Die Kirchen und der europäische Integrationsprozess

Antje Heider-Rottwilm

- aktueller Stand der Diskussionen und Entwicklungen -
(Vortrag gehalten vor der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Braunfels, aktualisiert Oktober2004) 

Vorbemerkung: In der Europaabteilung begleiten wir die deutschsprachigen Gemeinden und Kirchen im europäischen Ausland. Wir pflegen darüber hinaus die Kontakte zu den Kirchen der verschiedenen Konfessionen in Europa und unterstützen nach Kräften die Zusammenarbeit der Kirchen auf europäischer Ebene. Dazu gehört für mich, im Präsidium der Konferenz Europäischer Kirchen mitzuarbeiten, zusammen mit einem russisch-orthodoxen Kollegen die Arbeit der Kommission Kirche und Gesellschaft der KEK zu moderieren und in der Arbeitsgruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (früher Leuenberger Kirchengemeinschaft) zu Gestalt und Gestaltung des Protestantismus in Europa mit zu denken. D.h., dass das Thema 'Die Kirchen und der europäische Integrationsprozess' uns auf mehreren Ebenen intensiv beschäftigt.

Einleitung

In Europa stehen wir zurzeit vor der Aufgabe, zu verstehen und zu gestalten, wie die Menschen auf diesem Kontinent in Zukunft zusammenleben können.
Das Christentum hat Europa geprägt – aber Europa ist nicht nur das sogenannte „christliche Abendland“. Die Geschichte dieses Kontinents ist älter. Die europäischen Werte sind auch geprägt durch griechische und jüdische, durch römische und muslimische Erfahrungen, um nur einige zu nennen. Europa ist kein klar abgegrenzter Raum, weder geographisch noch politisch, kulturell oder gar religiös. Es gab nie ein homogenes christliches Europa und das gegenwärtige und zukünftige Europa wird pluralistisch sein.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union stehen die Kirchen vor ganz neuen Herausforderungen.

I. Grundzüge des europäischen Handelns der Kirchen 

Ich spreche zunächst von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihr geht es im Integrationsprozess um folgendes:
(1) Versöhnung und Frieden für den gesamten Kontinent; die schrittweise Erweiterung der Europäischen Union,

(2) Vertiefung der Kirchengemeinschaft zwischen den evangelischen Kirchen, Vertiefung der Beziehungen zu den Schwesterkirchen in West- und Osteuropa einschließlich der Orthodoxie, Ausbau kirchlicher Partnerschaften und Kooperationen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie grenzüberschreitende Zusammenarbeit

(3) Eintreten für Menschenrechte, Wahrnehmung sozial-ethischer Fragen wie sozialer Ausgleich, Migration und Flucht, Umwelt, Entwicklungspolitik, Bioethik im Lichte des christlichen Menschenbildes;

(4) Die Wahrnehmung institutioneller Interessen. Dazu gehört auch die Wahrung des gemeinnützigen Status der Diakonie.


Wie andere Kirchen auch geht die EKD verschiedene Wege um sich auf europäischer Ebene einzubringen und die oben genannten Ziele umzusetzen. Dies geschieht einerseits durch multilaterale Beziehungen, anderseits durch die Mitarbeit in europäischen ökumenischen Gemeinschaften, sowie durch Beziehungen zur politischen Ebene der Europäischen Institutionen, wie sie durch das Büro der EKD in Brüssel wahrgenommen werden.

1. Bi- und multilaterale Beziehungen

Seit Jahrzehnten besuchen sich Menschen aus Gemeinden und Gruppen über Grenzen hinweg, um sich kennen zu lernen, um Freundschaften entstehen zu lassen und einander zu unterstützen. Das ist die Basis der Versöhnung in Europa und ein unersetzlicher Beitrag zum Zusammenwachsen dieses Kontinentes. Die Landeskirchen und die EKD führen und fördern darüber hinaus multilaterale Gespräche, Konsultationen und Tagungen.
Ein weiterer wichtiger Bereich in diesem Zusammenhang sind für uns die deutschsprachigen Auslandsgemeinden - als Orte der Beheimatung und der Begegnung mit Kulturen, ökumenischen Partnern und Menschen, mit denen zusammen wir Europa gestalten.

Die vielen bi- und multilateralen Beziehungen sind ein wichtiges Element für das gegenseitige Verstehen im Blick auf die Vergangenheit und für das gemeinsame Engagement für Versöhnung in Europa, sie geben Gelegenheit, die europäische Idee und Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und ermöglichen das Kennenlernen der Anliegen von Kirchen in anderen gesellschaftlichen und kirchlichen Situationen, aber auch Hilfe für Menschen in Not und beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen.

2. Bisheriges Engagement der Kirchen auf europäischer Ebene

Ein weiteres Instrument ist die Mitarbeit und das Engagement der EKD in verschiedenen ökumenischen Gemeinschaften auf europäischer Ebene.
In Europa hat sich ein Netzwerk unterschiedlicher bi- und multinationaler Beziehungen und Mitgliedschaften in regionalen, Europa- und weltweiten, konfessionellen und konfessionsübergreifenden Kooperationen und Bünden entwickelt, in ihnen wird über Europa diskutiert, wird gefragt danach, wie wir uns im neuen Europa verstehen!

a) Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) - Leuenberger Kirchengemeinschaft ist der Zusammenschluss der ca. 100 lutherischen, reformierten, unierten und methodistischen Kirchen, die sich seit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie im Jahre 1973 gegenseitig Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gewähren. In Form von Lehrgesprächen bringt sich die GEKE in die Diskussion über die Zukunft der Kirchen in Europa ein. Eine dieser Lehrgesprächsgruppen erarbeitet gerade ein Papier zur „Gestalt und Gestaltung protestantischer Kirchen in einem sich verändernden Europa“. Die Frage nach Gestalt und Gestaltung europäischer Kirchen ist der Einsicht, dass der Grund der Kirchen in Gottes Heilshandelns in Jesus Christus liegt, nachgeordnet. Diese Unterscheidung zwischen dem Glaubensgrund der Kirche und den Formen von Kirchen schafft Gestaltungsfreiraum. Der Auftrag an diese Lehrgesprächsgruppe besteht darin, sich über die Kriterien der Gestaltung theologisch zu verständigen und in einer Studie klarzustellen, was die Spezifika von Kirchengemeinschaft in reformatorischer Sicht sind. Dies ist notwendig aufgrund der gegenwärtigen Transformationsprozesse in der Gesellschaft und den Kirchen Europas. Es geht vor allem darum, wie die Verbindlichkeit der Gemeinschaft nach innen gestärkt wird – gerade auch im Hinblick auf die gegenseitige Konsultation bzw. gemeinsame Abstimmung vor theologisch relevanten Entscheidungen – und wie das Profil der evangelischen Kirchen nach Außen wahrnehmbar gestärkt wird. Dazu gehört auch, die strukturierte Zusammenarbeit mit der KEK (s.u.) auszuweiten. Ein wichtiger Schritt dazu ist, dass ab 1.9. 2004 ein Pfarrer der württembergischen Landeskirche im Auftrag der GEKE im Brüsseler Büro der KEK mitarbeiten wird, um die Kommunikation der europäischen Themen in die Signatarkirchen und umgekehrt der Ergebnisse von Beratungen in der GEKE in die KEK hinein zu verstärken.

Eine andere Lehrgesprächsgruppe beschäftigt sich mit dem evangelischen Profil im missionarischen Auftrag der Kirchen in Europa. Die Kirchen in Europa sehen sich gemeinsam der Herausforderung gegenüber, den Menschen in Europa das Evangelium zu verkündigen, so wie es auch die Charta Oecumenica als wichtigste Aufgabe sieht. Die Lehrgesprächsgruppe fragt sich, ob die reformatorischen Kirchen dabei ein spezifisches Profil haben und wie dies in einer Kirchengemeinschaft wie der GEKE möglich ist.

b) In der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) sind 127 anglikanische, reformatorische, orthodoxe und altkatholische Kirchen aus allen europäischen Ländern zusammengeschlossen, d.h. dass alle evangelischen Kirchen Europas, die die Leuenberger Konkordie unterzeichnet haben, Mitglieder der KEK sind. Wesentliche Funktion der KEK mit Sitz in Genf und Büros in Straßburg und Brüssel ist der theologische Dialog und die Zusammenarbeit der nicht-katholischen Kirchen aus allen europäischen Ländern.

Dass sie vor mehr als 40 Jahren im dänischen Nyköbing gegründet wurde, war Zeichen der Versöhnung der europäischen Kirchen in Nord und Süd, Ost und West nach dem Desaster des Holocaust, des 2. Weltkrieges, der Vernichtungsfeldzüge der deutschen Wehrmacht und damit auch des Versagens der deutschen evangelischen Kirche. Die KEK hat dann ihre besondere Bedeutung darin bekommen, Gemeinschaft über politische Gräben hinweg aufzubauen und aufrechtzuerhalten, gerade auch zu den Kirchen in den Ländern jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs und der heutigen EU -Außengrenze.

In einem behutsamen Prozess wurde die Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS) - bis dahin die Interessenvertretung vor allem west- und südeuropäischer Kirchen gegenüber den EU-Institutionen - in die KEK integriert. 1999 entstand so die 'Kommission Kirche und Gesellschaft' (CSC) der KEK. Ziel dieses Zusammenschmelzens war vor allem als Kirchen Europa zu begreifen und mitzugestalten 'als Kontinent zwischen Atlantik und Ural, zwischen Nordkap und Mittelmeer', (S. 4) wie es in der Charta Oecumenica heißt - und nicht zerfallen zu lassen in einen 'integrierten Westen und einen desintegrierten Osten' (S.9). Eng zusammen mit der CSC arbeitet das Büro der EKD in Brüssel, das eingerichtet wurde, um die spezifischen Aspekte, die sich aus dem deutschen Staat-Kirche-Verhältnis ergeben, auch auf europäischer Ebene zu begleiten.

Der Versöhnungsauftrag der Kirchen macht heute das Engagement für die, die Opfer der europäischen Einigungsprozesse sind, unabdingbar. Das heißt, dass alle Entwicklungen in Europa daraufhin befragt werden müssen, was für Werte ihnen zugrunde liegen und - damit zusammenhängend - was sie bedeuten für die Schwächsten
- in den EU-Ländern,
- in den Beitrittsländern,
- in den Ländern, die zunächst oder gar auf Dauer außen vor bleiben sollen.

Und natürlich muss auch im Blick bleiben, welche Folgen die Entscheidungen auf EU-Ebene für das Engagement und die Rolle der Kirchen haben werden.

So wollen die Mitgliedskirchen der KEK gemeinsam beitragen zur Bewusstseinsbildung, zur Entstehung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses, zu bürgernahen Entscheidungsprozessen, zur Einhaltung der Menschenrechte, zum Entstehen demokratischer Gesellschaften.

In vielen Ländern - Beitrittsländern und erst recht Nicht-Beitrittsländern - sind diese Themen nicht Teil des Selbstverständnisses der Kirchen - und es wird in dieser Hinsicht auch z.T. noch immer wenig von ihnen erwartet. Andererseits sind sie eine der Institutionen, die gesellschaftliches Bewusstsein prägen und diese Aufgabe bewusst gestalten müssen, wollen sie sich nicht instrumentalisieren lassen.

In der Kommission für Kirche und Gesellschaft (CSC) und ihren Arbeitsgruppen sind nun Vertreter/innen aus allen europäischen Kirchen, um zu folgenden Themen zu arbeiten:

- europäischer Einigungsprozess,
- gemeinsame Sicherheit und Abrüstung,
- Nord-Süd-Beziehungen,
- Beziehungen zwischen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fragen,
- Landwirtschaft und ländliches Leben,
- Menschenrechte und Religionsfreiheit,
- Gesetzgebung der EU,
- Bioethik,
- Ethnie, Religion und darin begründete Konflikte.

Weitere Problembereiche, in denen die Zusammenarbeit aller Kirchen über die EU-Grenzen hinaus unabdingbar ist, seien hier nur stichwortartig genannt:
- Das Problem der Gewalt gegen Frauen, insbesondere des Menschenhandels
- die Umweltproblematik
- und die Friedens- und Versöhnungsarbeit in Südosteuropa als Beitrag der Kirchen zum Stabilitätspakt.

c) Das Pendant der CSC auf katholischer Seite ist die Kommission europäischer Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). Ihre Aufgabe besteht ebenfalls darin, die politischen Entwicklungen in der Europäischen Union zu beobachten und zu analysieren, innerhalb der Kirche über die Entwicklungen der EU-Politik und -Rechtssetzung zu informieren und auf der Grundlage der kirchlichen Soziallehre die Reflektion über die Herausforderungen eines vereinten Europas zu fördern.

Die KEK arbeitet mit dem römisch-katholischen Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) zusammen. Wichtige Daten dieser Kooperation sind die großen Ökumenischen Versammlungen in Basel (1989) und Graz (1997). Auch das Thema der 2. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz war 'Versöhnung'. Tausende von Menschen, Kirchenleitende und die Basis der Kirchen aus Gemeinden und Gruppen waren dort zusammengekommen, um über ihren Beitrag als Christinnen und Christen zu Versöhnung in dem von Konflikten zerrissenen Europa zu beraten.

Unter den Verabredungen, die die Delegierten trafen, war auch das Vorhaben, gemeinsam eine Charta Oecumenica, d.h. die ökumenische Selbstverpflichtung, zu verfassen, die nach einer intensiven Konsultationsphase entstand und 2001 von den christlichen Kirchen Europas unterzeichnet wurde. Sie bekräftigt, dass die Herausforderungen im zusammenwachsenden Europa eine Aufgabe für Menschen aller Konfessionen bedeuten, denen sich die Kirchen gemeinsam stellen müssen - sowohl in bezug auf die Verkündigung der frohen Botschaft als auch im Engagement für Gerechtigkeit und Versöhnung.


II.  Aktuelle Situation 

„Die Kirchen in Europa fördern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit. Als Kirchen und als internationale Gemeinschaften müssen wir der Gefahr entgegentreten, dass Europa sich zu einem integrierten Westen und einem desintegrierten Osten entwickelt. Auch das Nord-Süd-Gefälle ist zu beachten. Zugleich ist jeder Eurozentrismus zu vermeiden und die Verantwortung Europas für die ganze Menschheit zu stärken, besonders für die Armen in der ganzen Welt." (S.9)

 So heißt es in der Charta Oecumenica. Das wird darin konkret, dass sich die Kirchen engagiert in die Debatte um die Zukunft der europäischen Union einmischen.

1. Herausforderungen, die sich aus dem Prozess um eine Europäische Verfassung ergeben

a)  Religion kommt im Europäischen Verfassungsvertrag, der im Juli verabschiedet wurde, an drei Stellen vor:

  • in der Präambel
  • im sogenannten „Kirchenartikel“, dem Art. 51
    und
  • in der Präambel und im Art. 10 der Charta der Grundrechte, die als Teil II
    in den Verfassungsvertrag aufgenommen wurde.

Daraus ergaben und ergeben sich Herausforderungen, aber auch Chancen für die Kirchen in Europa, an der Gestaltung der Europäischen Union mitzuwirken.
Interessant finde ich, dass fast zeitgleich mit dem Prozess um die Entstehung der Charta Oecumenica, der von der Europäischen Union berufene Konvent an der Grundrechte-Charta der EU arbeitete.
Unumstritten ist bei beiden Dokumenten, der Charta Oecumenica und der Charta der Grundrechte, dass „gemeinsame Werte“ eine grundlegende Bedeutung für den europäischen Einigungsprozess haben. Das Gespräch darüber, woher diese Werte abgeleitet sind, wie sie zu beschreiben und wieweit sie festzuschreiben sind, ist innerhalb der Kirchen, unter ihnen, als auch im Gespräch mit den Partnerinnen und Partnern in den europäischen Institutionen ein zentrales Thema.

Die europäische Verfassung enthält den sog. „Kirchenartikel“, den Artikel 51.
Die ersten beiden Absätze dieses Artikels lauten:

(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und lässt ihn unangetastet.

(2) Die Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.
Diese Absätze sind die Übernahme der Erklärung 11 des Amsterdamer Vertrags und gewährleisten, dass durch europäisches Gesetz nicht in die nationale Gestaltung des Verhältnisses Staat – Kirche eingegriffen wird, solange die individuelle und kollektive Religionsfreiheit aller Menschen in einem Mitgliedsstaat respektiert wird. In allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist die Religionsfreiheit in den Rechtsordnungen garantiert. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist ein wesentliches Merkmal der Freiheit im Verhältnis zum Staat.
 
Artikel 51 hat noch einen dritten Absatz:
(3) Die Union pflegt in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags dieser Kirchen und Gemeinschaften einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen.

Absatz 3 trägt dem Rechnung, dass die Europäische Union eine breitestmögliche Partizipation der Bürgerinnen und Bürger anstrebt. Zu diesem Zweck steht sie im Dialog mit der Zivilgesellschaft und entwickelt diesen weiter. Kirchen und Religionsgemeinschaften bringen in diesen Dialog ihre besonderen Erfahrungen aus ihrem Wirken auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene ein, die so unterschiedliche Felder wie Sozialpolitik, Migration, Entwicklungspolitik, Erziehung und Seelsorge betreffen. Absatz 3 erkennt die besondere Identität von Kirchen und Religionsgemeinschaften und ihre besonderen Beiträge, also ihr öffentliches Wirken, an.

Bisher gab es diesen Dialog zwischen der EU-Kommission auf der einen und KEK und COMECE auf der anderen Seite als unverbindliche, halbjährliche Konferenzen zu Themen der jeweiligen Ratspräsidentschaft, als Besprechungen auf Arbeitsebene und Begegnungen mit der jeweils neuen Ratspräsidentschaft.

Es wird darauf ankommen, angemessene Gestaltungsformen für die in der Verfassung verankerte Selbstverpflichtung der EU zu finden. Und es wird darauf ankommen, alle bisherigen Zugänge zu der Arbeit der Kommission zu erhalten und zu verhindern, dass die Kommission von sich aus definiert, wer als Kirche akzeptiert wird und in welcher Form am Dialog partizipieren darf.
In dem Vertragsentwurf für einen strukturierten Dialog besteht also eine Chance, aber auch eine weitere Herausforderung für die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Europa.

b)  Die Entscheidung für die Annahme der Verfassung ist gefallen, am 18. Juni 2004 haben sich die Regierungschefs der 25 Länder der Europäischen Union auf einen Verfassungsvertrag geeinigt. Ein besonders engagiert diskutiertes Thema war, ob die Präambel einen Bezug auf die Verantwortung vor Gott und einen Bezug auf die christlichen Wurzeln Europas enthält.

Die irische Ratspräsidentschaft hatte wenige Tage zuvor neben Kompromissvorschlägen für die anderen strittigen Artikel auch einen Vorschlag für die Präambel vorgelegt. Dieser beinhaltete zwar weder einen Bezug auf Gott noch die ausdrückliche Nennung des christlichen Erbes Europas, aber er nahm einen Argumentationsstrang auf: von Seiten der Kirchen hatten wir eingewandt, dass eine so ausführliche Präambel, die differenziert zurückblickt auf die Jahrhunderte, wie es bisher im ersten Abschnitt der Präambel formuliert war und bei der Nennung des Humanismus endete, das Christentum nicht unterschlagen werden dürfe. Dieser erste Abschnitt ist nun gestrichen - die Bezugnahme auf die Europa prägenden Traditionen also sehr viel kürzer.
Der Beginn ist nun folgendermaßen: 'Drawing inspiration from the cultural, religious and humanist inheritance of Europe, from which have developed the universal values of the inviolable and inalienable rights of the human person, democracy, equalitiy, freedom and the rule of law....
Believing that Europe, reunited after bitter experiences, intends to continue along the path of civilisation, progress and proeprity, for the good of all inhabitants, including the weakest and most deprived...'

c)  Die Konferenz Europäischer Kirchen hat die Tatsache, dass es zu einer Einigung kam, begrüßt und folgende Aspekte unterstrichen:

  • Die Europäischer Union bekennt sich zu den Werten, wie sie in der Charta der Grundrechte ausformuliert sind;

  • diese haben rechtlich bindende Kraft, etwa im Blick auf den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte;

  • die Verfassung definiert genauer die Kompetenzen der EU-Institutionen und der Mitgliedsstaaten, stärkt die Rechte des Europaparlaments und der Zivilgesellschaft und kann so zu mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger im europäischen Integrationsprozess führen;

  • die soziale Dimension der Europäischen Union ist gestärkt;

  • die Kirchen begrüßen den Artikel I.51, in dem die Union ihren Status und ihre besondere Identität respektiert und sich zu einem offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog verpflichtet. Die KEK kündigt an, weiterhin das Ihre dazu zu tun, dass dieser Dialog mit Leben gefüllt wird;

  • angesichts der Verpflichtung auf Frieden und Sicherheit (Art. I.3) ist bedauerlich, dass die Verfassung nur die Verstärkung der militärischen Kapazitäten benennt (Artikel I.40) statt auch die Beschlüsse zu Konfliktprävention, wie sie der Europäische Rat in Göteborg 2001 gefasst hat;

  • der Ausgang der Europawahlen hat gezeigt, dass es noch nicht gelungen ist, Europa den Menschen näher zu bringen. Umso wichtiger ist nun, die Annahme der Verfassung zu nutzen und

  • und die Kirchen bedauern, dass es in der Präambel keinen Bezug auf die christlichen Wurzeln Europas gibt.
    Nun wird es darauf ankommen, dass die Verfassung in allen 25 Mitgliedsstaaten - gemäß ihren je eigenen Regeln - von den Parlamenten oder durch ein Referendum angenommen wird. Wir sollten überlegen, ob wir als Kirchen nicht diesen Prozess unterstützen sollten - und wir stehen vor der großen Herausforderung, das, was sich als Möglichkeit für uns als Kirchen in Europa ergibt, nun auch zu nutzen.


2.  Spezifische Herausforderungen, die sich aus dem europäischen Integrationsprozess ergeben

a) Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und ihre Folgen für die Kirchen

Die Europäische Union hat seit dem 1. Mai 2004 25 Mitgliedsländer.
Die religiösen Prägungen der Beitrittsländer sind unterschiedlich - und sie unterscheiden sich zum Teil von denen der westeuropäischen Mitgliedsstaaten. Vor allem in den baltischen Ländern, aber auch in der Tschechischen Republik ist ein Großteil der Bevölkerung ohne religiöse Prägung oder bezeichnet sich selbst als atheistisch. Mit den wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozessen in diesen Gesellschaften geht einher, dass sich den Menschen eine Vielzahl von weltanschaulichen Optionen bietet. Es ist damit zu rechnen, dass die Frömmigkeit und die Zugehörigkeit zur Kirche oder Weltanschauung nicht mehr durch die Herkunft und die Tradition vermittelt werden, sondern dass man sich auf dem Markt der Weltanschauungsangebote frei orientiert.

Viele Kirchen in Mittel- und Osteuropa nehmen eine sehr ambivalente Haltung gegenüber der neueren gesellschaftlichen Entwicklung ein. Auf der einen Seite hat die Entwicklung, die Ende der 80er, Anfang der 90er eingeleitet worden ist, zu Befreiung von Unterdrückung, zu einem Ende der Bevormundung, des Druckes und des Versuches, Religion aus der Gesellschaft zu eliminieren, geführt. Andererseits haben die Menschen das Empfinden, jetzt auf einmal einer anderen Form von Atheismus ausgesetzt zu sein; einer westlichen Gesellschaft, die geprägt ist durch Kommerzialisierung ; einer Gesellschaft, in der religiöse Werte im Alltag keine Rolle spielen; einer Gesellschaft, die arm und reich gnadenlos gegeneinander ausspielt. Jahrzehntelang hat man sich dagegen wehren müssen, dass die kommunistische Diktatur die Kirche zerstören wollte. Nun meint man sich dagegen wehren zu müssen, dass ein westlicher Atheismus die Gesellschaft zersetzt. Die Identität der Kirchen wird deshalb häufig in der Abgrenzung von gesellschaftlichen Prozessen beschrieben, in der Abgrenzung von dem, was sich sozusagen als moderner Kapitalismus entwickelt.

Die evangelischen Kirchen in den allermeisten Beitrittsländern sind (abgesehen von den Sondersituationen in Estland und Lettland) Minderheitskirchen. Größtenteils kleine Kirchen, zumeist mit einer dominierenden römisch-katholischen Kirche, die schon aufgrund ihrer Tradition und Größe Öffentlichkeitswirkung hat. Aber die evangelischen Kirchen unterliegen genau denselben Herausforderungen wie die anderen Kirchen auch: Es gilt, in der Öffentlichkeit darzustellen, wofür sie stehen; in der Öffentlichkeit zu sagen, was die eigene Botschaft ist. Das ist eine Herausforderung, sich zu profilieren um wahrgenommen zu werden.

In dieser Situation liegen für die Kirchen sowohl Chancen als auch Gefahren, Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten.

Die Menschen brauchen die evangelische Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen. Sie macht sie frei und gibt ihnen Orientierung, damit sie in einer individualisierten offenen Gesellschaft ein verantwortetes Leben vor Gott und vor ihren Mitmenschen führen können. Die evangelischen Kirchen haben ein Pfund, mit dem sie wuchern können.

Aber in manchen evangelischen Diasporakirchen im östlichen Europa wachsen die Tendenzen zu Konfessionalismus und Dogmatismus, die Tendenzen, sich abzuschotten von diesen Individualisierungs- und Säkularisierungsschüben, und darin etwas Feindliches zu sehen. Das theologische Programm der Missouri-Synode aus den USA hat in dieser Situation für manche Kirchen einige Attraktivität. In den zwischenkirchlichen Beziehungen ist dies ein kritisches Thema, eines an dem deutlich wird, dass wir im westlichen und östlichen Europa noch weit voneinander entfernt sind. Ein schmerzliches Beispiel ist die Erklärung der polnischen Bischofskonferenz vom Dezember 2003, in der nicht nur die Absage an die Frauenordination in der eigenen Kirche bestärkt, sondern auch darauf hingewiesen wird, dass dies auch bedeutet, nicht an Gottesdiensten von Partnerkirchen teilzunehmen, an denen ordinierte Frauen mitwirken – eine fundamentale Infragestellung der in der Leuenberger Konkordie unterzeichneten Kirchengemeinschaft.

b) Grenzen überschreiten
Die Kirchen stellen sich gemeinsam den neuen Aufgaben:
Ein wichtiges Motiv ist zu verhindern, dass die Europäische Erweiterung neue Schranken zwischen EU-Mitglieds- und den Nichtmitgliedsländern schafft, wie den neuen `Westlichen Unabhängigen Staaten´ (gemeint sind die westlichen Länder der GUS: Russische Föderation, Belarus, Ukraine, Moldova).

In diesen Ländern werden die gesellschaftlichen Transformationsprozesse vermutlich deutlich langsamer ablaufen als in den Beitrittsländern, aber die Spannungen werden innerhalb dieser Gesellschaften deswegen nicht geringer ausfallen. Das hat zur Folge, dass an der zukünftigen EU-Ostgrenze, wo viele Jahrzehnte in etwa vergleichbare Systeme und Strukturen aufeinander trafen, die wirtschaftlichen und sozialen Differenzen, die humanitären und die gesellschaftlichen Trennungen wachsen werden. Darum müssen die Kirchen in diesen Ländern über Möglichkeiten nachdenken, wie sie dazu beitragen können, die Grenzen zu überwinden, zu einer Vertiefung der Gräben keinen weiteren Anlass zu geben, sondern, wo es geht, sie zuzuschütten.

So wurde im deutsch-polnischen Kontaktausschuss zwischen dem polnischen ökumenischen Rat und der EKD beschlossen, ein Projekt in die Wege zu leiten, dass eine Betriebsverlagerung von Hameln in die Nähe von Breslau nach Klodzko begleitet und analysiert, was geschieht, wenn die Arbeitsplätze, die Lebenschancen also, aus Deutschland nach Polen wandern. Außerdem wurden zusammen mit dem Polnischen Ökumenischen Rat und mit der Deutschen Römisch-Katholischen Bischofskonferenz Schritte unternommen, um über die zukünftige Außengrenze der EU hinweg die Kirchen aus der Ukraine, aus Belarus und Polen an einen Tisch einzuladen und die Lasten der Vergangenheit gemeinsam aufzuarbeiten - etwas, was wir in der Ökumene als 'healing memories' beschreiben.

Auch im Bereich des ehemaligen Jugoslawien gibt es ermutigende Zeichen der Versöhnung. Mit der Serbischen Orthodoxen Kirchen führen DBK und EKD jährliche Tagungen durch, die als Dialogplattform für Kirchen, Regierungsvertreter, Politiker und Träger humanitärer und diakonischer Hilfe aus Serbien und Deutschland dienen.
 
Im November 2003 fand die 5. Serbien-Tagung zum Thema „Kirche und Identität“ statt. Es war die erste dieser Tagungen, die in Serbien direkt, nämlich in Belgrad stattfand, was für die Intensivierung des ökumenischen Dialogs von großer Bedeutung ist. Die Tagung ist ein Beispiel für die zahlreichen Begegnungen und Gespräche, die auf europäischer Ebene stattfinden und den Dialog fördern, so wie es die Charta Oecumenica verlangt.

Dort heißt es: „Wir verpflichten uns, den Dialog zwischen unseren Kirchen auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen gewissenhaft und intensiv fortzusetzen und...bei Kontroversen, besonders wenn bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangeliums zu erörtern.“ (II.6) 
In Belgrad wurde während der Tagung die Charta Oecumenica erstmals in serbischer Sprache präsentiert.

c)  Herausforderungen angesichts eines multireligiösen Europas
Die Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Lebensformen ist ein Merkmal der Kultur Europas gewesen und geworden.
Menschen anderer Glaubensgemeinschaften sind Teil unserer europäischen Identität. Viele, wie zum Beispiel Juden und Muslime, leben seit Generationen in den Ländern Europas, andere sind durch Migration nach Europa gekommen.

Uns Christinnen und Christen ist bewusst, dass uns eine einzigartige Gemeinschaft mit dem Judentum verbindet. Es ist wichtig, diese tiefe Verbindung zwischen Judentum und christlichem Glauben auszudrücken. Darum enthält die Charta Oecumenica die Selbstverpflichtung „allen Formen von Antisemitismus und Antijudaismus in Kirche und Gesellschaft entgegenzutreten und auf allen Ebenen den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen und zu intensivieren.“

Ebenso muss der Dialog mit dem Islam intensiviert werden. Vorbehalte und Vorurteile müssen abgebaut werden, damit gute Kontakte und Nachbarschaft, die es bereits an vielen Stellen zwischen Muslimen und Christen gibt, ausgebaut werden können. Und wir müssen ehrlich und deutlich miteinander über unser jeweiliges Verständnis des Glaubens sprechen, über die Beziehung von säkularem und religiösem Lebensraum und das Verständnis der Menschenrechte klären, so verpflichten sich die europäischen Kirchen in der Charta.

Auch östliche Religionen und neue religiöse Gemeinschaften breiten sich in Europa aus und finden das Interesse vieler Menschen. Die Charta ruft dazu auf, kritische Anfragen an die christlichen Kirchen ernst zu nehmen und uns gemeinsam um eine faire Auseinandersetzung zu bemühen.

All diese Aussagen sind nur glaubwürdig vor dem Hintergrund dessen, dass in den ersten beiden Kapiteln der Charta Oecumenica von dem Zentrum unseres gemeinsamen Glaubens als Kirchen in der Nachfolge Christi die Rede ist - und dem Willen, die Gemeinschaft der Kirchen in Europa sichtbar zu leben.

III.FAZIT

Durch die aktuellen europäischen Entwicklungen ergeben sich Herausforderungen für die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Kirchen wollen diese Chancen zur Gestaltung nutzen. Sie sind nah bei den Menschen, teilen ihre Belastungen und Hoffnungen und setzen sich für die Versöhnung zwischen den Menschen und Völkern ein. Um Einfluss auf den europäischen Integrationsprozess zu nehmen, müssen sie ihr Konzept der „Versöhnten Verschiedenheit“ überzeugend leben. Interessant ist, dass dieses Konzept der europäischen Kirchen gewissermaßen beispielhaft ist für den europäischen Integrationsprozess auch auf politischer Ebene.

Im Dezember 2000 wurde in Brüssel die Kapelle Van Maerlant eingeweiht – als ein Ort geistlichen Lebens und ökumenischer Begegnung mitten im Brüssel der europäischen Institutionen. Die mit viel Idealismus und Engagement renovierte alte Kapelle liegt zwischen den riesigen Bauten und Bürotürmen, die in den letzten Jahrzehnten dort entstanden und den Zuwachs an Bedeutung und Aktivitäten der Europäischen Union symbolisieren. Die Kapelle ist im Besitz einer römisch-katholischen Gemeinschaft, dient als Ort des Gebetes und für Veranstaltungen und wird getragen von einem ökumenischen Beirat, dem die Leiterin des Brüsseler EKD-Büros vorsitzt und in dem u. A. die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), die COMECE, das Ökumenische Patriarchat, die Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands, die Vereinigte Protestantische Kirche Belgiens und der Ökumenische Rat Brüssel zusammenarbeiten. Ein gelungenes Beispiel dafür, dass die Kirchen auch geistlich gemeinsam Zeugnis geben wollen und damit dazu beitragen, dass Europa die befreiende Botschaft des Evangeliums hört und Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden verwirklicht.

Antje Heider-Rottwilm, Oberkirchenrätin
Leiterin der Europaabteilung im Kirchenamt der EKD