Predigt im ZDF-Gottesdienst aus St. Nikolai in Frankfurt (Main)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde hier in St. Nikolai und vor den Fernsehgeräten,

vor Gott halten wir inne am ersten Sonntag dieses neuen Jahres. Vor unseren Augen steht das Leiden von Millionen von Menschen. Menschliches Leben wurde abgebrochen, Millionen  büßten Hab und Gut ein, ganze Regionen sind von Seuchen bedroht. Rund um den Indischen Ozean, von Sumatra bis an die Ostküste Afrikas zog ein Tsunami seine tödliche Spur. Noch immer kennen wir die Zahl deutscher Touristen unter den Toten nicht. Wir zittern mit ihren Angehörigen. Wir bitten für die Helferinnen und Helfer, die Überlebende finden wollen und oft nur noch auf Tote stoßen. Wir bringen unsere Klage vor Gott. Wir halten inne und suchen Orientierung und Halt in seinem Wort.

In seinem Brief an die christliche Gemeinde in Rom schreibt der Apostel Paulus:

Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Aber der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? In dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Gott segne dieses Wort an uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde! Ein Schrei geht durch die Schöpfung. Die Erde bäumt sich auf. Angst und Seufzen erschüttern die Erde. Nein, sie zerreißt nicht, aber sie bebt. Wir hatten es wieder vergessen, dass die Erdkruste in ständiger Bewegung ist. Wir hatten den Globus, auf dem wir leben, wie eine tote Masse betrachtet, obwohl sich seine tektonischen Platten seit Jahrmillionen gegeneinander verschieben. Dann plötzlich dieser Schrei. Die Natur fordert ihr Recht. Nicht weil sie böse wäre. Aber sie ist mehr als ein gefügiges Material in menschlichen Händen. Sie lässt sich nicht mutwillig herausfordern. Auch wenn wir meinen, ihre Gesetze zu kennen, lässt sie sich doch nicht bis ins Letzte berechnen. Plötzlich seufzt sie. Plötzlich dieser Schrei.

Mit dem Wanken der Erde wanken auch menschliche Lebensräume. Die rasende Flut verschlingt Menschen, die doch nur im Wasser spielen wollten. In Sekundenschnelle verbreiten sich durch die Wucht der Welle Tod und unermessliches Leid.

Mich lassen die Fragen der seufzenden Schöpfung nicht los:

Was heißt es, nach vermissten Angehörigen, Kindern und Eltern, zu suchen, um sie zu bangen – wenigstens um Gewissheit haben zu können! – und zu hoffen?

Was bedeutet es für Helferinnen und Helfer, Menschen dort beizustehen, wo Straßen- und Wegenetz bis zur Unkenntlichkeit zerstört sind – und wo doch Hilfe so dringend erwartet wird?

Wie ist es zu fassen, dass Menschen in Millionenzahl ohne Obdach, ohne Haushalt, ohne Boote, Fischernetze oder andere Geräte ganz von vorne beginnen müssen – wo doch alle wirtschaftliche Kraft für einen Neubeginn fehlt?

Warum ist unsere globale Welt so geteilt? Warum fehlt in Südasien ein Warnsystem, das Menschen vor den tödlichen Folgen einer solchen Flutwelle bewahrt, während es im Pazifik zur Verfügung steht? Warum meinen Menschen immer wieder, sie könnten die Schönheit der Natur ohne ihre Schrecken haben – und lassen sich dort nieder, wo sie der Gewalt der Wellen hilflos preisgegeben sind?

Fragen über Fragen. Viele Menschen sind in diesen Tagen der Verzweiflung nahe oder werden von ihr überwältigt.

Wenn die Helfer mehr sehen und mehr hören, als sie vertragen können.

Wenn die Kraft der Menschen entlang der Küste des Indischen Ozeans im täglichen Kampf ums Überleben zum Beten nicht mehr reicht.

Wenn das Warten auf Nachricht und das Zittern um die Allernächsten über die eigenen Kräfte geht.

Wie ein Halt auf schwankendem Grund, wie ein Schifffahrtszeichen auf offenem Meer begegnet uns mitten in unserem Fragen und Klagen die Zusage aus Gottes Wort: Wir wissen nicht, was wir beten sollen; aber der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Gottes Geist macht sich unser Klagen und Seufzen zu Eigen.

Wo wir ungläubig und sprachlos auf die Schrecken dieser Tage schauen, steht er uns mit unaussprechlichem Seufzen bei.

Wo unser Herz eingeschnürt und unser Mund verschlossen ist, gibt ein anderer unserer Klage Raum.

Wo unsere Seele nicht nachkommt, ist Gottes Geist schon da und vertritt uns.

Wo unsere Hoffnung zerbrochen ist, hält er den Raum der Hoffnung offen.

Wo Menschen angesichts von Tod und Leid verzagen, tritt Gott selbst neben die Verzagten, neben Einheimische, Reisende oder Helfer.

Ihm werfen wir uns in die Arme. Er trägt uns.

Aus der Tiefe kommt es, wenn wir mit Paulus bekennen, dass weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Aus Liebe kommt Gott uns Menschen nahe; unsere Dunkelheiten spart er dabei nicht aus. Daran erinnert Jahr für Jahr die Weihnachtszeit. Gott will im Dunkeln wohnen und hat es doch erhellt. So singen wir in dieser weihnachtlichen Zeit.  Unserem Aufbegehren gegen den unzeitigen, gewaltsamen, massenhaften Tod im Indischen Ozean weicht Gott nicht aus. Unsere Klage wird nicht durch weihnachtliche Romantik übertönt. Mit dieser Klage fliehen wir zu Gott, der die Liebe ist und sich zu dieser Weihnachtszeit in dem Kind in der Krippe als die Liebe zeigt. Erschrocken über das Unbegreifliche rufen wir nach Gottes Allmacht und fragen, wie sie sich zeigt. Sie zeigt sich in seiner Liebe. Auch Gottes Allmacht verstehen wir erst richtig mit dem Blick in die Krippe, mit dem Blick an das Kreuz. Gott schneidet in seiner Allmacht nicht alles Böse und Unbegreifliche im Vorhinein aus dem Lauf der Dinge heraus. Gott begegnet uns als Liebe, damit wir angesichts des Unbegreiflichen  Halt und Orientierung finden.

Der Blick auf Gottes Liebe hilft uns dabei, auch in Unglück und Tod auf Menschlichkeit und Nähe zu achten. Eine Luftbrücke der Nächstenliebe ist in den letzten Tagen entstanden. Der Frankfurter Flughafen gehört zu dieser Luftbrücke der Nächstenliebe. So wie dort Tag für Tag Passagiere aus aller Welt und in alle Welt unterwegs sind, so ist er jetzt auch ein Umschlagplatz der weltweiten Hilfe. Lazarettflugzeuge haben in diesen Tagen Hunderte von Verletzten in die Heimat transportiert. Tag und Nacht sind Helferinnen und Helfer unermüdlich im Einsatz. Angehörige haben einen Flug gesucht und gebucht, um ihre Liebsten selbst aufzuspüren.

Ich höre das Gebet für die Toten und die Fürbitte für die Lebenden – ein Gebet, das die ganze Welt umspannt.

Ich denke an die Menschen vor Ort, die, obwohl selbst in äußerster Not, helfen, wo sie können – so berichten es viele der Heimgekehrten.

Meine Gedanken gehen zu den Helferinnen und Helfern, die tagelang kaum ein Auge zutun, um keine Zeit zu verlieren.

Ich habe die Menschen vor Augen, die selbstlos Geld spenden oder Hilfsgüter auf den Weg bringen.

Die Staatengemeinschaft hat eine beispiellose Hilfsaktion in Gang gebracht. Eine Partnerschaft für den Wiederaufbau der betroffenen Länder wird geplant.

Eine Luftbrücke der Nächstenliebe ist entstanden. Ich hoffe, sie verändert unsere Welt.  Die Globalisierung unserer Welt erschöpft sich nicht in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, erst recht nicht im Ausnutzen wirtschaftlicher Vorteile. Sie bringt uns auch fernes Leid nahe und macht es zu unserem eigenen.  Global denken kann nur, wer auch bereit ist, global zu fühlen. Dem Hochmut globaler Weltherrschaft tritt die Demut globalen Mitgefühls entgegen.

Wir alle leben von Voraussetzungen, die wir uns nicht selbst geben; niemand von uns hat sein Leben letztlich in der eigenen Hand. Wir Menschen empfangen mehr, als wir geben können.

Aus dieser Demut erwächst eine Haltung, in der wir entschieden für das Leben anderer eintreten, weil wir wissen, dass das eigene Leben ein Geschenk ist. Wenn wir anderen helfen, danken wir damit für das uns von Gott geschenkte Leben. Mir will die Frage nicht aus dem Kopf, wie in Phuket einer vom Balkon seines Hotels aus mit ruhiger Hand die Wassermassen filmen konnte, die den offensichtlich ahnungslosen Urlaubern am Ufer immer näher kamen? Warum bricht der Film nicht ab in einem Schrei, der die Todgeweihten gerade noch rechtzeitig warnt? Dass wir einander warnen, wo Unheil droht, gehört zum ABC der Menschlichkeit. Totale Sicherheit wird es nie geben. Aber wo wir können, wollen wir einander zum Leben helfen und im Leben bewahren. Wenn solche Mitmenschlichkeit im neuen Jahr mehr Raum unter uns hat und wenn sie diesen Raum behält, dann haben wir etwas gelernt aus dem unfassbaren Geschehen, mit dem dieses Jahr begann.

Liebe Gemeinde, von dem verzagten Seufzen der Schöpfung führt uns der Weg zum Bekenntnis zu Gottes Liebe. Neben die Folgen der Flut kommen die Folgen der Weihnacht zu stehen. Gottes Licht scheint in der Finsternis ; daran halten wir uns, auch wenn der Boden unter unseren Füßen schwankt. Gott steht mit seiner Liebe in der Welt, selbst dort, wo diese Welt zu zerbrechen scheint. Wir bleiben in Gottes Liebe eingesenkt, auch dort, wo der Anschein entsteht, wir seien aus ihr herausgerissen. Mit dem Apostel Paulus bin ich davon überzeugt, dass diese Liebe durch nichts außer Kraft gesetzt wird. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

Amen.

Textbuch des Gottesdienstes