Gedenkrede zum 90. Jahrestages des Völkermords an den Armeniern im Berliner Dom

Wolfgang Huber

"Neunzig Jahre und mehr sind vergangen seit den schrecklichen Vorgängen, die zur Vernichtung des armenischen Volkes und seiner Kultur im heutigen Gebiet der Türkei führten. Aramäisch-assyrische und griechische Christen waren mit den Armeniern zusammen Opfer dieser Geschehnisse. Zeitzeugen gibt es nach einer so langen Zeit nahezu nicht mehr. Und wer weiß schon in anderen Ländern etwas über die Armenier? Bei uns in Deutschland jedenfalls gibt es leider viel zu wenig Kenntnisse über eines der ältesten Kulturvölker der Erde, das zugleich die erste christliche Nation war. Wir wissen zu wenig von den Ereignissen vor 90 Jahren und der Deportation in die mesopotamische Wüste. Und noch weniger wissen wir davon, dass das Deutsche Reich damals ein Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches war und trotz des Drängens verschiedener Persönlichkeiten nur zögerliche Versuche machte, auf die türkischen Bündnispartner Einfluss zu nehmen, weil es diese Verbindung aus politischen Gründen nicht aufgeben wollte.

Deshalb ist es so dringend wichtig, die Erinnerung daran lebendig zu erhalten durch Gedenktage, durch Veranstaltungen wie die heutige. Gemeinsam mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bekenne ich mich ausdrücklich zu dieser Aufgabe. „Wir setzen uns für eine offene und vorurteilslose Erörterung dieser Geschehnisse ein, die den Opfern der damaligen Gewalthandlungen Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Als Deutsche wissen wir, welche geistliche, intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung die historische Aufarbeitung der Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts darstellt. Uns ist bewusst, dass sich mit dieser Aufarbeitung weit reichende  Erwartungen an eine politische und wirtschaftliche Wiedergutmachung verbinden können. Unsere eigene Erfahrung ermutigt uns aber auch dazu, für einen Prozess der Versöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk einzutreten. Vor allem der  Jugendaustausch zwischen den Völkern bietet die Chance, der nachwachsenden Generation durch persönliche Kontakte und Freundschaften neue Perspektiven des Zusammenlebens  zu ermöglichen. Gerade auch um des Verständnisses in der jüngeren Generation willen bedürfen die Gewalttaten der Vergangenheit einer sorgfältigen Behandlung in den Schulbüchern. Sie  darf nicht durch politische Interessen verhindert werden.

Auch in Deutschland bleibt es nötig, sich der Vergangenheit zu stellen. Angesichts der Mitverantwortung des Deutschen Reichs  ist ein deutscher Beitrag zur Aufarbeitung von Vernichtung und Vertreibung  der Armenier unabdingbar und für die  Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert unverzichtbar.“

So heißt es in einer Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum heutigen Tag. Und die Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die heute tagt, hat sich in einem Brief an die armenischen, griechischen und assyrisch-aramäischen Mitchristen im Bereich unserer Landeskirche gewandt, in dem es unter anderem heißt: „Wir wissen uns mit Ihnen, den Angehörigen und Nachkommen der Opfer, in ökumenischer Gemeinschaft verbunden. Wir teilen mit Ihnen Trauer und Betroffenheit und schließen Sie in unser Gebet mit ein. Wir sehen uns in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser Genozid, an dem auch Deutsche zumindest mittelbar mitbeteiligt waren, nicht vergessen oder gar geleugnet wird. Verbunden im Glauben an den Auferstandenen grüßen wir Sie.“

Der 24. April ist der Gedenktag an den "Todesweg der Armenier", wie der armenische Patriarch von Istanbul Mesrob II. sagt. An diesem Tag vor neunzig Jahren, am 24. April 1915, wurden im damaligen Konstantinopel Hunderte von armenischen Intellektuellen verhaftet, die später deportiert und schließlich hingerichtet wurden. Aber wie wir wissen, war dies nicht der erste derartige Vorfall. In der großen Zahl von Gewalttaten, in diesem schon Jahrzehnte vorher eskalierenden Konflikt war es eher eine Etappe. Angesichts der Massen von Deportierten und auf dem Weg Verhungerten, Gequälten und elend zugrunde Gegangenen scheint das Ereignis des 24. April 1915 eher ein unbedeutender Vorfall zu sein. Aber dieses Ereignis war der Beginn der Vernichtung der armenischen Elite, der Würdenträger, Ärzte, Apotheker, Lehrer, Journalisten und Schriftsteller auch in anderen Städten bis zum Mai desselben Jahres. Durch die gewaltsame Beseitigung dieser Bevölkerungsschicht wird ein Volk enthauptet. Todesmärsche und massenhaftes Morden folgten.

Ich sehe meine Aufgabe heute nicht darin, alle Stationen des Leidens des armenischen Volkes und der anderen von diesem Geschehen Betroffenen vor Ihnen darzustellen. Ich spreche heute zu Ihnen als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ich sehe mit Beschämung die Verstrickung unseres Volkes in diese Vorgänge. Für die europäischen Großmächte jener Zeit und allen voran für das deutsche Kaiserreich waren – Gott sei es geklagt! – die eigenen Interessen wichtiger als der Aufschrei für Menschen, die zu Millionen ihr Leben lassen oder fliehen mussten. Schon lange vor dem Jahr 1915 hatte ein evangelischer Pfarrer und deutscher Politiker, Friedrich Naumann, erklärt, „in Deutschlands weltpolitischer Sendung“ liege „der tiefe sittliche Grund, weshalb wir gegen die Leiden der christlichen Völker im türkischen Reiche politisch gleichgültig sein müssen.“ Und der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schrieb auf dem Höhepunkt der Leiden des armenischen Volkes. „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Ich schäme mich im Nachhinein für diese politische Gleichgültigkeit. Ich bitte dafür um Verzeihung. Ich bitte darum, dass sich der Blick nicht nur auf die Versäumnisse und das Zögern der offiziellen deutschen Vertreter in der damaligen Türkei, sondern auch auf das richtet, was andere Deutsche in der damaligen Zeit für die Armenier getan haben. Mit großer Dankbarkeit stelle ich fest, dass ich darum nicht erst bitten muss. Denn Menschen wie der evangelische Pfarrer Johannes Lepsius haben in Armenien innerhalb der Erinnerung an den Völkermord einen hohen Rang. Dass sein Einsatz gewürdigt wird, enthebt ihn nicht der Kritik. Auch er war ein Kind seiner Zeit – so wie wir selbst Kinder unserer Zeit sind. Aber es ist ein wichtiges Zeichen für die Verbundenheit zwischen Armeniern und Deutschen, dass das Haus, in dem Johannes Lepsius in Potsdam lebte, wieder hergestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ich unterstütze das Anliegen, dass dieses Haus eine Gedenk- und Forschungsstätte für die deutsch-armenischen Beziehungen wird.

Ich sehe zugleich den Genozid am armenischen Volk vor dem Hintergrund unserer eigenen deutschen Vergangenheit, die in den schrecklichsten Völkermord der Geschichte mündete, und vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir mit der Aufarbeitung dieser Ereignisse gemacht haben. Wir haben gelernt: Ohne die Erinnerung holen uns solche Ereignisse ein und machen uns zu ihren Gefangenen. Peter Balakian hat etwas zum Ausdruck gebracht, was auch uns vertraut ist: "Gedenken ist ein wesentlicher Prozess für die Hinterbliebenen und für die Erben des Vermächtnisses des Genozids. Es ist ein Prozess, dem undenkbaren Schrecken und Verlust einen Sinn abzugewinnen. Da die Toten im Anschluss an den Genozid entweder buchstäblich oder emotional nicht bestattet wurden, ist das Gedenken auch ein Ritual der Bestattung der Toten – jenem uranfänglichen Akt der Zivilisation... Die Last des Trauerfalls wird leichter, wenn sie von einer grösseren Gemeinde geteilt und miterlebt wird. Nur dann können sich Ausgleich, Hoffnung und ein Gemeinwesen einstellen." So schreibt der in Amerika aufgewachsene Armenier Peter Balakian. Die Erinnerung hilft zu trauern. Die Erinnerung hilft, dem Geschehenen in der eigenen Biographie einen Ort zu geben.

Peter Balakian hat erst sehr spät, bereits als junger Erwachsener, von seiner Familie etwas über den Genozid erfahren. Es hat ihn lange beschäftigt, warum seine Verwandten darüber nicht direkt, sondern höchstens in Märchen und Anekdoten sprechen konnten. Er verweist auf die zum Überleben notwendige Betäubung, in der sich die Menschen zunächst befanden. Dann suchte sich das Geschehen in indirektem Erinnern und in verdeckten Erzählungen einen Weg. Aber das Verschweigen durch die Opfer hat auch etwas damit zu tun, wie die Täter mit solchen Verbrechen umgehen. Balakian schreibt: "Was aber, wenn man Armenier ist? Wahre Vergebung kann nur gewährt werden, wenn der Täter sie anstrebt und sich durch Bekenntnis, Reue und Wiedergutmachung verdient." Nicht erinnerte oder verdrängte Ereignisse machen auch Täter zu Gefangenen. Erinnerung und Gedenken müssen also auf beiden Seiten Raum finden.  Nur die Erinnerung hilft, mit Schuld umzugehen. Nur die Erinnerung hilft, Leiden zu verarbeiten.

Die Versuchung ist groß, durch das Schweigen alles zu vergessen. Täter wie Opfer kennen diese Versuchung. Es gibt die Hoffnung, ein neues Leben beginnen zu können ohne die Schatten der Vergangenheit. Trotzdem führt es in die Irre, wenn man über die Vergangenheit schweigt. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Wir müssen mit ihr leben und mit ihr umgehen. Es geht nicht darum, bei der Vergangenheit stehen zu bleiben oder sich an ihr festzuklammern. Sondern im Bewusstsein der Vergangenheit setzen wir uns für eine bessere Zukunft ein. Zukunft kann nur gewinnen, wer die Vergangenheit nicht verschweigt.

Aus den deutschen Erfahrungen heraus können wir deshalb die türkische Regierung nur auffordern und ermutigen, sich mit der Rolle des Osmanischen Reiches und der Türkei gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart auseinanderzusetzen. Und aus dieser Erfahrung heraus können wir das armenische und das türkische Volk nur dazu ermutigen, sich für die Versöhnung untereinander einzusetzen und die zwischenstaatlichen Beziehungen zu normalisieren.  An unsere eigene Regierung und unser eigenes Parlament aber richtet sich die Aufforderung, sich zur deutschen Mitschuld zu bekennen, den deutschen Anteil an den Ereignissen aufzuarbeiten und im eigenen politischen Handeln daraus Konsequenzen zu ziehen. Auch in unseren Schulbüchern sollte deshalb Raum für dieses Thema sein, nicht nur in Brandenburg. Mit großer Freude habe ich gerade heute ein neues Schulbuch für Geschichte in die Hand genommen, das den Völkermord an den Armeniern im Rahmen einer Unterrichtseinheit „Vom Osmanischen Reich zur modernen Türkei“ behandelt. Dieses Schulbuch ist für Nordrhein-Westfalen und für Berlin zugelassen. Dieses gute Beispiel wird hoffentlich im wahrsten Sinn des Wortes „Schule machen“. Ohne die Erinnerung holen uns die Ereignisse immer wieder ein und machen uns zu ihren Gefangenen. Das Gedenken hilft zu trauern und mit dem Geschehenen zu leben.

Der verstorbene Katholikos aller Armenier Vasken I. hat 1986 in einem Schreiben aus Anlass des ersten Internationalen Dr. Johannes-Lepsius-Symposiums die Hoffnung geäußert, "dass der von Gott bestimmte Tag komme, da (die heute lebenden Generationen des türkischen Volkes) Seite an Seite mit den Armeniern für die Seelenruhe der Opfer aus unserem Volke beten werden." Diese Vision, die Vision der Versöhnung zwischen den beiden Völkern, ist das Ziel des Erinnerns und Gedenkens, das wir heute begehen. Als die Erben schuldhaft Beteiligter setzen wir uns dafür ein, dass dieses Ziel erreicht wird.

Schließen möchte ich mit dem biblischen Wort, das in unserer Kirche am 24.April 2005 von vielen Gläubigen gelesen und meditiert wird. Es sind die Verse 11 und 12 aus dem Propheten Joel, die für diesen Tag in den Herrnhuter Losungen stehen: "Der Tag des Herrn ist groß und voller Schrecken, wer kann ihn ertragen? Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen!" Wer kann ihn ertragen - den Tag des Schreckens? Diese Frage tritt vor uns angesichts der Auslöschung einer unnennbaren Zahl von Menschenleben und angesichts der Vernichtung von ganzen Völkern, angesichts  der Missachtung menschlicher Würde und der grausamen Verletzung von Menschenrechten. Wer kann das ertragen? "Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen." Auch jetzt noch öffnet Gott einen Weg, mit dem Schrecken umzugehen, einen Weg, sich vom Hass abzuwenden, einen Weg der Versöhnung. Diesen Weg wollen wir gemeinsam gehen."