Predigt in der Friedenskirche in Jauer zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs (Galater 5, 22. 25)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus.  Amen.

Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Galater im fünften Kapitel: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue. ... Wenn wir aber im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“ (Galater 5, 22. 25).

I.

Mit diesem ökumenischen Friedensgottesdienst erinnern wir uns an den Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf Polen vor siebzig Jahren. Der 1. September 1939 gilt deshalb als entscheidendes Datum für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Andere Länder hatten unter der kriegerischen Aggression Deutschlands bereits früher oder erst in der Folgezeit zu leiden.

Für Polen hatte dieser Überfall unvorstellbar schreckliche Folgen.

Unvergessen bleibt die millionenfache Zahl an Opfern und Toten gerade unter den polnischen Soldaten und Zivilisten. In besonderem Maß waren Menschen jüdischer Herkunft von dem Grauen der Aggression und des Vernichtungswillens betroffen. Kein Land hatte, bezogen auf seine Bevölkerung, eine derart hohe Quote an Getöteten und Leidtragenden zu beklagen – dicht gefolgt von den Völkern der damaligen Sowjetunion. Unvergessen bleibt auch der Widerstand, sei es der des Warschauer Ghettos 1943 oder des Warschauer Aufstands 1944. Es war ein Widerstand, der in bewundernswerter Opferbereitschaft, aber auch nahezu verzweifelt der rassistischen Besatzungs-, Versklavungs- und Vernichtungspolitik Nazi-Deutschlands entgegentrat.

Die Folgen des Krieges, der von Deutschland ausging, schlugen auf seine eigene Bevölkerung zurück.

Zu diesen Folgen gehört nicht nur der Tod gefallener Soldaten und umgekommener Zivilisten. Ebenso gehört dazu das Schicksal der aus ihrer angestammten Heimat Geflohenen, Vertriebenen und Ausgesiedelten. Kaum jemand in Europa konnte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs ein Zusammenleben mit Deutschen noch vorstellen. Als Antwort auf die verbrecherischen Gewalttaten, die von Deutschland ausgegangen waren, breitete sich nach Jahrhunderten gelebter Nachbarschaft unter vielen Nationen Mittel- und Osteuropas eine unheilvolle Praxis ethnischer Trennung aus.

Ausgangspunkt aller Erinnerung bleibt gerade an diesem Tag das Erschrecken und die Scham über die von Deutschen verübte Gewalt und die Solidarität mit ihren Opfern. Die Erinnerung an den Krieg mit allen seinen Folgen muss im Gedächtnis unserer Gesellschaften und Kirchen fest verankert bleiben.

Krieg hat Folgen, tödliche und zerstörerische Folgen, die in Erinnerung bleiben müssen, wenn wir eine Wiederholung all seiner Schrecken verhindern wollen.
Im Schritt zu kriegerischer Gewalt zeigt sich das Wesen menschlicher Sünde, die Menschen von Gott und voneinander trennt, die menschliches Leben Machtinteressen unterwirft, die Menschenleben in unvorstellbarer Zahl fordert und nicht wieder gut zu machenden Schaden anrichtet, die schließlich auch den Täter zerstört.

II.

Doch Erschrecken, Scham und Erinnerung reichen nicht aus, um den Krieg zu überwinden und Frieden zu erreichen.

Um Frieden zu erreichen, braucht es einen neuen Impuls, einen Schritt zum Neuanfang, der vom Weg der Zerstörung wegführt und ein Umkehren zum Frieden erlaubt. Viele Menschen haben sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von dieser Hoffnung leiten lassen. Viele haben sich auch durch Konfrontation, durch Mauer und Stacheldraht und durch die Atmosphäre des Kalten Krieges nicht von dieser Hoffnung abhalten lassen. An diesem Tag denken wir an die mutigen Zeichen für Frieden und Versöhnung, die nach der Friedlichen Revolution vor zwanzig Jahren ihre Wirkung entfalten konnten, aber schon lange vorher begannen.

Als Christen wissen wir, dass wir einen solchen Neubeginn nur von Gott erbitten, dass wir Versöhnung nur von Christus erhoffen können, dass die Umkehr zum Frieden immer eine Gabe des Heiligen Geistes ist.

Diesen Neubeginn in Gottes Namen, diese Zeichen der Versöhnung, diese Friedensgabe des Heiligen Geistes haben wir nach den Schrecken des Krieges erfahren. Wir dürfen die Früchte des Geistes genießen, über die der Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater schreibt: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue“.

Beispielhaft will ich einige Stationen nennen, auf denen wir in den vergangenen sechzig Jahren das Wirken dieses Geistes erfahren haben in der Liebe und der Freude, dem Frieden und der Geduld, der Freundlichkeit, Güte und Treue, mit denen sich Menschen über die Grenzen von Systemen und Sprachen, von Kultur und Nation, von geschichtlicher Erfahrung und politischer Hoffnung hinweg gefunden haben und begegnet sind.

In unserer eigenen Kirche wurde einer solchen neuen Erfahrung die Bahn gebrochen durch das Eingeständnis der Stuttgarter Schulderklärung, die im Oktober 1945 bekannte: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Sie verband dieses Bekenntnis mit der Hoffnung auf einen „neuen Anfang“, für den sie ausdrücklich auf das Kommen des Heiligen Geistes bat.

Dankbar erinnere ich an die Versöhnungsbemühungen von beiden Seiten, für die das Wirken der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste bis zum heutigen Tag ein Beispiel ist. Die Orte des Grauens – wie die ehemaligen Konzentrationslager in Polen – wurden zu Orten des Gedenkens und der Solidarität mit den Opfern; die Orte des Widerstands – wie das Haus Kreisau – wurden zu Schulen der Demokratie und der Zivilcourage. Partnerschaften entstanden zwischen Kirchengemeinden und kirchlichen Regionen; sie vergewisserten uns der Kraft unseres gemeinsamen Glaubens; dass dieser Glaube Berge versetzen kann, haben wir erlebt. 

Dankbar erinnere ich an die großen Dokumente der Versöhnung wie die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965 und den Brief der polnischen katholischen Bischöfe aus dem gleichen Jahr. Es wurde um Vergebung gebeten und es wurde Vergebung gewährt. So brach sich der Geist des Friedens Bahn. Das Beharren auf Rechtsansprüchen behielt nicht das letzte Wort.

Dankbar erinnere ich an die zahlreichen und vielfältigen Initiativen zur Begegnung, Verständigung und Versöhnung, die Arbeit des Jugendaustausches, die Nagelkreuzgemeinschaft, die Partnerschaften von Landeskirchen in Deutschland zu den Kirchen in Polen und die Kontaktarbeit mit dem Polnischen Ökumenischen Rat der Kirchen.

Dankbar erleben wir die enge Beziehung zwischen kirchlichen Regionen und einzelnen Gemeinden bis zum heutigen Tag, beispielsweise hier in Jauer nach Offenbach am Main und nach Iserlohn und in der Diözese Breslau der polnischen lutherischen Kirche hin zur Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und ganz besonders zu ihrem Sprengel Görlitz.

Mit großem Respekt füge ich hinzu, dass sich auch die Evangelischen in Deutschland, die früher ihre Heimat in heute polnischen Gebieten hatten, an diesen Bemühungen um Frieden und Neubeginn, oft an wichtiger Stelle, beteiligen. So hat der Konvent der ehemaligen evangelischen Ostkirchen im Jahr 2008 auf den „Bau von Brücken der Verständigung und Versöhnung zu den jetzt in unseren früheren Heimatgebieten Lebenden“ zurückgeblickt und sich auf die Weiterführung der dadurch entstandenen Verbindungen und die Pflege des dadurch aufgebauten Vertrauens verpflichtet.

Mit ebenso großem Respekt danke ich den Christen, den Gemeinden und den Kirchen in Polen, die solchen Impulsen ihrerseits Gestalt gegeben, sie mitgestaltet und die Früchte all dieses Bemühens bewahrt haben und bewahren.

Erst vor zwanzig Jahren fiel der Eiserne Vorhang. Erst vor fünf Jahren trat Polen der Europäischen Union bei. Umso mehr staunen wir darüber, dass es auch vorher schon wichtige Ansätze friedlichen Zusammenlebens zwischen Deutschland und Polen gab. Unschätzbare Vorstufen waren dies für all das, was nun im gemeinsamen europäischen Haus seit zwanzig Jahren wachsen kann.

Für diesen Weg zu friedlicher und erfüllter Nachbarschaft und Gemeinschaft danken wir Gott. Wir erleben  Frieden als „Frucht des Geistes“, wie es der Apostel Paulus beschreibt.

III.

Doch diesen Frieden, diese Frucht des Geistes können wir nicht einfach für uns behalten. Der Apostel Paulus ermahnt und ermutigt uns, diesen Frieden, die Frucht des Geistes auch in unserem Leben, im Leben unserer Kirchen, unserer Länder, unserer Welt zu bezeugen und zu teilen. Deshalb heißt es im Brief an die Galater weiter: „Wenn wir aber im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“.

Die Erfahrungen, durch die wir in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg hindurchgegangen sind, ermutigen uns dazu, in den Konflikten unserer Zeit den zivilen und friedlichen Lösungswegen einen klaren Vorrang zuzuerkennen. Es kann in unserer Zeit nicht mehr darum gehen, einen Krieg zu rechtfertigen; im äußersten Fall können höchstens anhand strenger ethischer und völkerrechtlicher Kriterien Maß und Grenzen „rechtserhaltender Gewalt“ bestimmt werden. Dabei schafft die Verantwortung für einen „gerechten Frieden“ Vorrang für zivile Konfliktbearbeitung. „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ – dies wird in wachsendem Maß zur Grundorientierung christlicher Friedensethik. Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Wer aus Gottes Frieden lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein. Lasst uns als Kirchen gemeinsam das Zeugnis von Gottes Frieden und Versöhnung auch im öffentlichen Leben und angesichts der weltweiten Herausforderungen stärken und weiter entwickeln. Die Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben, ermutigen uns dazu.

IV.

Wir feiern diesen Gottesdienst in der Friedenskirche zu Jauer. Sie erinnert mit ihrem Namen an den Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Sie ist eine von drei Kirchen, deren Bau evangelischen Christen seinerzeit zugestanden wurde. Was hat diese Kirche an Kriegen, Nöten und Unfrieden seither erlebt! Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie einen großen Teil ihrer Gemeinde verloren. Aber sie blieb und scharte eine kleiner gewordene Schar von Glaubenden um sich. Weiterhin bezeugt sie den Frieden Gottes und mahnt zum Frieden in der Welt. Gewidmet ist die Friedenskirche von Jauer dem Heiligen Geist. Es ist dieser Geist, in dem wir wandeln und leben, und dessen Frucht Friede ist.

Er aber, der Herr des Friedens, gebe euch Frieden allezeit und auf alle Weise. Der Herr sei mit euch!

Amen.