Pressestatement zur Eröffnung der Woche für das Leben 2010: „ Gesunde Verhältnisse“ in Frankfurt am Main

Landesbischof Dr. Ulrich Fischer

„Krankheiten sind Schlüssel, die uns Türen öffnen, die anderen verschlossen bleiben“, hat Andre Gide einmal geschrieben. Und wer von uns kennt diese Erfahrung nicht. Gerade in den letzten Jahren berichten auch Prominente davon, wie eine Krebserkrankung oder eine plötzliche Todesnähe ihnen geholfen haben, das alte Leben loszulassen und sensibel zu werden für das, was wirklich wichtig ist. Krankheiten können den Sinn unseres Lebens entschlüsseln, sie können uns Gott und unseren Nächsten näher bringen. Wenn wir spüren, dass wir sein dürfen, wie wir sind - gerade auch mit unseren Schwächen -, entdecken wir eine Wirklichkeit, an die wir mit diesem Dreijahreszyklus der „Woche für das Leben“ erinnern wollen: „Gesund oder krank - von Gott geliebt.“

„Wir hatten Angst und den Tod vor Augen und kennen nun unsere eigene Verwundbarkeit. Wir sind Gott in jener leeren Dunkelheit begegnet, in der uns bewusst wurde, dass wir die Kontrolle über uns verloren haben, und wir haben gelernt, auf Gottes Gegenwart und Fürsorge zu vertrauen…(und) einen neuen Weg für unser Leben zu finden, der uns noch nicht vertraut ist,“ heißt es in einem Dokument des Ökumenischen Rates, das ich heute im Gottesdienst vorstellen werde („Kirche aller“; ÖRK 2003): Darin sprechen behinderte Menschen und ihre Freunde aus, welche Erfahrungen sie einzubringen haben. Erhellende Erfahrungen, bittere Erfahrungen. Denn wie es hinter den verschlossenen Türen aussieht - in Krankenund Sterbezimmern, in Altenhilfeeinrichtungen und Wohngruppen für Schwerstbehinderte -, das wollen viele lieber nicht wissen. Das gesellschaftliche Diktat von dauernder Leistungskraft und Fitness schließt uns gegen vermeintliche Schwächen und vermeintlich Schwache ab.

Darum erheben wir als Kirchen unsere Stimme. Gerade in diesem Jahr wollen wir mit der „Woche für das Leben“ deutlich machen, dass die Kirche ohne die Integration von behinderten Menschen, ohne die Erfahrung von Kranken nicht für sich in Anspruch nehmen kann, Kirche Jesu Christi zu sein. Jedes Mal, wenn wir uns unter dem Kreuz versammeln, tritt uns die Realität des verletzlichen, begrenzten und verwundeten Lebens vor Augen. Und mit dem Gekreuzigten ist die Botschaft verbunden, dass kein Mensch in seinem Leiden allein bleiben muss. Das Wirken Jesu wird in den Evangelien ganz besonders durch die Heilung Kranker und die Integration Behinderter beschrieben. Der alte Begriff des „Heilands“ erinnert daran. Jedes Mal, wenn Jesus einen Menschen heilt, öffnet er zugleich eine Tür zu einem neuen Miteinander. Kinder werden ihren Eltern wiedergegeben, Aussätzige kehren an ihren Wohnort zurück, Behinderte richten sich auf und werden im wahrsten Sinne des Wortes selbstständig. Eine Geschichte Jesu ist bis heute das Paradigma für Solidarität, nämlich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dieses Gleichnis macht klar: Auch der verletzte Fremde am Wegesrand soll nach Gottes Willen gerettet und gesund gepflegt werden. Dass die Unwägbarkeiten, Verletzungen und Wunden des Lebens nicht zu Ausschluss und Verarmung führen, dass Menschen nicht resignieren, sondern sich nach ihren Möglichkeiten weiter beteiligen können, ist für uns alle wichtig - für Kranke und Gesunde. Wer bereit ist, sich von einem Hilfesuchenden aufhalten zu lassen, das erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, kann sich auch der eigenen Verletzlichkeit stellen. In der Begegnung von Starken und Schwachen liegen deshalb Kräfte, von denen die nichts ahnen, die bisher gesund und fit durchs Leben gegangen sind. Nicht nur eigene Krankheiten können uns also die ganze Wirklichkeit des Lebens erschließen, sondern auch die Erfahrungen, die wir mit der Verletzlichkeit und Sterblichkeit anderer machen. Menschen, die ihre Kinder oder Partner verloren haben, andere, die ehrenamtlich im Hospiz mitarbeiten, Freiwillige, die sich in der Nachbarschaftshilfe engagieren, berichten darüber.

„Gesunde Verhältnisse“ - so das Thema der diesjährigen „Woche für das Leben“ - sind auf Solidarität gebaut. Die Kirche selbst muss ein Beispiel dafür geben, was es heißen kann, kranken und behinderten Menschen, demenzkranken Älteren oder den Angehörigen von Pflegebedürftigen einen Platz in der Gemeinschaft zu geben. Aber auch Schulen und Betriebe können einen wesentlichen Beitrag für eine solche Öffnung leisten: zum Beispiel mit Programmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflegearbeit, mit der Integration behinderter Schülerinnen und Schüler in Regelschulen, aber auch mit einer Lern- und Arbeitskultur, die trotz aller Leistungsund Mobilitätsanforderungen menschengerecht bleibt. S

Schließlich muss es darum gehen, die solidarischen Grundlagen unserer Gesundheitsversorgung zu erhalten. Unser Gesundheitssystem folgt dem Grundsatz, dass der zuverlässige Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit Einzelner abhängig ist, sondern allen offen steht. Damit dieser Grundsatz erhalten bleiben kann, werden wir uns in den nächsten Jahren ganz ohne Frage mit Herausforderungen auseinander setzen müssen, die längst auf der Hand liegen: Die demographisch bedingten Verschiebungen zwischen Erwerbsbevölkerung und Versorgungsempfängern wirken sich massiv auf das Gesundheitssystem aus. Damit verbindet sich zum einen die Frage, ob im Gesundheitssystem Ausgaben enthalten sind, die ohne einschneidende Qualitätsverluste eingespart werden können, oder ob es möglich ist, durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen stationären und ambulanten Systemen oder zwischen niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Fachärzten Synergien zu schaffen. Hierhin gehören auch die Überlegungen des Gesundheitsministers, die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Erwerbstätigen und Hilfebedürftigen, dieser und der nächsten Generation je gesondert zu betrachten und einen Teil der Solidarleistungen aus dem Steuersystem zu bestreiten.

Damit verbindet sich nun allerdings die Sorge, dass damit die Unterschiede in der Versorgung wachsen könnten und dass die wachsende soziale Ungleichheit auch auf das Gesundheitswesen durchschlagen könnte. Würde sich diese Befürchtung bestätigen, hätten wir in unserem Land keine „gesunden Verhältnisse“ mehr. Der Rat der EKD hat eine eigene ad-hoc-Kommission unter Leitung von Prof. Dr. Peter Dabrock eingesetzt, die bis zum Ende des Jahres eine Stellungnahme zu diesen Fragen vorlegen wird. Schon jetzt allerdings haben wir es mit großen Ungleichheiten im Blick auf die Versorgung bestimmter Bevölkerungsgruppen zu tun. Ich denke an Kinder, die in von Armut betroffenen Familien leben, an die Überlastung von Kinderarztpraxen in Brennpunktstadtteilen, an die verzweifelte Lage von Illegalen oder die Unterversorgung von älteren Frauen. Das sind Herausforderungen, die nicht nur die Strukturen unseres Gesundheitssystems, sondern auch die Systematik von Leistungsentgelten betreffen. In diesem Zusammenhang sind wir froh darüber, dass mit der Veränderung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs in der letzten Legislaturperiode die Situation von Demenzerkrankten mehr in den Blick gekommen ist – genauso wie die Situation von chronisch Kranken im Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen.

Es geht dabei eben nicht nur um finanzielle, sondern um grundlegende ethische Fragen - um die Würde derer, die wir leicht aus dem Blick verlieren. Um die Situation derer, in die wir uns oft erst einfühlen, wenn wir betroffen sind. Es geht also, wenn wir über „gesunde Verhältnisse“ sprechen, nicht nur um die zukünftige Ausgestaltung des Gesundheitssystems selbst, sondern auch um die Frage, wie wir Nachbarschaften, Schulen und Betriebe organisieren und wie wir zusammen leben. Denn die Betreuung bei chronischen Krankheiten oder die palliative Pflege brauchen nicht nur finanzielle, sondern auch zeitliche Ressourcen von Professionellen, Familien und Nachbarschaften. Oft geht es nicht darum, Krankheiten zu heilen, sondern Menschen zu helfen, mit ihrer Krankheit möglichst gut am Leben teilzuhaben. Damit das gelingt, brauchen alle, die sich hier von Berufs wegen oder freiwillig engagieren, unsere Anerkennung und Wertschätzung. Wenn es uns nicht gelingt, die notwendige Wertschätzung für pflegende Berufe wie für freiwilliges Engagement stark zu machen, werden sich die Probleme zum Beispiel in der Altenpflege verstärken.

Die Solidarsysteme der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung setzen voraus, dass jeder und jede nach Möglichkeit für sich selbst sorgt und dass Familien und Freunde füreinander da sind. Eigenverantwortung und Solidarität gehören zusammen. Wenn wir die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und die Versorgung auf einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau nicht preisgeben wollen, muss die Verantwortungsbereitschaft aller gestärkt werden. Das gilt im Blick auf finanzielle Beiträge, es gilt aber vor allem Blick auf unsere Haltung und Mentalität. Hier sehen wir uns als Kirchen, die sich im Namen des Gekreuzigten versammeln, in der Pflicht. Darum reden wir in dieser „Woche für das Leben“ in besonderer Weise über „gesunde Verhältnisse“.