Bibelarbeit bei der Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), Lyon

Wolfgang Huber

I.

Vor einigen Wochen erreichte mich ein Brief mit einer beeindruckenden Erinnerung an das Jahr 1939. Der Briefschreiber erinnert an die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Cambridge in den dreißiger Jahren. Er schreibt: „Die Gemeinde bestand im Wesentlichen aus Menschen, die aus politischen oder rassischen Gründen Deutschland verlassen mussten. Man hielt Gottesdienst in der Round Church im Stadtzentrum als Gast bei der Church of England. Im Jahr 1939 hatte man wieder einmal einen gemeinsamen ökumenischen Gottesdienst verabredet. Kurz darauf hat Deutschland dann Polen überfallen und England erklärte uns den Krieg. Unser Pfarrer rief seinen englischen Freund und Kollegen an und sagte, dass wohl wegen des entsetzlichen Geschehens aus der gemeinsamen Verabredung nichts werden könne. Die Antwort war: Es ist zwar furchtbar, aber gibt es einen besseren Grund für gemeinsame Gebete? So haben bald nach Kriegsbeginn England–Deutschland die beiden Gemeinden der verfeindeten Nationen zusammen gebetet.“

Auch während der Geschichte der Konferenz Europäischer Kirchen hat es Unfrieden, harte Konflikte und Kriege zwischen europäischen Nachbarn gegeben. Die Zeit der Gründung vor fünfzig Jahren war von der sich verschärfenden Konfrontation zwischen Ost und West geprägt. Der Kalte Krieg war für die KEK Anlass zum Gebet über Grenzen hinweg. Beharrlich an der Verbindung zwischen den Kirchen und dem Gespräch über Grenzen hinweg festzuhalten und Impulse zur Versöhnung zu setzen, ist seitdem ein zentrales Anliegen. Die Situation von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten veranlasste die KEK, für deren Rechte einzutreten, die Kirchen zum Eintreten für die Menschenrechte zu ermutigen und die gemeinsame Hilfe zu koordinieren. Der theologische Dialog und der Austausch zwischen unterschiedlichen Traditionen bilden eine weitere wichtige Aufgabe. Viele andere Themen gab es, die über Grenzen hinweg Menschen ins gemeinsame Gebet und zur Hilfe riefen.

Heute ist die KEK an einem Punkt angekommen, an dem sie ihre Kräfte neu bündeln muss. In der Vielfalt von Themen und Aktionen muss sie aufs neue die zentrale ökumenische Idee für Europa finden und sich zur gemeinsamen ökumenischen Aktion auf den Weg machen. Einem nach Orientierung fragenden Europa wollen wir gemeinsam Gottes Barmherzigkeit und seinen Frieden bezeugen. Darin sehen wir den ökumenischen Auftrag. Er hat in der Mitte des Evangeliums seinen Grund. Dieser Konzentration wollen wir auch in unserem ökumenischen Handeln Ausdruck geben. Konzentration angesichts eines weiten Horizonts – darin sehe ich die große Aufgabe, vor der diese Vollversammlung steht.

Dabei muss sie sich ihrer doppelten Rolle bewusst sein: Die versöhnte Verschiedenheit der christlichen Kirchen in Europa ist von exemplarischer Bedeutung für die Aufgabe, vor der auch die europäische Gesellschaft insgesamt steht: nämlich Vielfalt auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen zu gestalten. Zugleich aber hat die KEK die Aufgabe, in die europäische Wirklichkeit die Stimme der Kirchen gemeinsam einzubringen. Denn es geht heute darum zu verdeutlichen, dass die Impulse des christlichen Glaubens für die europäische Gesellschaft unverzichtbar sind. Pluralität zu gestalten und eine gemeinsame Stimme zu finden: diese doppelte Aufgabe stellt sich der KEK heute mit besonderem Nachdruck.

Die Menschen in England zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, von denen mir der schon zitierte Briefschreiber berichtete, konzentrierten sich in dem brennenden Europa, das ihre Gemeinschaft im Glauben zu zerstören drohte, auf den Kern ihres Glaubens, um beieinander zu bleiben. Ihrem Beispiel folgend möchte ich mich mit Ihnen heute Morgen auf die Grundlage unserer ökumenischen Gemeinschaft besinnen. Denn nur von hier können wir die Aufgaben, vor denen wir stehen, in den Blick nehmen. Dafür orientiere ich mich an einem Text des Neuen Testaments, der für mich eine Magna Charta aller ökumenischen Bemühungen bildet.

II.

Im vierten Kapitel des Epheserbriefes lesen wir in den Versen 3 bis 6:

Seid darauf bedacht,
zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens:
ein Leib und ein Geist,
wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung;
ein Herr, ein Glaube, eine Taufe;
ein Gott und Vater aller,
der da ist über allen und durch alle und in allen.

Nach der Einschätzung vieler Ausleger spricht hier einer zu uns, der sich der Autorität des Apostels Paulus verpflichtet weiß. In der Nachfolge des Paulus und im Bewusstsein der Übereinstimmung mit ihm wendet er sich an die Gemeinde in Ephesus. Er geht auf den Wegen des Paulus, spricht dessen Gemeinden an und erinnert sie an die Verkündigung des großen Heidenapostels. Er gehört einer nächsten Generation an; aber aus seiner Perspektive trägt er die Botschaft des Apostels Paulus weiter und aktualisiert sie.

Ein Grundthema seines Briefs ist der Zusammenhalt der christlichen Gemeinde. Es geht um die Einheit derer, die sich zu Christus bekennen, unabhängig davon, ob sie vorher zu den Juden oder zu den Heiden gezählt wurden. Im Zentrum des Briefs steht also eine Frage, die schon Paulus bewegt hatte und die auch eine Generation später noch aktuell und brisant ist.

Der klar gegliederte Brief umfasst zwei Teile. Im ersten Teil, vor allem in Kapitel 2, formuliert der Autor die Einheit der Gemeinde unter dem neuen Dach des Christusglaubens als Zusage und Heilsverkündigung. Für diese Botschaft steht der fundamentale Satz an die Heiden: „So seid Ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,19). Aus der Perspektive dessen, der dem Alten Bund verpflichtet und sich schon lange dem auserwählten Volk Gottes zugehörig weiß, öffnet er im Namen Gottes die Tür, lässt er die Christen aus den Heiden nicht mehr länger bloße Gäste sein. Er sagt ihnen vielmehr die volle Zugehörigkeit zum Volk Gottes und die uneingeschränkte Teilhabe am Heil zu.

Denn Christus hat den Zaun abgebrochen, der die beiden Gruppen voneinander trennte; die Kategorien von „unbeschnitten“ oder „beschnitten“ zählen nicht mehr. Christus hat Versöhnung und Frieden gebracht zwischen den Menschen, die so unversöhnlich einander gegenüberstanden. Es hieße Christus verachten, wenn man neu über Grenzen und Zäune nachdenken würde.

Dieser großartige Abschnitt kennt kein Zögern, kein Abwägen der Schwierigkeiten, die damit verbunden sein könnten, keine Bange, dass das Haus zu klein sein könnte. Gottes Haus hat Platz. Hausgenossen zu sein, das ist die große Einladung des Epheserbriefes an alle.

Neben der Bergpredigt ist dieser Abschnitt bis zum heutigen Tag einer der ganz großen Impulse für das Friedenszeugnis der christlichen Kirchen. Ich selbst weiß noch genau, wann mir dieser starke Impuls des Epheserbriefs zuerst begegnete. Es war in der Zeit, in der nicht nur ein Zaun, sondern ein Stacheldraht Europa teilte, mit der Mauer in Berlin als seinem massivsten Teil. In dieser Situation stand der Deutsche Evangelische Kirchentag in Hannover 1967 unter der Losung: „Christus ist unser Friede“. Der große Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker legte uns dar, dass der Frieden der Leib einer Wahrheit und die Wahrheit die Seele des Friedens sei. Der Keim für die Einsicht war gelegt, dass wir durch die Spaltung des europäischen Kontinents nicht an unserer Zusammengehörigkeit irre werden durften. Kaum wagten wir zu hoffen, dass die Teilung des Kontinents zu unseren Lebzeiten überwunden werden könnte. Doch genau das geschah etwas mehr als zwanzig Jahre später – in diesem Jahr genau vor zwanzig Jahren. Christus ist unser Friede – in großer Dankbarkeit und Bewegung bekennen wir: Ja, der Zaun wurde niedergelegt, die Mauer geöffnet, die Teilung unseres Kontinents überwunden. Gemeinsam können wir unseren Glauben bekennen, unserem Versöhnungsauftrag nachkommen, den uns geschenkten Frieden Christi bezeugen.

Mit Kapitel 4, dem wir uns an diesem Morgen zuwenden, beginnt der ethische, ermahnende Teil des Briefes. Damit das Projekt des Friedens Christi Zukunft hat, damit das Heilswerk nicht an der Trägheit der Menschen scheitert, die in die Versöhnung gerufen sind, folgen von diesem Kapitel an die Aufforderungen und Hinweise dazu, wie dieses Werk gelingen kann. Dieser Teil ist erfüllt von dem warmen Werben des Autors um Gemeinschaft und Offenheit füreinander.

Als Berufene spricht der Apostel die Christen in Ephesus an. Ihr seid berufen, herausgerufen. Ihr seid nicht Leute, die zu Hause sitzen, mit sich selbst zufrieden sind, nur auf den Boden starren und allein das schon immer Gewohnte und Gelehrte gelten lassen. Ihr seid gerufen und ausgewählt. Diese Berufung wird in einer unverwechselbaren Weise beschrieben: Die Einigkeit im Geist soll gewahrt werden durch das Band des Friedens. Eine Einigkeit wird beschrieben, die nicht durch Zwang zustande kommt, sondern durch wechselseitige Zuwendung. Eine Zusammengehörigkeit wird uns vor Augen gestellt, die aus der Vielfalt wächst und das ganze Leben umfasst. Dafür verwendet unser Brief das Wort Frieden, das an dieser Stelle die ganze Fülle gelingenden Lebens umfasst, für die das Alte Testament das Wort „Schalom“ verwendet.

 Diese Fülle drückt der Brief in einer unvergesslichen Trias aus: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung. Mit dieser Trias markiert er die Besonderheit jeder christlichen Gemeinschaft. Als Gemeinde seid ihr ein Leib. Ein Geist bestimmt euch. Und ihr habt eine Hoffnung.

Mit dieser dreifachen Bestimmung knüpft der Autor an das bereits von Paulus verwendete Bild von der Gemeinde als dem Leib Christi an. Das Bild war geläufig. Man dachte an den Fuß, der da meinte, er gehöre nicht dazu, weil er ja nichts mit der Hand gemein habe, an das Ohr, das sich spontan mit dem Auge vergleicht und Bedenken hat, ob es denn mit diesem irgendetwas gemein habe (1 Korinther 12,15-16). Diese vertraute Bildsprache wird hier aber aufs Äußerste verdichtet: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung. Sofort wissen Hörer und Leser, worum es geht: um die christliche Gemeinde und ihre erkennbare Gestalt in der Welt in einer unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit, um die durch Gottes Geist bestimmte Gemeinschaft der Christen inmitten ihrer alltäglichen Probleme, um ihre große Berufung zur Hoffnung. Die Gewissheit, einen Leib zu bilden, das Vertrauen, von Gottes Geist geleitet zu sein, und die gemeinsame Hoffnung, die über das jeweilige Jetzt hinausführt, sind die Wahrzeichen einer jeden christlichen Kirche.

Eine kühne Gewissheit, ein kühnes Vertrauen, eine kühne Hoffnung kommen darin zum Ausdruck. Umso wichtiger ist die Frage, worauf sie sich stützen. Diese Frage wird mit einer zweiten Trias beantwortet: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Hat die erste Trias von Leib, Geist und Hoffnun die Frage beantwortet: „Wer sind wir?“, so widmet sich diese zweite Reihe der Frage: „Wo kommen wir her?“

An der Spitze steht das Grundbekenntnis der ersten Christen: „Jesus Christus ist der Herr“ (Phil 2,11; 1 Kor 12,3; Röm 10,9). Man spürt die Anspielung an so manchen Streit, den es auch schon in den allerersten christlichen Gemeinden darüber gab, wer denn nun ihr Herr sei, beispielsweise Apollos, Kephas oder Paulus (1 Kor 1,12). „Wie? Ist Christus etwa zerteilt?“, hatte Paulus dazu schon die Korinther lapidar gefragt. Ganz in diesem Sinne wiederholt der Epheserbrief: Ein Herr; das zu bekennen ist eure Berufung. Der eine Herr lässt sich nicht zerteilen, der Glaube an ihn verbindet und trennt nicht.

Dazu gehört der eine Glaube unlösbar dazu. Wo immer im Neuen Testament vom Glauben die Rede ist, geht es nicht nur um eine Geisteshaltung, nicht um eine mögliche Meinung neben anderen.Glauben meint Vertrauen, das Sicheinfügen in den Machtbereich der Güte Gottes, das Sichöffnen für das in Jesus Christus begegnende  Heil. „Ein Glaube“ meint nicht eine gemeinsame Bekenntnisformel oder Lehrtradition. Darin ist vielmehr eine Lebenshaltung und ein Verhältnis zur Wirklichkeit im Ganzen beschrieben, das sich vom Heil in Christus bestimmen lässt.

Die Zugehörigkeit zu denen, die Christus als den Herrn bekennen und im Machtbereich der Güte Gottes stehen, drückt sich in der Taufe aus. Deswegen als drittes: eine Taufe. Sie ist das ökumenische Sakrament schlechthin. Das wird heute verstärkt bewusst. In unseren Kirchen ist eine Bewegung in Gang gekommen, sich dieses ökumenischen Charakters der Taufe deutlicher bewusst zu werden. Ich sehe darin eine der verheißungsvollsten ökumenischen Entwicklungen.  In Deutschland haben wir dem im Jahr 2007 durch eine ökumenische Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung der Taufe Ausdruck verliehen. In diesem wichtigen ökumenischen Text haben wir ausdrücklich auf unseren Abschnitt aus dem 4. Kapitel des Epheserbriefs Bezug genommen. Es ist auch durchaus wahrscheinlich, dass die Formulierungen, die sich hier im Epheserbrief finden, ihre Wurzel in einer altkirchlichen Taufliturgie haben; dann weisen sie umso nachdrücklicher auf die ökumenische Bedeutung der Taufe hin.

Doch so wie die Taufe den Anfangspunkt der christlichen Existenz bildet, so wie der Glaube den christlichen Lebensvollzug begründet, so wie der eine Herr uns stets vorausgeht, so ist es auch mit der ökumenischen Gemeinschaft. Sie steht nicht zu unserer Disposition; sie ist nicht in unser Belieben gestellt. Es handelt sich nicht um eine Entscheidung, die wir treffen oder auch unterlassen könnten. Es handelt sich auch nicht um ein Ziel, das wir mit größerer oder geringerer Energie anstreben könnten. Die Zusammengehörigkeit der Christen und der Kirchen ist vielmehr mit dem Fundament ihres Bekenntnisses selbst mitgegeben: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.

Wir bringen die ökumenische Wirklichkeit nicht hervor; sie ist uns vielmehr vorgegeben. Die Frage an uns heißt vielmehr, ob wir dieser uns vorgegebenen Wirklichkeit entsprechen oder ob wir sie verfehlen. Wir sind gefragt, ob wir diese Grundlage in der Gestalt unserer kirchlichen Gemeinschaft Ausdruck verleihen, ob wir uns in erkennbarer Weise von dem einen Geist Gottes leiten lassen, ob wir in unserer Zeit Zeugen der einen Hoffnung sind. Der eine Herr mahnt uns, auch ein Leib zu sein. Der eine Glaube verpflichtet uns dazu, uns auch von einem Geist leiten zu lassen. Die eine Taufe macht uns zu Zeugen der einen Hoffnung.

Mit einem kurzen Hymnus haben wir es zu tun; aber in all seiner Kürze ist er ein Hohes Lied der Einheit, mit dem Hohen Lied der Liebe, das Paulus im 1. Korintherbrief aufgezeichnet hat, durchaus vergleichbar. Dieses Hohe Lied der Einheit mündet in das Lob des einen Gottes und Vaters. Die im Christusbekenntnis, im gemeinsamen Glauben und in der einen Taufe begründete Gemeinschaft der Kirche in ihrem Zeugnis, in ihrem Dienst und in ihrer Hoffnung begründet das Lob des einen Gottes, der das All erfüllt und zur Einheit zusammenfasst.

Der Epheserbrief stellt die christliche Existenz mit diesem Gotteslob in den denkbar weitesten Horizont. Er entwirft das Bild einer Ökumene des dankbaren Gotteslobs. Er beginnt nicht mit dem, was ökumenisch von uns gefordert ist. Er erinnert uns vielmehr daran, was uns ökumenisch anvertraut ist. Er sagt zuerst, was wir ökumenisch sind, bevor er fordert, was wir ökumenisch werden sollen. Hier begegnet uns auf großartige und eindrucksvolle Weise eine Ökumene des Indikativs. Durch die Erinnerung an das, was uns gemeinsam anvertraut ist,  wird die Berufung dazu verdeutlicht, gemeinsam Leib Christi zu sein.

Die Wahl dieses Bildes erinnert daran, dass ökumenische Zusammengehörigkeit nicht Uniformität bedeutet. Nicht an einer gleichförmigen Bestimmung des Verhältnisses von Amt und Gemeinde, nicht an einer überall gleichen Gestaltung des Gottesdienstes macht der Epheserbrief diese Einheit fest. Ob die Verschiedenen sich von dem gleichen Geist leiten lassen und die gleiche Hoffnung bezeugen, ist seine ökumenische Testfrage. Dass sie in der einen Taufe verbunden sind, sich auf den einen Glauben stützen und den einen Herrn, den gekreuzigten und auferstandenen Christus, bekennen, bildet dafür eine unverbrüchliche Grundlage.

III.

Selbst wer beim ersten Hören dieses kurzen Textes noch meinen konnte, hier werde die Einheit so beschworen, dass für die Verschiedenheit kein Platz bleibt, merkt beim tieferen Eindringen, dass dies nicht der Fall ist. Die siebenfache Einheitsformel des Epheserbriefs beschreibt vielmehr eine Dynamik der Einheit, in der die Verschiedenheit durchaus ihren Ort hat. Es handelt sich nicht um eine Ökumene von oben, in der aus der Einheit Gottes auf die Uniformität der Kirche geschlossen wird. Sondern es handelt sich um eine Ökumene von unten, die der Verschiedenheit Raum gibt, dabei aber auf die Kraft der Einheit vertraut. Aus dem Dank für die vorgegebene Einheit des Christusbekenntnisses wird nach Wegen gesucht, die verschiedenen Gaben zum gemeinsamen Zeugnis für diese Einheit zusammenzuführen.

Das ist ein dynamisches Verständnis von Einheit, zu dem wir in der jüngeren europäischen Geschichte sogar politische Entsprechungen erlebt haben. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Wende in Europa bekennen wir dankbar, dass uns eine Einheit in Verschiedenheit geschenkt wurde, auf die wir lange Zeit kaum zu hoffen wagten. Ihr Gestalt zu geben, ist die große politische Aufgabe, vor der wir in Europa stehen. Als Kirchen wollen wir dazu unseren Beitrag leisten.

Die ökumenische Gemeinschaft, der wir Gestalt geben wollen, ist keine starre Schablone, sondern ein lebendiger Prozess. Sie ist ein Weg, auf dem man immer wieder zu markanten Kreuzungen und Weggabelungen kommt, an denen neue Orientierung notwendig ist. Heute stehen wir nach meiner Überzeugung an einer solchen Wegmarke.

Viele europäische Kirchen sind in diesen Jahren dabei, ihren Ort in der Gesellschaft neu zu bestimmen. Angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs, durch den wir in Europa gegangen sind und der noch keineswegs an sein Ende gekommen ist, bestimmen sie ihre Aufgaben neu und suchen nach einer auftragsgemäßen Gestalt ihres Zeugnisses. In der Evangelischen Kirche in Deutschland orientieren wir uns dafür an einem grundlegenden Dokument aus dem Jahr 2006, das den Titel „Kirche der Freiheit“ trägt. Wir wollen das Erbe der Reformation in das gemeinsame Zeugnis der Kirchen einbringen. Die besondere Glaubenseinsicht, die uns anvertraut ist, wollen wir so zum Leuchten bringen, dass auch diejenigen davon erreicht werden, denen das Bekenntnis zu dem einen Herrn, dem einen Glauben und der einen Taufe fremd geworden ist. Wir wollen die missionarische Aufgabe, die sich uns heute auch in Europa stellt, mit der ökumenischen Verpflichtung verbinden, in der wir uns als Kirchen miteinander verbunden wissen.

Zwischen der gemeinsamen Botschaft, die uns anvertraut ist, und den vielen Möglichkeiten, ihr im Leben unserer Kirchen Gestalt zu geben, müssen wir heute eine neue Balance finden. Dieses Bemühen stößt nicht überall auf Begeisterung. Viele haben sich in ihrer besonderen Nische eingerichtet, halten ihr eigenes Zimmer möglicherweise für die eigentliche Welt und haben dabei den Blick auf das eine Haus verloren. Sie machen dadurch unseren christlichen Glauben zu einer Lebenshaltung, die nur im kleinen Kreis Gleichgesinnter gepflegt und bewahrt werden kann. In dieser abgeschlossenen Welt sind sie zugleich darüber enttäuscht, dass ihre Botschaft nur noch von wenigen gehört wird. Wie relevant christliche Überzeugungen für die gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa denn noch seien, wird dann gefragt. Als Christen sind wir davon überzeugt, dass unser Bild vom Menschen als Gottes Ebenbild, unser Vertrauen auf die Kraft von Vergebung und Versöhnung und unsere Hoffnung auf ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden für die Zukunft Europas eine große Kraft entfalten können. Doch dafür müssen wir die Vielfalt unserer Traditionen und das Gemeinsame unseres Glaubens neu miteinander verbinden.

Aus dieser Verbindung von Vielfalt und Gemeinsamkeit kann eine neue ökumenische Vision für Europa wachsen. Dass wir in unserer Vielfalt auf die uns vorgegebene Einheit antworten, kann zum Leitmotiv für die ökumenische Bewegung in Europa werden. Vielfalt und Einheit, Weite und Konzentration können sich dabei neu miteinander verbinden. Die Weite der Themen und Netzwerke muss nicht verloren gehen, wenn wir uns auf unser gemeinsames Zeugnis besinnen. Unsere verschiedenen Traditionen müssen ihre Farbe nicht verlieren, wenn wir gemeinsam das eine Fundament sichtbar machen, auf dem wir stehen: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.

Die Einheit der Kirchen muss nicht neu erfunden werden. Diese Einheit ist der Grund, auf dem wir stehen. Dieser Perspektivenwechsel ist der entscheidende Schritt der ökumenischen Neuorientierung, die wir heute brauchen. Er wird uns dabei helfen, in unserer Vielfalt nicht eine Bedrohung der Einheit, sondern deren Ausdruck zu sehen.

Ökumenisches Zusammenwirken setzt zuallererst voraus, dass wir uns immer wieder den gemeinsamen Quellen unseres Glaubens zuwenden. Denn aus ihnen wächst unserem Glauben immer wieder frische Kraft zu, aus der sich auch unser gemeinsames Zeugnis erneuert.

Ökumenisches Zusammenwirken zeigt sich ferner darin, dass ökumenische Partner im wechselseitigen Respekt vor ihrem jeweiligen Kirchesein miteinander verbunden sind. Denn so sehr ökumenisches Zusammenwirken auf der Treue der Beteiligten zur eigenen Kirche beruht, so sehr beruht es auch auf diesem wechselseitigen Respekt.

Ökumenisches Zusammenwirken kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass gemeinsame Aufgaben auch gemeinsam wahrgenommen werden. In der Antwort auf die großen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit muss sich deshalb unsere ökumenische Zusammengehörigkeit besonders bewähren. Die unverantwortlichen Irrwege, die in die gegenwärtige Wirtschaftskrise geführt haben, die noch immer nicht gebannte Gefahr einer Klimakatastrophe und der fortdauernde Unfriede in vielen Teilen unserer Welt fordern uns zum gemeinsamen Zeugnis heraus.

Aber in all dem beruht unser ökumenisches Zusammenwirken auf der Freude an dem gemeinsamen Schatz der Kirche Jesu Christi, der uns allen anvertraut ist. Die Freude an diesem gemeinsamen Schatz bestimmt das Hohe Lied der Einheit, das uns in all unserem Bemühen leiten kann. In diese Freude wollen wir einstimmen: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“