Predigt im Ökumenischen Gedenkgottesdienst für die Opfer der Flutkatastrophe in Südasien

Kardinal Karl Lehmann

Berliner Dom

Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Bundespräsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir sind hier im Berliner Dom und über das Fernsehen und das Radio in ganz Deutschland in Trauer versammelt zum Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Südasien am 2. Weihnachtsfeiertag. Wir haben unsere Fragen und Klagen zur Sprache gebracht. Die Welt trauert mit, denn überall herrscht Fassungslosigkeit und Entsetzen gegenüber dem fast unvorstellbaren Ausmaß dieser Katastrophe. Sie hat uns auch besonders deshalb getroffen, weil wir kaum Erklärungsmöglichkeiten haben. Es gibt keine kriminelle oder politisch motivierte Ursache, die auf Menschen zurückgeht, wie am 11. September 2001. Wir können nicht einmal sagen, dass die Katastrophe auf einem Fehlverhalten der Menschen im ökologischen Sinne beruht. Die Macht der Natur hat die Menschen in Südasien und weit darüber hinaus bis an die Küsten Afrikas geradezu schicksalhaft überwältigt. Darum stehen wir zunächst besonders ohnmächtig und hilflos vor dieser Urgewalt aus der Tiefe des Indischen Ozeans. Die elementare Wucht der Naturgewalten gibt uns keine Erklärung und schenkt uns keinen Trost, macht uns sprachlos.

Dies ist ein Schock für unsere heutige Zivilisation. Wir haben die irdischen Kräfte vor allem durch Wissenschaft und Technik so zu beherrschen und umzugestalten gelernt, dass wir wirklich im Übermaß glaubten, wir seien die „Herren und Besitzer“ der Natur (Descartes). Jetzt müssen wir zunächst wehrlos eine Naturkatastrophe hinnehmen, die uns bei all unseren Leistungen und dem bewundernswerten Können in unserer Endlichkeit, Armut und Sterblichkeit entlarvt. So sind wir Menschen auch des 21. Jahrhunderts verwundbarer, als es der verbliebene Rest eines Fortschrittsglaubens vermittelt. Deshalb rücken wir durch diese Flutkatastrophe nicht nur stärker in der weltweiten Anteilnahme an diesem Drama zusammen, sondern wir werden auch erinnert an eine uralte Geschichte des Unheils: Die Bibel hat wie auch andere Religionen und Mythen die Erzählung von der Sintflut aufbewahrt und dadurch die zerstörerische Kraft von Katastrophen, besonders im Blick auf die Kräfte des Wassers, angemahnt.

Auch in der Neuzeit gibt es ungeheuere Tragödien. Als im Jahr 1755 zwei Drittel von Lissabon mit mindestens 30.000 Toten durch ein Erdbeben verwüstet worden sind, als vor bald 60 Jahren die Stadt Dresden mit 35.000 identifizierten Opfern durch einen Bombenhagel zerstört wurde, als am 6. und 9. August 1945 in Hiroshima und Nagasaki die ersten Atombomben 100.000 Menschenleben kosteten und im Jahr 1991 die Überschwemmung des unsäglich armen Bangladesch wiederum 100.000 Opfer forderte, da haben die Menschen immer wieder auch für sich selbst das Ende der Welt nahe gefühlt. Darum sprechen wir nicht zufällig von einem apokalyptischen Ausmaß der Katastrophe.

Heute ist die Weltgemeinschaft durch die modernen Kommunikationsmittel und die Globalisierung noch dichter zusammengerückt. Auch wenn die Katastrophen weit entfernt geschehen, sind sie durch die modernen Medien im Nu in unseren Wohnzimmern. Gerade dadurch kommt uns die Katastrophe in Südasien anders als früher auch so einmalig vor.

In einer solchen Ratlosigkeit suchen die Menschen nach einem verborgenen Sinn. Auch Menschen, für die der Glaube im Alltag keine große oder keine Bedeutung besitzt, fragen, warum Gott, von dem plötzlich alle reden, so etwas „zugelassen“ habe. Man kann aber gerade in dieser asiatischen Zerstörungswelle nicht so schnell Sündenböcke entdecken. Vielleicht flieht man deswegen rasch zu einer alles bestimmenden Ursache. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Es ist unverständliches Leid, ohne jede erkennbare Schuld. Dies macht die Herausforderung und das Rätsel noch größer. Es gibt nicht nur das moralische Übel, das wir noch eher bekämpfen können, sondern es gibt in unserer Welt auch grundlegende Unvollkommenheiten, Mängel und Fehler. Wir sitzen auch sonst viel mehr, als uns bewusst ist, auf einem gefährlichen Vulkan, der noch längst nicht zur Ruhe gekommen ist. Jetzt sind wir aus den Täuschungen jäh aufgeweckt worden. Wie selten spüren wir die Wahrheit des Buches Kohelet, des Predigers Salomo: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben.“ (Koh 3, 1f)

Lange hat man sich besonders im theologischen Denken gegenüber dieser grundlegenden Rätselhaftigkeit durch die Annahme zu helfen versucht, das Übel und das Böse hätten schon einen uns eben jetzt noch entzogenen Sinn, der sich erst später in einer höheren Harmonie enthülle, in die jetzt nur Gott selbst Einsicht habe. Manche dachten auch an eine bei der Vollendung der Welt und der Geschichte geschehende Allversöhnung.

So können wir nicht mehr denken. Dazwischen steht vor allem die Erfahrung mit zwei Weltkriegen, besonders aber mit Auschwitz und dem Holocaust. Es gibt eben unsägliches, durch und durch unverständliches Leid. Man kann es im Grunde auch nicht mehr verstehen, denn jedes Verstehen hat immer auch etwas von Rechtfertigung an sich. Dennoch fragen wir, vielleicht sogar ganz verzweifelt. Diese Fragen darf man nicht unterdrücken oder sie mit spekulativen Antworten beschwichtigen. Schon das Alte Testament hat hier eine radikale Ehrlichkeit. Dort ist z.B. der plötzliche Tod eines jungen Menschen ein Skandal, auf den es keine Antwort gibt. Ja, Ijob schleudert sogar Gott selbst harte Fragen und Anklagen entgegen: „Hast du die Augen eines Sterblichen, siehst du, wie Menschen sehen?“ (10,4) Oder mit Ps 77: „Hat seine Huld für immer ein Ende, ist seine Verheißung aufgehoben für alle Zeiten? Hat Gott seine Gnade vergessen, im Zorn sein Erbarmen verschlossen?“ (77, 9 f) Schließlich wird die Klage um den Verlust gerade zur Anklage Gottes selbst. Der Fromme, der sich auf Gott verlässt und ihm vertraut, rechtet mit ihm. Die Literatur und die ganze Kunst haben sich dies über Jahrhunderte zu Eigen gemacht, besonders wenn es um das Leid und Leiden von unschuldigen Kindern geht. Viele sind gewiss bis zum heutigen Tag darum am Glauben gescheitert. Jedenfalls liegt hier eine tief greifende Anfechtung und Gefährdung des Glaubens. Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Übel in der Welt erscheint in der Tat wie ein „Fels des Atheismus“ (G. Büchner, Dantons Tod, 3. Akt). Und überall tauchen die Fragen auf, ob bei F.M. Dostojewski, A. Camus oder W. Borchert: Wo warst du, lieber Gott... in Stalingrad, in Auschwitz?

Der christliche Glaube weicht diesem Rätsel des Übels nicht aus. Schließlich finden wir im Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz einen Höhepunkt der Unfasslichkeit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27, 46, Zitat von Ps 22,2, vgl. auch das Gebet im Garten Getsemani: Mt 26, 36 - 46, bes. 39 ff). Ich finde darum auch keine andere Antwort als im Blick auf das Kreuz. Gott selbst ist Mensch geworden und hat bis zum grausamen Tod am Schandpfahl, dem schändlichsten Tod der alten Welt, unser Menschsein geteilt und am eigenen Leib erfahren. Er, der Gerechte schlechthin, hat das größte Unrecht erlitten. Wir glauben jedoch, dass er durch diesen Abstieg in die äußerste Finsternis, indem er das Leid der Welt erfahren und ertragen hat, uns zugleich davon befreit und erlöst hat. Freilich wissen wir, dass auch nach seiner Auferstehung viele Anfechtungen bleiben. Dies erleiden wir spürbar und leibhaftig. Es fällt uns schwer, daran zu glauben, dass Tod und Zerstörung nicht das Letzte sind. Aber „wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt..., wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.“ (Röm 8, 22. 24a) Ich weiß, dass dieses grausame Ereignis in Südasien alle diese Worte zu Boden drückt und entlarven kann. Aber dies ist die Größe des Glaubens, dass er auch in einer solchen Situation Widerstand leistet gegen eine letzte Verzweiflung und uns seit alters zu der Aussage in unserem Glaubensbekenntnis führt: Ich glaube an das ewige Leben. Vor diesem Hintergrund hat Paulus, der viel weiß vom Leid und vom Kreuz, den Mut uns beinahe triumphal zuzurufen: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?“ (Röm 8, 35)

Wir sind tief traurig und stehen dabei Schulter an Schulter mit allen, die den schweren Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen haben. Wir wollen Seite an Seite mit ihnen diesen Weg des Leides und des tiefen Schmerzes gehen. Es bleibt vielfältige Hilfe, vor allem durch die Einsatzbereitschaft für die bedrängten Menschen vor Ort, nicht zuletzt vieler Frauen und Männer aus unserem Land in den Hilfsaktionen. Wir denken aber nicht nur an die kurzfristige Hilfe in akuter Not, sondern auch an die Mithilfe bei der nachhaltigen Aufbau- und Entwicklungsarbeit. Auch die kirchlichen Hilfswerke nehmen mit den schon vertrauten Partnern im gemeinsamen Netzwerk an dieser Aufgabe teil. Diese Hilfe ist - abgesehen vom Gebet - die einzige Möglichkeit, der Verzweiflung zu entgehen. Spurlos darf die Sache nicht an uns vorbeigehen. Es ist eine Mahnung, uns durch viele Maßnahmen vor solchem Unheil zu schützen versuchen, von den Frühwarnsystemen bis zu einer besseren Siedlungspolitik für die Armen.

Wir rücken in der Menschheit enger zusammen. Ökonomisch stecken wir mitten in einem großen Globalisierungsprozess. Nun haben wir auch die Chance, dass wir im Sozialen und Humanitären globaler denken und empfinden. Dann wären wir auf dem rechten Weg zu mehr weltweiter Solidarität. Dann könnte man mit dieser Katastrophe einmal eine neue Epoche zu zählen beginnen.

So sind wir mitten im Unheil gemeinsam nicht so hilflos. Die Vorfahren im Glauben haben durch die Zeit der Jahrtausende hindurch gewusst und gespürt, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind. Aber selbst in tiefer Trauer möchte ich uns und allen Leidenden weltweit die Erfahrung wünschen, dass die Liebe stärker ist als der Tod.