bischof Tutu hat einmal gesagt: „Weil die Nation so tief verletzt wurde, muss auch der Heilungsprozess sehr tief gehen.“ Dieser Prozess dauert länger, als manche gedacht haben. Den Menschen in Südafrika wird noch manches abverlangt, damit die Folgen der Apartheid überwunden werden können. Armut und Arbeitslosigkeit, Kriminalität und AIDS: so heißen die größten Herausforderungen, vor denen das demokratische Südafrika steht. Diese Herausforderungen sind nicht nur politischer Natur; sie richten sich nicht nur an die Regierenden. Auch Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen und nichtstaatliche Organisationen müssen sich beteiligen, damit die große Idee der Regenbogennation gelingt. Dafür müssen auch die Kirchen in Südafrika ihre ganze Kraft mobilisieren. Die evangelischen Kirchen in Deutschland werden sie dabei nach Kräften unterstützen.

Für die Kirchen aber auch für die Regierung in Südafrika stellen sich in einem demokratischen System neue Fragen. Was ist die Rolle der Kirchen in einem demokratischen Staat, wie soll das Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaften und Staat gestaltet werden? Auch für die Kirchen in Deutschland stellt sich diese Frage angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche immer wieder neu. Ich betrachte es deshalb als eine Bereichung und als ein Zeichen großen Vertrauens, dass südafrikanische Kirchen, katholische Bischofskonferenz und Südafrikanischer Kirchenrat zu diesen Fragen den Dialog mit den deutschen Kirchen suchen.

II.

„Ich habe 62 Jahre darauf gewartet, zum erstenmal in meinem Leben wählen zu können“, so würdigte, wie gesagt, Erzbischof Desmond Tutu den 27. April 1994.

In Deutschland wird sich in Kürze ein vergleichbarer Jahrestag zum 55. Mal jähren: es ist der 23. Mai, an dem im Jahr 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurde. Es hat  nach den Schrecken der Nazi-Diktatur und nach dem Elend des vom Nationalsozialismus heraufbeschworenen Zweiten Weltkriegs den Boden für ein demokratisches Deutschland bereitet. Wenn nicht gerade der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin an diesem Tag gewählt wird – und das geschieht nur alle fünf Jahre – , führt der 23. Mai als Verfassungstag allerdings eher ein Schattendasein in unserem Kalender. So verfassungspatriotisch sind wir dann doch nicht. Ich fühle mich eher an ein Wort unseres früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann erinnert, der gesagt hat: „Es gibt schwierige Vaterländer. Deutschland ist eines davon.“

Auch die Art, in der wir uns an den 9. November erinnern, an den Tag des Mauerfalls, ist noch immer undeutlich. Zu viele andere Erinnerungsdaten verbinden sich mit diesem Tag, vor allem natürlich die Erinnerung an die Reichspogramnacht am 9. November 1938. Deshalb belassen wir es lieber beim 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit.

Dabei kann man nicht verkennen, dass der Fall der Mauer einen indirekte Bedeutung auch für den Übergang zur Demokratie in Südafrika hatte. Unvergesslich ist mir, dass der damalige südafrikanische Präsident de Klerk bei der Ankündigung, dass Nelson Mandela von Robben Island entlassen werde, auch dies zur Begründung angab: Nach dem Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa müsse man sich auch in Südafrika vor dem Kommunismus nicht mehr ebenso fürchten wie zuvor. Dass Kommunismusfurcht nicht die Verweigerung elementarer Menschenrechte zu begründen vermag, sagte er freilich nicht.

In beiden Ländern, Südafrika und Deutschland, haben wir die Gemeinsamkeit des Übergangs von Unrechtsregimen zur Demokratie erlebt. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist sogar von einem doppelten Übergang dieser Art gekennzeichnet. In beiden Fällen berührt dieser Übergang auch die Kirchen, ihre Traditionen und Erfahrungen.

Die Kirchen in Südafrika haben die Apartheidzeit als Periode tiefen Unrechts erfahren; sie haben mutig widerstanden und ihre Kräfte zur Überwindung der Apartheid eingesetzt. Aber es gab auch Kirchen, in denen das Evangelium zur Rechtfertigung der Rassentrennung in Anspruch genommen wurde; es gab auch Kirchen, die entlang den Linien ethnischer Zugehörigkeit voneinander getrennt waren. Genau das hat das Bekenntnis von Belhar als einen Fall bezeichnet, der ein klares Bekenntnis herausfordert.

Wie waren die Erfahrungen, die die deutschen Kirchen in die neu gegründete Bundesrepublik einbrachten. Schauen wir auf die evangelische Seite, so müssen wir sagen: Verhältnismäßig klein an Zahl war die Bekennende Kirche, die sich dem Naziregime versagte; übergroß war die Schar der Deutschen Christen, die sich willig dem staatlichen Anspruch ergab. Schauen wir aber auf den Weg der Kirchen in der Zeit der DDR, so müssen wir sagen: Bestimmend für diesen Weg ist das Faktum, dass die Kirchen in hohem Maß ihre Eigenständigkeit bewahrt haben. Formen der Kooperation, die wir im Rückblick als zu weitgehend ansehen, ändern an diesem grundlegenden Sachverhalt nichts. Bis zum heutigen Tag zehren wir vielmehr von wichtigen Impulsen, die in Zeugnis und Dienst der Kirchen in der Zeit der DDR Gestalt angenommen haben.

III.

Unter unterschiedlichen Bedingungen mussten unsere Kirchen sich den Weg in die Demokratie bahnen und dabei auch das eigene Verhältnis zur Demokratie klären. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat das Ergebnis solcher Überlegungen 1985 in einer Denkschrift zusammengefasst. Ich habe damals an der Denkschrift mitgearbeitet und erinnere mich an manchen durchaus bissigen Kommentar, der uns ein verspätetes Ankommen in der Demokratie vorhielt. Doch nach wie vor sehe ich die Leistung dieser Schrift darin, dass sie jenseits aller undifferenzierten Staatsgläubigkeit die besondere Nähe zwischen dem christlichen Glauben und  den Regeln der Demokratie deutlich gemacht hat. So formulierten wir damals:

„Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde  der Person als Grundlage anerkennt und achtet. Den demokratischen Staat begreifen wir als Angebot und Aufgabe für die politische Verantwortung aller Bürger und so auch für evangelische Christen. In der Demokratie haben sie den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag wahrzunehmen und zu gestalten.“

Eine besondere Zustimmung der Christen verdient die Demokratie, so habe ich das schon damals ausdrücklich erläutert, vor allem deshalb, weil sie eine Würde des Menschen anerkennt, die aller staatlichen und gesellschaftlichen Macht vorgeordnet ist. Dass die Würde der menschlichen Person nicht vom Staat hervorgebracht oder entzogen werden kann, ist dem christlichen Glauben besonders wichtig – versteht er doch den Menschen als Gottes Ebenbild  und zugleich als den Sünder, der von Gott angenommen, trotz aller Sünde also von ihm selbst mit Würde und Anerkennung  bedacht wird. Von der Unverfügbarkeit der menschlichen Würde geht  jede christliche Beschäftigung mit der Demokratie aus. Deshalb aber beginnt das Verständnis der Demokratie mit der Einsicht in die Grenzen, die dem Staat gesetzt sind.

Zustimmung verdient eine Staatsordnung, die für die aktive Mitwirkung aller am politischen Entscheidungsprozess offen ist. Diese Maßgabe ist Ernst zu nehmen. Sie ist auch von den Kirchen seit Gründung der Bundesrepublik Ernst genommen worden. Eine der Lehren, die die Kirchen in Deutschland aus ihrer historischen Erfahrung gezogen haben, war die Zuwendung zur konkreten Politik und zu einem politischen Prozess, der auf Alternativern und Offenheit setzt. Dies schlug sich in der Einrichtung von Büros am Regierungssitz nieder, die kirchliche Interessen im engeren und weiteren Sinne verfolgen. Dies führte auch zur Gründung zahlreicher Akademien, die Orte des Austauschs, der Austragung von Gegensätzen und der Suche nach Konsens wurden. Christen in der Politik – das meinte mehr als Politiker in einer christlichen Partei, es meinte, dass am Beruf zur Politik alle Anteil haben sollten.

IV.

Diese Vorstellungen und Aktivitäten der Kirchen haben das gesellschaftliche und politische Leben in unserem Land über weite Strecken geprägt. Wenn die Denkschrift von 1985 für eine Partizipation plädiert, die über die Teilnahme an Wahlen hinausgeht und  eine lebhafte und vielstimmige Einflussnahme auf politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einschließt, summiert und systematisiert sie eine gegebene Praxis. Eine der weithin sichtbaren Formen  des Engagements der Christen in unserem Land war die Solidaritätsbewegung im Kampf gegen die Apartheid.

Die Herausforderungen, denen wir uns heute gegenüber sehen, sind nicht minder schwierig zu bestehen. Die Verantwortung für den Frieden angesichts des Irakkrieges, die Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaates angesichts evidenter Reformnotwendigkeiten und die Verantwortung für das menschliche Leben  zwischen Werden und Sterben sind nur drei Beispiele, die zeigen, wie dringlich das Zeugnis der Kirchen in unserer Gesellschaft ist. Es ist klar, dass dieses Zeugnis Konfessionsgrenzen überschreiten und in einem Geist ökumenischer Gemeinsamkeit zu suchen ist. Mit dem Gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 haben wir im hohen Maße verbindender Positionen gewonnen. Sie stehen für die Gemeinsamkeit kirchlichen Wollens in einem  Bereich, der weiterhin deutliche kirchliche Stellungnahmen herausfordern wird.

Bei der weiteren Arbeit an diesen Herausforderungen werden wir in Deutschland von vergleichbaren Bemühungen in Südafrika Wichtiges lernen können. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit einem wachsenden Gegensatz zwischen Reich und Arm spielt die südafrikanische Diskussion eine exemplarische Rolle. Der Frage, ob die Globalisierung mit ihrer Verschärfung sozialer Gegensätze nicht so etwas wie eine „zweite Apartheid“ hervorbringt, kann man sich gerade in Südafrika, dem Land der „ersten Apartheid“ nicht entziehen. Doch solche Auseinandersetzungen kann man nicht in einem Geist der Resignation führen. Wir wenden uns diesen großen Fragen unserer Gegenwart zu mit dem Mut, ohne den vor zehn Jahren nicht gelungen wäre, was manche Kleinmütigen vorher für ausgeschlossen hielten: freie Wahlen, der Aufbruch zur Demokratie.