"Der evangelische Beitrag für das neue Europa - in kritischer Würdigung von Bonifatius als Missionar und Reformer" - Festvortrag zur Eröffnung der Bonifatiusroute in Mainz

Wolfgang Huber

I.

Mit Bonifatius, dem englischen Adligen Wynfreth, der um das Jahr 730 nach Christi Geburt die sicheren Klostermauern in England verließ, um auf dem Kontinent zu missionieren, betreten wir eine für uns kaum noch vorstellbare Welt. Es war eine Welt voller Angst und kurzem Leben, voller bedrohlicher Willkür und vogelfreien Gegenden, voller Unbildung und heidnischen Mythen. Angesichts der offenkundigen Probleme in unserer modernen Welt neigen wir leicht dazu, vergangene Welten und so auch diese vergangene Welt zu glorifizieren. Wie natürlich und ursprünglich ging es damals zu; und wie rein das Wasser und klar die Luft gewesen sein müssen! Doch ich bin mir sicher: Niemand von uns will wirklich auf Dauer tauschen! Nicht nur, weil wir mit unserem modernen Lebensstil und selbstverständlichen Lebenskomfort vermutlich nur sehr wenige Tage die körperlichen Herausforderungen des damals ganz normalen Lebens bestehen würden; auch nicht nur, weil es damals eine unüberschaubare Zahl von Gefahren gab, die das Leben verkürzten und die Liebe bedrohten; sondern vor allem auch, weil es damals eine unüberschaubare Zahl von Göttern gab, die nicht zu beachten schwere soziale und psychische Konsequenzen nach sich zog.

Man kann sich die Zwiespältigkeiten jener Zeit leicht vor Augen führen, wenn man sich an die berühmte Geschichte von der „Donar-Eiche“erinnert.

In Geismar in der Nähe von Fritzlar vollzog Bonifatius, der Apostel der Deutschen, auf eine martialische Weise eine Art negativen Gottesbeweis durch das rabiate Fällen der heiligen Eiche. Man kann darin eine Parallele zu der Art von Gottesbeweis ziehen, die der Prophet Elia nach dem Bericht des Alten Testaments (vgl. 1 Könige 18) in der Auseinandersetzung mit den Baalspriestern erbrachte und die in der berühmten Vertonung von Felix Mendelssohn-Bartholdys „Elias“ verewigt wurde. Aber nicht nur unseren Vorstellungen von einem schonenden Umgang mit der Natur entspricht diese Geschichte in keiner Weise. Auch unsere Vorstellung von einer Toleranz zwischen den Religionen sieht anders aus; und dass Gewaltsamkeit die Existenz Gottes beweisen könnte, wird man gerade heute wohl nicht vertreten wollen. Insofern stellt sich gerade im Zusammenhang mit dieser Schlüsselszene noch dringlicher die etwas gewagte Leitfrage, die mir mit diesem Festvortrag aufgegeben wurde: „Der evangelische Beitrag für das neue Europa - in kritischer Würdigung von Bonifatius als Missionar und Reformer“.

Eine Annäherung an diese Aufgabe versuche ich so, dass ich zunächst Gesichtspunkte zur kritischen Würdigung von Bonifatius entwickle, dann den bei ihm angelegten christlichen Beitrag für das neue Europa würdige und schließlich auf den spezifisch evangelischen Anteil zu diesem Beitrag zu sprechen komme.

II.

Bonifatius steht für eine Wende und Neuorientierung in der Geschichte des Christentums, die angesichts des Untergangs des römischen Reichs notwendig geworden war und die dem Christentum eine unerhörte Zukunft eröffnete. In diesem Sinne hat Bischof Hartmut Löwe recht, wenn er sagt: Heilige wie Bonifatius „sind diejenigen Christen, die für eine Epoche der Kirchengeschichte die jeweils neue fällige Gestalt des Glaubens beispielhaft vorleben". Denn Bonifatius trug bei zu einer zukunftsfähigen Gestalt von Kirche, zu der - wenn man so will - damals modernsten und tragfähigsten Form von Kirche, auf deren Säulen das Überleben des Christentums nicht nur in den kommenden zwei so genannten dunklen Jahrhunderten möglich wurde, sondern auf denen das ganze christliche Mittelalter aufruhte. Bonifatius ist eine Art Modernisierungsschritt des christlichen Glaubens, nachdem sich ein fundamentaler Kulturabbruch im Verhältnis zur griechisch-römischen Traditionen vollzogen hatte.

Denn neben allen organisatorischen Leistungen dieses Mannes gilt es doch zuerst zu rühmen: Dem Bonifatius ist ein Schritt in Richtung auf eine angstfreiere Welt gelungen! Er hat die Menschen von der Angst vor den vielen Göttern und Geistern befreit. Die Konzentration auf den einen Gott der Bibel und auf den einen Sohn Jesus Christus und sein Erlösungswerk und auf den einen Heiligen Geist, der in vielen verschiedenen Werken zu wirken versteht, war der Beginn einer Befreiung von all den vielen Göttern, die das damalige Leben prägten, weil sie Anerkennung und Opfer von den Menschen einforderten. Bei aller Kritik, die heute an dem christlichen, vermeintlich absolutistischen und der Pluralität der (Post-) Moderne widersprechenden Monotheismus geübt wird, darf man die befreiende Wirkung nicht vergessen, die mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott verbunden ist. Und bei aller berechtigten Klage über die missionarische Brutalität der damaligen Zeit, mit der unsere Väter und Vorväter vorgegangen sind, darf man nicht von der befreienden Wirkung absehen, die sich mit dem christlichen Glauben auch schon damals verband. Deshalb wage ich zu sagen: Eine geistliche Wurzel für die Freiheit Europas ist hier bei diesem „Apostel der Deutschen“ und seiner Überwindung der vielen Götter und Geister grundgelegt.

 Denn auch wenn manche heute unter den Folgen dieser monotheistischen Aufklärung der Götterwelt meinen leiden zu müssen, sollten wir nicht vergessen, dass das Christentum ein Schritt ins Freie der Welt gewesen ist und auch heute wieder sein kann. Es hat die Unterscheidung zwischen Gott und Welt,  zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Himmel und Erde eingeschärft. Gerade so hat es einen Raum der Freiheit geschaffen von den vielen kleinen Göttern und Götzen. Darin aber liegt eine erste Wurzel auch des modernen, heutigen Europas. Denn diese Art von Glaubensaufklärung, von Konzentration der vielen Götter auf den einen, barmherzigen Gott, ist trotz aller Schattenseiten, die man dabei nennen kann und nennen muss, ein Schritt ins Freie, eine Voraussetzung für ein aufgeklärtes Europa. Und mitunter kann man ja den Eindruck gewinnen, dass wir auch heute wieder so eine Befreiung von manchen dunklen Geistern und kleinen Göttern brauchen; denn was uns aus Fernsehen, Funk und Vorurteilen, aus Gesellschaft, Politik und Werbung entgegentritt, mitunter ängstigt und unsere Seele gefangen zu nehmen versucht, das verdient doch auch ein Stück christliche Glaubensaufklärung im Sinne des Missionars  Bonifatius.

III.

Der Missionar Bonifatius hat mit seiner Vielzahl von Klostergründungen eine weitere, äußerst moderne Idee verfolgt. Er legte gleichsam christliche Inseln in der damals noch weithin heidnischen Umwelt an, die dann zu kraftvollen Ausgangspunkten für Expeditionen in ein neues Zeitalters wurden. Solche entschlossenen Impulse sind es, von denen wir auch heute wieder lernen können. Denn einen neuen missionarischen Aufbruch in unseren Kirchen brauchen wir auch. Als evangelischer Bischof einer weit gestreckten Flächenkirche, in der die Christen in der Minderzahl sind, wünsche ich mir manchen Bonifatius, der solche konzentrierten geistlichen Inseln gründet, von denen der christliche Geist auch heute neu in unsere Welt hinein ausstrahlt. Auch für unsere Zeit brauchen wir in diesem Sinne kleine oder größere Heilige, die es uns leichter machen, neue Strukturen und neue Freiheiten zu entdecken für die Kirche der Zukunft.

Bei aller Würdigung, die zu einem Festvortrag gehört, werden Sie mir auch einige kritische Töne gegenüber Bonifatius gestatten. Aus protestantischer Sicht gibt es einige Punkte der Kritik am Tun und Lassen des Bonifatius: Seine übertriebene, geradezu hörige Ausrichtung an Rom, seine zweifellos nicht sensibel zu nennende und von jedem Geist der Toleranz freie Umgangsweise mit den damaligen religiösen Überzeugungen, sein striktes Bekehrungsinteresse wie auch seine durchgängige (kirchen)-politische Machtklugheit sind dabei vor allem zu nennen. Darüber hinaus tun wir Evangelischen uns natürlich schwer mit der Kategorie des Heiligen Bonifatius. Denn zu den Grundeinsichten der Reformation gehört, dass evangelische Christen Heilige nicht anbeten. Von ihnen wird deshalb keine besondere Hilfe erwartet, weil sich alles Hoffen und Sehnen allein auf Christus richtet. Das „Christus allein“ umschreibt neben den Gedanken „allein die Schrift“, „allein aus Gnade“ und „allein im Glauben“ die grundlegende Entdeckung der Reformation, die alles Glauben und Hoffen auf Christus lenkt. Doch diese besondere Ausrichtung, die der evangelischen Gestalt des christlichen Glaubens eigen ist, ist nur die eine Seite. Denn zugleich erkennt die evangelische Kirche seit der Zeit der Reformation ausdrücklich an, dass Heilige sehr wohl fähig sind, den Glauben zu stärken. Man kann an ihnen erkennen, "wie ihnen Gnade widerfahren ist und wie ihnen durch ihren Glauben geholfen wurde". So sagt es das Augsburgische Bekenntnis von 1530. Heilige sind also eine Art Spiegel des göttlichen Erbarmens; gerade in schwierigen Zeiten sendet Gott Menschen, die ihn in glaubwürdiger Weise bezeugen. „Heilige sind Menschen, durch die es uns leichter wird, an Gott zu glauben“, so lautet ein berühmtes Votum des schwedischen – lutherischen - Erzbischofs Nathan Söderblom. Mein Großvater hat ihn sehr verehrt. Aber auch wenn das nicht so wäre, würde ich dieser evangelischen Vorstellung von einem Heiligen von Herzen gern zustimmen: „Heilige  sind Menschen, durch die es uns leichter wird, an Gott zu glauben.“

Aber inwiefern macht Bonifatius es uns wirklich – auch als Evangelischen – leichter, an Gott zu glauben? Mit der Erinnerung an Bonifatius besinnen wir uns ja auf das gemeinsame vorreformatorische Erbe, das für den heutigen katholischen Glauben ebenso wie für den evangelischen Glauben die Grundlage bildet. Als „Apostel der Deutschen“ legte er für uns alle die Basis des christlichen Glaubens in den kommenden Jahrhunderten. Bonifatius hat mit seinen Klostergründungen und seiner strikten Orientierung an Rom eine Einheitlichkeit der Kirche erreicht, deren Tragfähigkeit bemerkenswert ist. Auch in den Kirchen der Reformation können wir das anerkennen und würdigen, obwohl unsere Vorfahren unter den problematischen Konsequenzen dieser Errungenschaften am Ausgang des Mittelalters besonders gelitten haben. Wir können dies anerkennen, weil Bonifatius damit für eine zweite Wurzel auch des zukünftigen Europas  steht, von der wir alle - unter Einschluss unserer sich nicht mehr christlich verstehenden Zeitgenossen – leben. Denn Bonifatius hat mit seiner strikten Romtreue der damaligen Kirche ein Selbstbewusstsein gegenüber allen staatlichen Herrschaften, Fürsten und Gewalten eingepflanzt, das sich niemals mehr ganz vernichten ließ. Mit Bonifatius beginnt das Gegenüber zwischen Kirche und Staat, zwischen Welt und Reich Gottes, das bis hinein in den Kirchenkampf des letzten Jahrhunderts dazu führte, dass der Staat niemals ganz und total Herr über die Kirche werden konnte, selbst nicht in den schwächsten Momenten der westlichen Christenheit.

Von solchen Schwächephasen gab es natürlich viele im Laufe der Jahrhunderte, und zwar in beiden Richtungen – sei es, dass die Kirche den Staat zu überwältigen versuchte, sei es umgekehrt, dass der Staat die Kirche zu verschlucken drohte. Aber – um es etwas anachronistisch zu formulieren – mit seinem „konsequenten Ultramontanismus“ hat Bonifatius eine Wurzel gelegt, von der wir bis heute, bis ins freie Europa unserer Tage hinein, noch leben. Denn von der Spannung zwischen geistlicher und weltlicher Macht ist die ganze westliche Kirchengeschichte geprägt. Man wird weder den berühmten schmachvollen Gang Heinrichs IV. nach Canossa drei Jahrhunderte später noch die völlig überzogenen Forderungen eines Bonifaz VIII. sechs Jahrhunderte später verstehen können, ohne auf das glaubensgründende Selbstbewusstsein zu schauen, dem Bonifatius schon im 8. Jahrhundert in seinen Klöstern Gestalt gegeben hat.

IV.

Ein dritte Wurzel für das heutige Europa ist nun aber nicht mehr ohne reformatorische Beteiligung zu formulieren: den Weg zum neuzeitlichen Verständnis der Freiheit. Auch wenn wir heute die Umstände, unter denen manche Teile des Kontinents christianisiert wurden, als problematisch empfinden, und auch wenn wir manche Phasen kirchlicher Herrschaft und kirchlicher Verführbarkeit durch die Macht nur mit großer Scham erinnern können, so dürfen wir doch die Augen nicht davor verschließen, dass es kein europäisches Land gibt, das nicht spätestens vor einem Jahrtausend zum Christentum übergetreten ist. Diese Bindung an das Christentum stellt ganz unausweichlich einen wichtigen Bestandteil der europäischen Identität dar. Das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist darum überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung Christi ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt. Zugleich war die Entwicklung der westlichen Christenheit über viele Jahrhunderte durch die beständige Spannung zwischen einer sich hierarchisch verfestigenden Kirche und den sich dagegen auflehnenden Erneuerungsbewegungen bestimmt. Auf eine besondere Weise hängt auch diese Spannung mit Bonifatius zusammen. Seine Kirchenreform hatte zu der außerordentlichen Tragfähigkeit und Stabilität der mittelalterlichen Kirche beigetragen. Auch dank dieses Erfolgs wurde die mittelalterliche Kirche zu einer so starken, allumfassenden und bestimmenden Größe, dass sich ihr kritische und innovative Kräfte entgegenstellen mussten.

Was Petrus Waldus, Urahn der jetzigen italienischen evangelischen Waldenserkirche, oder Jan Hus bereits versuchten, gewann in der Reformation des 16. Jahrhunderts dann weltgeschichtliche Bedeutung. Dabei hatte es die Reformation des 16. Jahrhunderts auch der politischen Konstellation zu verdanken, dass sie nicht wie die Erneuerungsbewegungen des Mittelalters als Ketzerei niedergeschlagen wurde. Als die “Protestanten” auf dem Reichstag in Speyer vor genau 475 Jahren sich einem Mehrheitsbeschluss der Reichsstände in Fragen des Glaubens widersetzten, fügten sie zur abendländischen Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einen weiteren Baustein für die Entstehung des modernen Verfassungsstaates hinzu. Sie verlangten die Anerkennung der Gewissensfreiheit und die Selbstbeschränkung der politischen Autorität in Fragen der Religion. Sie ebneten damit den Weg zur Aufklärung ebenso wie zur Anerkennung von religiöser Pluralität. So wurden am Übergang zur Neuzeit weitere wichtige Grundlagen für den christlichen Beitrag zur europäischen Werteordnung gelegt.

Natürlich gibt es keine gradlinige Entwicklung von Bonifatius über die Reformation zum modernen toleranten und religionsneutralen Verfassungsstaat in Europa. Auch wenn man die Prägekraft des christlichen Glaubens für das moderne Europa hoch veranschlagen muss, gibt es doch viele Kräfte und Wurzeln, die zu ihm beigetragen haben. Aber weil wir alle bei Hegel gelernt haben, dass geschichtliche Entwicklungen keineswegs nur gradlinig und stringent verlaufen, sondern auch in These und Antithese zur neuen Synthese drängen, sei mir auch diese Einschätzung erlaubt:

Ohne die Reformation als einen nicht intendierten, aber faktisch vollzogenen Bruch mit der christlichen Einheitskirche des Abendlands hätten wir niemals einen Weg in den modernen Verfassungsstaat, in die neuzeitliche Freiheitsgeschichte und in die umfassende Anerkennung der Würde jedes Einzelnen gefunden. Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen bedeutet, mit diesem Respekt vor der Würde jedes einzelnen auch die europäische Pluralität anzuerkennen. Auf seine Weise hat das Christentum zu dieser Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Zwar sind Luthers eigene Äußerungen – insbesondere über die Juden, die Papisten oder die Bauern – nicht gerade von Toleranz geprägt; wir Protestanten haben also keinen Grund, unsere Tradition hier besonders zu rühmen. Auch die Reformation insgesamt hat zu äußerst intoleranten Akten – bis hin zur Verbrennung von Dissidenten – geführt. Aber der Ansatz der Reformation enthält in seiner Konsequenz nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung zur Toleranz.

Dies ergibt sich aus der Art und Weise, in welcher schon bei Luther Gewissensbildung und Gewissensfreiheit miteinander verknüpft sind. Dies geschieht nämlich in einer Weise, die jeden Gewissenszwang ausschließt. Der Kirche wird aufgetragen, für die Wahrheit des Evangeliums „ohne Zwang, allein durch das Wort“ einzutreten. Im Blick auf den Staat aber stellt Luther klar, dass seine legitime Macht an der Gewissensbindung des Einzelnen ihre Grenze hat; soweit er den Versuch unternimmt, einen Zwang in Glaubensfragen auszuüben, ist man ihm deshalb nicht zum Gehorsam verpflichtet.

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“: Es ist nicht illegitim, dass Luthers Aussage vor dem Reichstag in Worms im Jahre 1521 zum Anknüpfungspunkt für eine Kultur der Gewissensfreiheit und der Toleranz erklärt wurde. Denn nach evangelischem Verständnis hat die weltliche Toleranz ihren Ursprung in der Vorstellung von der „Toleranz Gottes“. Damit ist gemeint, dass Gott den Menschen, der sich in seiner Gottlosigkeit von ihm abgewandt hat, gleichwohl „erträgt“, ihn also nicht seiner Gottlosigkeit überlässt. Da es niemanden gibt, der von dieser göttlichen Toleranz ausgeschlossen wäre, kennt der christliche Glaube einen genuinen Zugang zur Toleranz, der darin gründet, dass jeder Mensch – unabhängig von seinen subjektiven Voraussetzungen, also auch von den Voraussetzungen seines persönlichen Bekenntnisses  – im Wirkungsbereich der göttlichen Liebe lebt.

Aber auch im Blick auf diesen Grundsatz der Toleranz gilt, dass er in einer innerchristlichen Konfliktgeschichte gegen eine im Namen der Kirche selbst praktizierte Intoleranz zur Geltung gebracht werden musste. In ihr sind Einzelpersonen und christliche Minoritäten den großen Kirchen voran gegangen. Die Befürworter der Toleranz konnten sich dabei mit gutem Recht vor allem auf die christlichen Reformbewegungen berufen, die Reformation des 16. Jahrhunderts eingeschlossen. Luthers These von der Freiheit des in Gottes Wort gebundenen Gewissens hat sich dadurch in besonderer Weise auf die Entwicklung der neuzeitlichen politischen Kultur ausgewirkt.

V.

Zuletzt: Wenn man die christlichen Wurzeln Europas zu beschreiben versucht, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die Freiheitsvorstellungen, die das moderne Europa prägen, auch gegen das Christentum und die Kirchen – seien sie nun römisch-katholisch oder reformatorisch – durchgesetzt werden mussten; alles andere wäre ein Euphemismus. Die grausamen Konfessionskriege der nachreformatorischen Zeit, an die man dabei zuallererst denken muss, nötigten zu einer Neukonstruktion eines europäischen Friedens, der nicht unmittelbar auf der Religion beruhte, sondern auch dann Bestand haben sollte, wenn man annähme, dass es Gott nicht gäbe („etsi deus non daretur“). Die Unversöhnlichkeit der konfessionell bestimmten Kriegsparteien selbst nötigten zu einer Friedensordnung, die auch gegen die Konfessionen durchgesetzt werden konnte. Daran muss man sich immer wieder erinnern, wenn die These vertreten wird, der Frieden zwischen den Völkern setze den Frieden zwischen den Konfessionen und Religionen voraus: „kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ (Hans Küng). Gegebenenfalls muss der Frieden – Gott sei’s geklagt  – auch gegen Konfessionen und Religionen durchgesetzt werden. Auch das gehört zu den Lehren der europäischen Entwicklung. Die Kirchen selbst müssen ein Interesse daran haben, dass der Rechtsfrieden gegen diejenigen behauptet wird, die ihn gefährden – und sei es unter Inanspruchnahme religiöser Motive. Nordirland ist dafür ebenso ein aktuelles Beispiel wie der Balkan. Erst recht gilt das für den 11. September 2001 und seine Folgen.

Deswegen sollten auch wir Kirchen dankbar sein für die gegen kirchlichen Widerstand durchgesetzte Trennung der staatsbürgerlichen Rechte von der Religionszugehörigkeit. Diese „Bresche“ wurde, wie sich der französische Historiker René Rémond in seiner brillanten Studie über „Religion und Gesellschaft in Europa“ ausdrückt, in der Französischen Revolution geschlagen. „Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst religiöser Art, bedrängt werden...“ heißt es erstaunlich zurückhaltend in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789. Aber die Einsicht, dass Unterschiede des religiösen Bekenntnisses keine staatsbürgerliche Benachteiligung zur Folge haben dürfen, war weitreichend. Diese Entkoppelung setzte sich schrittweise in ganz Europa durch. Erst der Ausschluss der Juden von der Staatsbürgerschaft im Deutschland der Nazizeit – aber auch im Frankreich der Vichy-Regierung – war eine tragische Abweichung von dem nun errungenen Prinzip.

Wer immer heute von Europa als Wertegemeinschaft spricht, wird gerade deshalb dieses Prinzip zu den Werten zählen, hinter die Europa nicht wieder zurückgehen kann. So wie durch Bonifatius die „libertas christiana“ im Gegenüber zu Welt überhaupt erst grundgelegt wurde, und durch die Reformation die Gewissensfreiheit des Einzelnen zu einem europäischen Grundwert wurde, so wurde durch die Französische Revolution die staatsbürgerliche Gleichheit festgelegt. Und es gibt jedenfalls in meinen Augen keinen Zugang zum Wertekonsens Europas an diesen Weichenstellungen vorbei.

Das gilt auch für alle anderen Religionen; die modernen Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu einer verstärkten Präsenz nichtchristlicher Religionen in Europa, allen voran des Islam. Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit des Andersglaubenden ist, wird zu einer täglichen Herausforderung.

Auch in Europa gibt es viele Anzeichen dafür, dass das 21. Jahrhundert durch eine Wiederkehr der Religion geprägt sein wird. Und nicht alle Formen von Religion, die auch in Europa eine wachsenden Bedeutung gewinnen werden, sind durch ein Ja zu der aufgeklärten Säkularität geprägt, die für die neuzeitliche Entwicklung in Europa bestimmend geworden ist. Denn auch unter veränderten Bedingungen ist an der epochalen Bedeutung des Übergangs zu gleichen Bürgerrechten festzuhalten, die von der Religionszugehörigkeit unabhängig sind. Einem Staat, der diesen Grundsatz leugnet, würden wir heute vorhalten, dass er gegen die europäische Werteordnung verstößt. Europa als Wertegemeinschaft ist durch eine Vorstellung vom Verfassungsstaat geprägt, der die gleiche Würde jedes Menschen und ebenso die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Denn das gehört zur Unbedingtheit der Menschenwürde. So sehr diese sich einem christlichen Impuls verdankt, so sehr kann sie rechtlich nur in einem säkularen Verfassungsstaat gesichert werden.

VI.

Die Kirchen haben die Unabhängigkeit des Staatsbürgerrechts von der Religionszugehörigkeit nicht selbst durchgesetzt. Auch deshalb hat dieser epochale Wandel sich in einem Säkularisierungsschub Ausdruck verschafft, der zwei Jahrhunderte – das 19. wie das 20. Jahrhundert – prägte. Nicht nur in überwiegend protestantischen Gegenden – mit ihrer traditionell geringeren Kirchenbindung – , sondern auch in katholischen Regionen löste sich das Deutungsmonopol der Kirchen ebenso auf wie ihr direkter Zugriff auf die Lebensorientierungen der Einzelnen. Glaubensfeindliche Ideologien haben im 20. Jahrhundert die Entkirchlichung weiter Bereiche Europas vorangetrieben. Doch diese Entkirchlichung ist nicht umstandslos mit einer Entchristlichung gleichzusetzen. Europa lebt auch heute noch von einer Prägung, die sich zwar in den zurückliegenden Jahrhunderten in äußerst unterschiedlicher Gestalt konkretisierte, die aber immer ein konstitutives Element des christlichen Lebens war.

Der christliche Glaube hat seit Bonifatius in die Welt des Rechts, in die Ausübung der Macht und in die Verfolgung des je eigenen Vorteils das Motiv der Nächstenliebe eingebracht – mit unterschiedlichem Erfolg durchaus, aber immer als kritisches Gegenüber und als Korrektivmöglichkeit gegenüber einem reinen Egoismus. In ihm hat das Ethos der zehn Gebote seine christliche Zusammenfassung gefunden. Zu seinen grundlegenden Impulsen gehört die Aufforderung, eine Situation aus der Perspektive des Anderen, des Unterlegenen, des Schwächeren anzusehen. Die Goldene Regel – nach welcher man den anderen so behandeln soll, wie man auch selbst behandelt zu werden erhofft (Matthäus 7, 12) – ist wohl das wirksamste Moralprinzip geworden, das, wenn nicht allein christlichen Ursprungs, doch durch das Christentum vermittelt wurde. Die Kultur des Helfens, die vor allem durch die karitativen Einrichtungen der christlichen Kirchen gefördert worden ist und auch heute durch solche Einrichtungen in großer Breite repräsentiert wird, bildet eine unentbehrliche Stütze für die Humanität in der Gesellschaft.

Aber gerade wenn man dies alles gesagt hat und sich auch nicht ohne Stolz auf die Wirkmächtigkeit christlicher Impulse für das moderne Europa besinnt, sollte doch der letzte Gedanke einen anderen Klang haben. Denn der christliche Glaube ist seit den Zeiten eines Bonifatius mehr und anderes als nur Träger und Vermittler kultureller Werte. Sein Kern ist der Glaube, die Gottesbeziehung und damit eine „wert-lose“ Wahrheit. Wenn nach dem Beitrag der christlichen Tradition zu den christlichen Werten Europas gefragt wird, so ist die erste Antwort darauf: Glaube ist ein „global prayer“, der seine wichtigste Aufgabe darin hat, Gott nicht ohne Lobgesang in seinem Himmel zu lassen. Das Gebet vor Gott und die Bitte um seinen Trost bilden den harten Kern des christlichen Lebens durch die Jahrhunderte. Wenn es darauf ankommt, erkennt man einen Christen nicht zuerst an seinen guten kulturellen Werten – die können bekanntlich auch korrumpiert werden; man erkennt ihn auch nicht an seinen guten Werken – die können ebenfalls auf der Strecke bleiben; sondern man erkennt einen Christenmenschen an seiner Sehnsucht nach Gott, an seinem Gebet für sich und für die anderen, und an seiner Hoffnung darauf, dass Gott die Welt trösten und stärken kann mit einem Frieden, den sie sich selbst niemals geben kann.

Die Vergegenwärtigung dieses Frieden kann und soll der nicht nur evangelische, aber auch nicht nur römisch-katholische, sondern der christliche Beitrag für das neue Europa sein.