Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bei der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der Woche für das Leben 2010 in Frankfurt am Main

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch

Sehr geehrte Damen und Herren!

Zum 20. Mal eröffnen wir heute in einer bundesweiten Aktion die Woche für das Leben. Ihr zentrales Anliegen ist der Schutz des Wertes und der Würde des menschlichen Lebens.

An ihrem Ursprung stand der Wunsch, die Diskussion über eine Neuregelung des § 218 nach der Wiedervereinigung mit einer seriösen kirchlichen Aktion zu begleiten. Sehr schnell wurde uns klar, dass der Schutz des menschlichen Lebens unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft auf vielfältige Herausforderungen trifft. So war die Bandbreite der Themen in den vergangenen 20 Jahren so groß, wie das Leben selbst: Ich erinnere etwa an die Frage nach der Wertschätzung des Lebens im Alter, nach dem rechten Umgang mit Behinderten, Kranken oder pflegebedürftigen Menschen, dem Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung oder das Ausloten der Chancen und Grenzen der modernen Medizin.

Die aktuelle Woche für das Leben beschäftigt sich mit einem medizinischen Thema – aber in einem weiteren Sinn. Die laufenden drei Jahre stehen unter dem Oberbegriff. „Gesund oder krank – von Gott geliebt“. Gesundheit und Krankheit haben große Bedeutung für das menschliche Leben und Zusammenleben. Gesundheit und Wohlbefinden spielen eine große Rolle im Miteinander. Die biblische Botschaft von der unverwechselbaren Identität und Würde eines jeden Menschen, das christliche Verständnis von Krankheit und Tod lehren uns auch die eigenen Grenzen in den Blick zu nehmen. Gesundheit ist eben nicht jederzeit wieder herstellbar. Daher verpflichtet uns das christliche Verständnis vom Menschen dazu, gerade dort die Stimme zu erheben, wo grundsätzlich die Begrenztheit menschlichen Lebens nicht mehr akzeptiert wird, wo die berechtigte Sorge um Gesundheit das Maß verliert und sich in einen medizinisch-biotechnischen Machbarkeitswahn steigert. Das hat die Woche für das Leben in den letzten beiden Jahren in besonderer Weise getan.

In diesem Jahr heißt das Thema „Gesunde Verhältnisse“. Es geht uns vor allem um die Frage eines solidarischen Gesundheitssystems angesichts knapper werdender Ressourcen im Gesundheitswesen. Es sind damit selbstverständlich auch, aber nicht ausschließlich, ökonomische Aspekte gemeint.

Die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ändern sich grundlegend. Ich möchte nur stichwortartig auf den medizinisch-technischen Fortschritt, den demografischen Wandel und die steigende Lebenserwartung, sowie die sinkende Zahl an Beitragszahlern durch Arbeitslosigkeit und neue Formen von Beschäftigung mit geringen Sozialabgaben verweisen. Insofern steht der Gesundheitssektor sicherlich vor großen Herausforderungen, die nachhaltig angegangen und solide gelöst werden müssen.

Damit dies gelingt, braucht es einen festen Gestaltungswillen aller Akteure in Politik und im Gesundheitswesen. Wir, die Kirchen selbst, sind mit Caritas und Diakonie nicht unbedeutende Akteure auf dem Sektor des Gesundheitswesens. Das heißt: Wir wissen auch aus praktischer Erfahrung, worüber wir reden – und wir werden uns an dieser wichtigen Aufgabe beteiligen.

Die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen sind Solidarsysteme, die nach dem Prinzip „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2) aufgebaut sind. Die Gesunden tragen die Kranken und die Starken die Schwachen, jeder nach seinem Vermögen. Die solidarische Krankenversicherung, die wir zukunftsfähig machen müssen, bietet den Menschen Sicherheit und Rückendeckung in einer Welt mit immer neuen Risiken. Gerade deshalb ist es unerlässlich, offen und ehrlich über die verschiedenen Reformvorschläge zu diskutieren und tragfähige Lösungen zu erarbeiten. – Nur so entstehen finanziell und solidarisch „gesunde Verhältnisse“.

Eng verbunden mit der Frage der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung steht die Forderung nach mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Die Katholische Soziallehre hat stets die grundlegende und positive Rolle des Marktes, den Wettbewerb und die kreativen Kräfte der Akteure im Bereich wirtschaftlichen Handelns anerkannt. Für die Spielregeln jeglichen Wettbewerbs hat der Staat ordnungspolitisch zu sorgen. Die Spielzüge geschehen aber sinnvollerweise durch die vielfältigen Akteure im Gesundheitswesen. Schon lange wissen wir, dass komplexe moderne Gesellschaften sich nicht zentral steuern lassen und es besser auch gar nicht erst versucht wird. Eigenantrieb und Kreativität der gesellschaftlichen Kräfte würden lahm gelegt. Dem will unser Subsidiaritätsprinzip entgegenwirken: Es gewährt den kleineren gesellschaftlichen Einheiten Vorrang, solange sie in der Lage sind, ihre Aufgaben eigenständig zu erfüllen. Aber den Staat verpflichtet es, wenn die kleineren Einheiten überfordert wären.

Was die Leistungsseite betrifft, so bin ich der festen Überzeugung, dass ein System nicht dann sozial ist, wenn es alle gleich behandelt, sondern wenn es den Bedürfnissen des Einzelnen gerecht wird. Es muss sichergestellt sein, dass niemand ausgeschlossen wird. Die Solidargemeinschaft muss dort einspringen, wo die Möglichkeiten des Einzelnen überfordert sind – und nur dort. Selbstsorge wird unverzichtbar bleiben.

Und noch eines scheint mir wichtig, deutlich zu machen: Es ist offensichtlich, dass die Frage nach Gesundheit auch etwas mit sozialer Lebensform und Bildung zu tun hat. Die Einsicht in die Notwendigkeit, sich um seine Gesundheit zu kümmern, hängt mit der Möglichkeit zusammen, Präventionsmaßnahmen ergreifen und insbesondere sich gesund ernähren zu können. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass Kinder aus armen Familien weniger gesund leben als ihre sozial besser gestellten Schulkameraden, und wir gleichzeitig wissen, dass ein höherer Bildungsstand in aller Regel zu einem höheren Einkommen führt, dann stehen wir in dem breiten Sektor der Gesundheitsversorgung vor weitaus umfangreicheren als nur monetären Aufgaben. Auch wir als Kirchen möchten an diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitwirken und wir tun es ja auch in vielfältiger Weise. Dabei geht es uns zuallererst um den Menschen und um ‚Gesunde Verhältnisse’, in denen er lebt

17. April 2010