Predigt über Jesaja 63, 15-16.19b; 64, 1-3, Evangelische Kreuzkirche Istanbul

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde,

die Christenheit feiert heute den zweiten Advent, den zweiten Sonntag in einer Zeit, die unsere Herzen öffnen soll für die Botschaft von der Ankunft Gottes. Wir erinnern und wir erwarten die Ankunft Gottes für unsere Welt und für unser Leben.

Advent, das ist für uns Christenmenschen eine Zeit, die unser Erinnern und unser Erwarten zusammenbinden will und uns genau darin Kraft und Zuversicht für unsere Gegenwart schenken kann.

Wir erinnern uns an all die Verheißungen, die Gott für uns schon erfüllt hat! Im Zugehen auf Weihnachten erinnern wir uns und die Welt daran, dass Gott in Jesus von Nazareth auf die Welt angekommen ist. Dass – in dieser einen Nacht und in diesem einen Menschen – Gott schon den Himmel aufgerissen und sein Gottesreich untrennbar mit unserer Erdenwelt verbunden hat. Advent heißt, wir vergegenwärtigen uns die Erinnerung, damit wir niemals als Gott-Verlassene auf dieser Erde leben müssen, was immer wir erleben und erleiden. Zugleich aber erwarten wir die zukünftige Ankunft des erhöhten Christus. Wir erwarten und ersehnen die Vollendung des Gottesreiches. Wir erleben und erleiden doch alltäglich – ob in Deutschland oder in Istanbul –, dass noch nicht alle Verheißungen Gottes zu ihrer Erfüllung gekommen sind. Auch 2000 Jahre nach Christi Geburt stehen sie noch aus, der neue Himmel und die neue Erde Gottes, in denen der Tod nicht mehr sein wird und Gott alle unsere Tränen abwischen wird. Advent heißt, wir vergegenwärtigen uns die Verheißungen, damit wir mit Zuversicht und Hoffnung auf dieser Erde leben können, was immer wir erleben und erleiden.

Advent, liebe Gemeinde, das ist auch für uns Christenmenschen nicht eine Zeit der einfachen und eindeutigen Antworten. Bei aller weihnachtlichen Vorfreude bleibt Advent auch für uns eine Zeit der Fragens und Rufens nach Gottes Menschennähe. Eine Zeit der Sehnsucht und des Verlangens, dass nicht alles so bleiben wird, wie es ist.

Dieses Fragen und Rufen nach einem gegenwärtigen Erweis von Gottes Menschennähe und dieses sehnsuchtsvolle Verlangen, dass das Leben und die Welt sich ändern mögen, verbinden uns Heutige mit einem Gebet der Menschen in Israel vor 2500 Jahren. Beim Propheten Jesaja (63,15f.19b; 64,1-3) ist uns dieses Gebet überliefert, es ist der Predigttext für den heutigen Adventssonntag.

Den Israeliten war es durch den Perserkönig gestattet worden, aus dem babylonischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren. Jerusalem hatten sie wieder aufgebaut, es gab wieder einen jüdischen Tempel. Und doch ging es dem Volk Israel nicht gut. Die wirtschaftliche Not war groß, in der judäischen Provinz herrschten Armut und Existenzängste. Es bestand Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Gott erschien ihnen mit all seiner Macht und Herrlichkeit buchstäblich "himmelweit" weg. Die Menschen vermissen Gottes machtvolles Eingreifen in die Geschicke ihres Volkes. Und sie vermissen seine erbarmende Zuwendung zu jedem Einzelnen. Sie erinnern sich an die Heilszusagen der Propheten aus der Exilszeit, an all die Verheißungen für die Zukunft, die nun, da die Zukunft Gegenwart geworden war, eher wie leere Versprechungen klangen.

Doch sie wollen sich mit ihrer gefühlten Gottverlassenheit nicht abfinden. Sie wollen Gott bei seinem "Vater-Sein" behaften, wollen neu auf sein erlösendes Handel vertrauen. Und so klagen und beten die Israeliten zu ihrem Gott:

"So schau, Gott, nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!
Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?
Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.
Bist du doch unser Vater;
denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht.
Du, HERR, bist unser Vater;
»Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden
und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten
– und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! –
und das man von alters her nicht vernommen hat.
Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir,
der so wohltut denen, die auf ihn harren."

Ein wortgewaltiger Protest gegen einen rein transzendenten – also rein jenseitigen – Gott begegnet uns in diesem Gebet. Eine schmerzliche Sehnsucht nach dem aufgerissenen Himmel und dem kommenden Gott, der endlich Klarheit schafft für seine Gotteskinder und gegen alle Gottesfeinde.

Wie nah kommen doch auch uns heutigen Christenmenschen dieser Protest und diese Sehnsucht! Wie oft fragen doch auch wir uns angesichts unserer unheilen Welt und unseres oft nicht einfachen Lebens: Wer oder was öffnet uns den Himmel? Wann lässt Gott uns ganz persönlich seine große und herzliche Barmherzigkeit konkret spürbar und erfahrbar werden? Und wann endlich werden alle Bestreiter und Feinde Gottes von seiner Macht und Herrlichkeit überwältigt werden?

Die betenden Israeliten damals waren nach langen Exilsjahren heimgekehrt. Und doch: Sie fühlten ein Stück Heimatlosigkeit inmitten ihrer Heimat. Sie kannten Gottes Verheißungen für Abrahams Nachkommen und für sein Bundesvolk Israel. Und doch: Sie fühlten ein Stück gebrochene Identität und zweifelten an der konkreten Wirkmächtigkeit ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Stammvater Abraham und zu Israel.

Und auch darin – in diesem Stück Heimatlosigkeit und gebrochener Identität – sind sie uns heute nahe. Nicht nur Ihnen als deutschsprachigen Christenmenschen hier in der Gemeinde Istanbul. Sie könnten uns sicherlich aus ihren ganz alltäglichen und konkreten Alltagserfahrungen einiges davon erzählen.

Ich denke aber, es gilt auch grundsätzlich: Christenmenschen fühlen immer ein Stück Uneindeutigkeit und Gebrochenheit, weil sie mit diesem "schon – und noch nicht" ihre irdische Gegenwart bestehen müssen. Weil sie zugleich glauben und bekennen: Unser Erlöser ist gekommen. Gott hat für uns schon den Himmel aufgerissen. Und: Unsere Erlösung steht noch aus. Gott wird kommen und mitten unter uns wohnen und alles wird allen offenbar sein!

Diese "Zwischenzeit", die Zeit zwischen Anbruch und Vollendung ist die uns geschenkte und aufgegebene Lebenszeit. Das will uns die Adventszeit in dem Zusammenhalten von Erinnern und Erwarten immer wieder neu in unser Bewusstsein rufen. Diese Zwischenzeit gilt es zu bestehen. Nicht mit Jenseitsvertröstungen und auch nicht, indem wir passiv und tatenlos allein auf Gottes Handeln und Wirken warten.

Der Lebensgeschichte des Gottessohnes können wir konkrete Wegweisung entnehmen, wie wir im Beten und im Tun des Gerechten den offenen Himmel selbst erfahren und anderen erfahrbar machen können. Wie wir Wege des Friedens und der Gerechtigkeit gehen und – an Christi statt – Gottes Menschennähe auf unserer Welt bezeugen können. In der Nachfolge Christi finden wir das bleibende Stück Heimat und die Identität, die uns Hoffnung und Zuversicht schenken inmitten und trotz aller Gebrochenheit.
 
So ist und bleibt die Adventszeit auf dieser Erde auch für uns Christenmenschen eine Zeit der Fragens und Rufens nach dem offenen Himmel und nach Gottes Menschennähe. Und eine Zeit der Sehnsucht und des Verlangens, dass nicht alles so bleiben, wie es ist. Doch uns tragen die Erfahrung und die Gewissheit: Unsere Sehnsucht läuft nicht ins Leere. In dem lebendigen Gotteswort Jesus Christus ist all unser Fragen und Sehnen nach einem gelingenden Leben, nach Recht und Gerechtigkeit, nach Veränderung und Neuanfang gut aufgehoben. Sein Licht scheint auch heute in alle Dunkelheiten dieser Welt und unseres Lebens.

Eine gesegnete Adventszeit uns allen!

Amen.