Weichenstellung für Europa: Möglichkeiten der evangelischen Kirche(n)

Thies Gundlach auf der Begegnungstagung für Politiker und Politikerinnen sowie Mitgliedern der Kirchenleitung im Haus Villigst

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei dem Weisheitslehrer Jesus Sirach (3. 27) steht das geflügelte Wort: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“ Das gilt für das heute anstehende Thema besonders, denn in diesen Tagen über „Weichenstellung für Europa“ zu sprechen kommt dem Versuch gleich, in einem Bienenstock die Königin zu finden, - viele Stichverletzungen sind einem gewiss. Und das aus mindestens drei Gründen: Einmal ist das Thema Europa gegenwärtig derart komplex, dass man zu jeder Überlegung immer zugleich das Gegenteil und ein Drittes nennen müsste, um den Problemen angemessen zu begegnen. Zum anderen hat der liebe Gott unsere Welt nun einmal so eingerichtet, dass die real existierenden Möglichkeiten immer hinter den Erwartungen zurückbleiben, was den Vertreter der Möglichkeiten leicht die Rolle des nüchternen und blassen Realos gibt. Und zuletzt kann man das Wilhelm Busch zugeschriebenen Motto „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“ auch missverstehen, und endlich einmal allen anderen sagen, was das Wahre, Gute und Schöne für Europa sei. Diesen drei Gefahren möchte entkommen durch eine gewisse Konzentration; im Folgenden will ich aus der Mitte meiner eigenen geistlichen Tradition heraus Quellen identifizieren, die mir für eine „Weichenstellungen für Europa“ hilfreich zu sein scheinen.

Damit positioniere ich meine Überlegungen jenseits einer reinen Fiskaldebatte: Die gegenwärtig dominanten Europadiskurse zur Banken- und Staatsschuldenkrise, zu Fiskalpakt und Europäischen Stabilitätsmechanismus, zur Rolle der EZB und zu den Rettungsschirmen leiden wohl nicht nur daran, dass sie offenbar zu keiner durchgreifenden Lösung führen, sondern auch daran, dass sie nur selten auf andere kulturelle Quellen des Europaprojekts rekurrieren. Ich halte die dahinter aufleuchtende These, Europa sei allein durch die Finanzen in die Krise geraten und also auch allein durch die Bewältigung der Finanzkrise zu retten, für einen Trugschluss. Europa hat eine Finanzkrise, ja, aber diese spiegelt eine Glaubwürdigkeitskrise. Denn dies eine darf man doch nicht vergessen: Proportional zur Bevölkerung und volkswirtschaftlichen Leistungskraft ist der europäische Raum ungleich geringer verschuldet als der amerikanische oder japanische Wirtschaftsraum! Es spielen Vertrauen und Glaubwürdigkeit der europäischen Perspektiven offensichtlich eine weit größere Rolle als Finanzsolidität und Sparsamkeit, die natürlich ebenfalls wichtig sind.

Deswegen aber bin ich überzeugt, dass die Debatte um eine Weichenstellung für Europa dringend eine Besinnung auf kulturell-geistliche Quellen braucht und verdient, nicht um Religion zum Schmieröl eines weltmarkttauglichen Europa-Zuges zu degradieren, auch nicht, um Kirche, Staat und Zivilgesellschaft zu vermischen, sondern um jene Kräfte anzudeuten, die Quellen für eine gute Weichenstellung sein könnten. Denn das berühmte Böckenförde-Argument gilt doch auch für Europa: Ein demokratisches Europas wird ebenfalls von Quellen leben, die es selbst weder garantieren noch herstellen kann. Und deswegen ist die dominante Säkularisierungstendenz Europas und die damit verknüpfte reine fiskalpolitische Debatte auch ein Sägen des Astes, auf dem man sitzt.

Nach diesen Vorüberlegungen werden Sie nicht verwundert sein, dass ich meinen Vortrag in zwei Hauptabschnitte aufteile: Im Teil A soll es um spezifisch theologischen Quellen gehen, die dann in einem Teil B in ihrer Bedeutung für eine Weichenstellung für Europa ausgelegt werden. Und ich hoffe, mit diesem Vorgehen dem alten Grundsatz treu zu bleiben, dass Kirche und Theologie nicht selbst Politik machen, wohl aber Politik möglich machen will.

A. Orte zukunftsweisender Erinnerungen

Es sind drei geistliche Quellorte, die ich ansprechen möchte; sie liegen alle drei außerhalb Deutschlands, sie sind alle ökumenisch geprägt und sie bilden zusammen eine Art Netzwerk zukunftsweisender Erinnerungen; in der Reihenfolge ihres Auftretens geht es 1. um Taizè in Burgund und um die Frage nach der Wahrheit, 2. um den kleinen Ort Leuenberg in der Schweiz und um die Haltung der Demut und 3. um Straßburg und um die Größe der Hoffnung.

1. Taizè und die Frage nach der Wahrheit

Mitte des letzten Monats war ich zwei Tage in der Ökumenischen Communauté de Taizé in Burgund, Frankreich, eine von dem 2006 ermordeten Leiters und Lenkers Frerè Roger gegründete Gemeinschaft. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges lädt die auf 100 Männer begrenzte Bruderschaft junge Menschen ein, mit ihnen für einen begrenzte Zeit (die meisten sind 1, maximal 2 Wochen da) mit zu leben. Nach der Friedlichen Revolution 1989 ist der Besucherstrom ins Unermessliche gestiegen; in den Sommermonaten sind gleichzeitig 3000 – 5000 Jugendliche aus ganz Europa und darüber hinaus auf diesem Hügel in den Ausläufern des Juragebirges versammelt – pro Woche!

Die Jugendlichen, überwiegend zwischen 15 und 25 Jahre, lassen sich in den Rhythmus der Brüder hineinnehmen, es wird dreimal am Tag die Kirche aufgesucht, es gibt vormittags gemeinsames Bibelstudium und nachmittags gemeinsame Arbeit - die Gruppen dienen einander durch Essensvorbereitung, Aufräumen und Putzen („ora et labora“). Die gemeinsamen Gebete in der großen Kirche sind zweifellos die Mitte und der Kern der Faszination, die die Communauté de Taizé auf die Jugend Europas ausübt. Und die berühmten Taizè-Gesänge, diese ebenso schönen wie schlichten, sich wiederholenden und leicht zu lernenden Gesänge kann man getrost als „lingua franca der europäischen Frömmigkeit“ bezeichnen. (Kennen Sie den Gesang „Laudate omnes gentes“ oder „Bleibet hier und wachet mit mir“?)

Wichtig wurden mir zwei Beobachtungen, die ich aus den Gesprächen mit den jungen Menschen herausgehört habe:

Einmal gibt es nicht nur in den Gesängen der Anbetung so etwas wie eine europäische Sprache, sondern auch in der Verständigung. Die Brüder berichteten in einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz von dem „sog. Taizè-Englisch“, radebrechend natürlich, konzentriert auf einfache Sätze, langsam gesprochen, weil sonst die jeweilige Mundart der Muttersprache jedes Verstehen ausschließt. Aber es funktioniert, die Jugendlichen können sich quer durch den Kontinent verständigen, können ihren Glauben, ihre Geschichte, ihre Gefühle teilen in einer Sprache. Und das funktioniert aus dem gleichen Grund wie bei den Gesängen: Das spirituelle Geheimnis der Communauté de Taizé ist die Einfachheit in Leben und Anbetung, in Gottesdienst und Sprache. Seit meinem Taizebesuch fällt es mir schwer zu glauben, dass Europa keine gemeinsame Sprache habe, wenn es darauf ankommt. Die einzelnen nationalen Sprachvertreter mögen in mir einen Verräter erkennen, wenn ich das künstlich erhaltene Sprachengewirr Europas in Frage stelle, aber faktisch können wir uns seit der Friedlichen Revolution von Lissabon bis Minsk in Englisch verständigen, und die nächste Generation wird dies Gott sei Dank noch entschlossener tun als wir Älteren.

Zum anderen aber gab es in den Erzählungen einen Punkt, der in seiner Einfachheit ebenso anrührend wie bestürzend war. Wenn diese jungen Leute miteinander redeten, sprachen sie auch von ihren Hoffnungen und Chancen, aber oft auch von ihrem Kummer. Gleich, ob eine Spanierin von ihren desaströsen Berufsaussichten erzählte oder ein junger Russe von seinen gruseligen Erfahrungen beim Militär, immer formulierte sich ein junges Leid, eine Wahrheit und Aufrichtigkeit, die dieser Raum vor Gott in Taizè freisetzt. Und diese Wahrhaftigkeit in den Erzählungen, ermutigt und befreit durch die spirituelle Offenheit für die Gottes- und Sinnfrage, muss uns Ältere beunruhigen. Denn dieses junge Europa ist ein Europa der Sehnsucht nach Fairness und Solidarität, nach Tiefe und Grenzüberwindung, aber oft belastet mit dem Kummer aus Orientierungslosigkeit und Multioptionsstress, aus Banalität und Äußerlichkeiten. Wohl nicht nur in Taizè wächst eine Generation heran, die diese rein merkantil-wettbewerbliche Ausrichtung des Kontinents nicht mehr mitträgt, die – um mal jugendlich-salopp zu reden – dieses Fiskaleuropa egoistisch und aufgeblasen, leichtsinnig und äußerlich findet, weil es ihnen Wunden schlägt, Lasten aufbürdet und Leere verströmt.

Vor diesem Hintergrund lese ich zwar mit einem gewissen Respekt vom Engagement der deutschen Außenminister für Europa (ohne Joschka Fischer) oder von der Initiative „Wir sind Europa“ des Soziologen Ulrich Beck und des Grünenpolitikers Daniel Cohn-Bendit. Diese alle weisen zu Recht darauf hin, dass es noch keinen Bürgersinn einer Zivilgesellschaft für Europa gibt, der sich aber m.E. auch kaum etablieren lässt durch solche Initiativen von oben. Und nach meinem Taize-Besuch füge ich hinzu: Das wirkliche Europa der nächsten Generation findet man eher in Taizè oder vielleicht auch in den Zelten der Occupy-Bewegung; dort aber ist eine Begeisterung für Europa nicht so leicht durch parlamentarische oder staatliche Initiativen zu haben. Denn Europa setzt gegenwärtig eher Bedenken als Begeisterung frei; von einem Europa der Herzen und der Seelen sind wir weiter entfernt als früher: Europa hat bei der nächsten Generation nicht nur fiskalisch gesehen Schulden gemacht, sondern auch im geistigen, spirituellen und mentalen Bereich.

2. Leuenberg oder die Haltung der Demut

Als zweite Quelle nenne ich die Leuenberger Konkordie von 1973. Gegenwärtig stehen die Evangelischen Kirchen gemeinsam mit Staat und Zivilgesellschaft in einer sogenannten Lutherdekade, die uns zum Jubiläum im Jahre 2017 „500 Jahre Reformation“ hinführen soll. Mit dieser Dekade soll gleichsam in 10 Portionen die Tiefe und die Breite, die Höhe und die Weite der reformatorischen Veränderungsprozesse erschlossen werden, die die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts ergriffen und die bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert Folgen hatte. Es dürfte einerseits kein ganz falsches protestantisches Selbstbewusstsein sein, die These zu vertreten, das mit der Reformation Grundthemen der Moderne wie individuelle Gewissensfreiheit, Mündigkeit, Bildungsgeschehen, Weltaufwertung, Berufsverständnis u.a.m. entzündet und verstärkt wurden, die sich zwar keineswegs gradlinig durchgesetzt haben, aber eben doch dort ihre bleibende Verankerung haben. Aber es schmälert andererseits auch keineswegs das protestantische Selbstbewusstsein, sondern adelt es, zuzugestehen, dass die historische Durchsetzung dieser Ideen weder ohne die Gegenreformation und also ohne die katholischen Kontrahenten noch ohne die nach dem 30igjährigen Krieg erwachsenen Kräfte der Aufklärung gelungen wäre. Das Reformationsjubiläum 2017 ist darum in unseren Augen nicht nur ein ökumenisch zu feierndes Jubiläum, weil auch die römisch-katholische Kirche des Vaticanums II ohne die Errungenschaften von Reformation und Gegenreformation nicht zu verstehen ist; sondern auch ein zivilgesellschaftlich zu feierndes Ereignis, weil sich viele moderne Selbstverständlichkeiten auf diese Tradition berufen können und berufen sollten.

Gegenwärtig nun bereiten wir im Rahmen der Lutherdekade das Themenjahr 2013 vor: „Reformation und Toleranz“! Dieses Jahr zwingt dazu, auch die Grenzen und Zerstörungen, die Intoleranz und Brutalität zu benennen, die in den ersten Jahrhunderten zwischen den Konfessionen in Europa entstanden. Es gab viel zu lange in Europa einen gegenseitigen Vernichtungswillen der Konfessionen, wobei dieser sich keineswegs nur auf die s.g. „Altgläubigen“ bezog, also auf die durch die Reformation zu einer römisch-katholischen Kirche gewordene konfessionelle Alternative, sondern auch auf die innerprotestantischen Ausdifferenzierungen, die sehr bald nach Luthers Entdeckung der Freiheit eines Christenmenschen entstanden. Denn das ist ja klar, wenn auch für die Generation Luthers völlig überraschend: Wenn man die Freiheit so sehr in den Mittelpunkt des Glaubens rückt, dann darf man sich über die entstehende Vielfalt nicht wundern. Plötzlich gab es schärfste Auseinandersetzungen zwischen Wittenberger und oberdeutscher Reformation, zwischen Lutherischen und Täufern, zwischen Calvin und dem Antitrinitarier usw. Die einzelnen Konfessionen und reformatorischen Bewegungen haben sich im Prinzip verhalten wie die später zu entscheidenden Größen der Politik werdenden Nationalstaaten: Es gab einen gegenseitigen Vernichtungswillen, ungeschönt ausgetobt im 30jährigen Krieg, später moderater geworden durch die Auflagen einer Zivilgesellschaft, die die Bürgerrechte von den religiösen Überzeugungen trennte; man freute sich über Eroberungsfeldzüge und Geländegewinne (die dann Missionserfolge genannt wurden), man buhlte um den größeren Einfluß bei den Entscheidungsträgern und sah Verständigung als Schwäche an. Es gab damals erstaunlich viele Kirchen und Konfessionen „im eigentlichen Sinne“, - eine Situation, die sich bei aller Modifikation im Ton erhalten hat bis in die jüngste Vergangenheit. Denn man sieht diese Tradition der Abgrenzung doch mit einer gewissen Verzweiflung hineinreichen bis in zentrale Kirchenkampferfahrungen. Zwar hatte sich der deutsche Protestantismus quer durch alle konfessionellen Bindungen vom 29. bis 31. Mai 1934 zusammengerauft und mit der ersten Bekenntnissynode in Barmen-Gemarke und ihren sechs Barmer Theologischen Thesen ein Signal gegen die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten gesetzt. Doch nach der Annahme dieser wegweisenden Thesen gingen die lutherischen, reformierten und unierten Mitglieder doch wieder in ihre je eigenen Gottesdienste zur Abendmahlsfeier. Das Erbe von 400 Jahren Trennung hatte selbst in solch einer bedrohlichen Situation die Kraft, die Gemeinschaft am Tisch des Herrn zu verhindern. Ich gestehe, dass ich manchmal fürchte: Wenn Christus uns am Ende aller Tage doch etwas übel nehmen sollte, dann ist es dieser unverständliche Separatismus im Protestantismus.

Und es dauerte noch bis 1973, bis diese reformatorische Schlüsselerfahrung der Trennungen zu einem Schritt führte, den man in seiner Bedeutung gar nicht genug würdigen kann und der sich 2013 zum 40. Mal jährt: Im März 1973 wurde in der kleinen Stadt Leuenberg in der Nähe von Basel die Leuenberger Konkordie von vielen lutherischen, unierten und reformierten Kirchen beschlossen, einschließlich der vorreformatorischen Kirchen der Böhmischen Brüder und der Waldenser. Die Leuenberger Konkordie, die mittlerweile von 103 in Europa und auch Lateinamerika wirkenden Kirchen unterschrieben worden ist, ist gleichsam die europäische „Magna Charta“ der reformatorischen Kirchen. Sie deklariert eine europaweite Kirchengemeinschaft, die einander Gemeinschaft in Wort und Sakrament gewährt, die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zulässt und die gegenseitige Anerkennung der Ordination mit sich bringt. Und sie konstituiert ihre Gemeinschaft organisatorisch in Gestalt der „Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE). Und die Art und Weise, wie die Leuenberger Konkordie Gemeinschaft trotz bleibender Unterschiede der Kirchen und Konfessionen formuliert und gestaltet hat, ist in meinen Augen ein wesentlicher Beitrag der evangelischen Kirchen zur Weichenstellung für Europa:

Denn diese Überwindung der abgrenzenden Kirchlichkeit, gleichsam die Überwindung der religiösen Nationalstaatlichkeit, wurde erreicht mit einer ebenso einfachen wie übertragbaren Grundidee: Mittels der Konzentration auf das Wesentliche. Man klammerte einfach viele Fragen hinsichtlich des so umstrittenen Abendmahlsverständnisses aus und konnte nun ein „gemeinsames Verständnis des Evangeliums“ feststellen. Und diese Feststellung reicht aus, um sich gegenseitig anzuerkennen in aller bleibenden Verschiedenheit. Es war - und das scheint mir das Entscheidende auch für die Weichenstellung in Europa zu sein – ein Weg der Demut und Bescheidenheit. Mit der Leuenberger Konkordie setzte sich keine Tradition durch, niemand wurde Sieger, sondern die Kirchen erkannten die Verschiedenheiten als gleichermaßen legitim an und schufen so Frieden. Der Grundsatz lautete: Übereinstimmung bedarf es lediglich im Zentrum, im Verständnis des Evangeliums; konkret: Es ist genug zu wissen, dass Christus sich selbst im Vollzug des Abendmahls schenkt. Wie er das macht, wie seine Gegenwart in den Elementen zu verstehen ist, das mag unterschiedlich verstanden werden, dies ist aber nicht kirchentrennend.

Mit dieser Grundidee aus Leuenberg, mit diesem „satis est = es ist genug“ haben die reformatorischen Kirchen einen gewaltigen Schritt in Richtung Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) gemacht. Die Leuenberger Konkordie hat zwar noch lange nicht alles erreicht, was möglich ist, aber vielleicht doch manches von dem auf die Schiene gesetzt, was auch im politischen Kontext Europas heute erwünscht und erhofft wird. Denn die Konzentration auf das Wesentliche und die bleibende Zulassung von Unterschieden – also die „versöhnte Verschiedenheit“ oder die „Einheit in Vielfalt“ oder die „Ökumene des gegenseitigen Respekts“ – ist das Geheimnis der Gemeinschaft unter den reformatorischen Kirchen, es ist in meinen Augen auch der einzig denkbare Weg zur Überwindung der Kirchentrennung zwischen der römisch-katholischen und den anderen christlichen Kirchen und er ist ein Weg zur Überwindung der nationalstaatlichen Interessensverengungen in Europa. „Weniger ist mehr“, dieser alte Bauhaus-Grundsatz (Mies van der Rohe) gilt m.E. auch für die Weichenstellung für Europa.

3. Straßburg und die Größe der Hoffnung

Die dritte Quelle verbinde ich mit der Stadt Straßburg; denn Straßburg ist nicht allein der Sitz zahlreicher europäischer Einrichtungen, seit Winston Churchill nach dem 2. Weltkrieg den Europarat dorthin berief. Heute sind dort u.a. das Europaparlament und der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte angesiedelt. Deswegen versteht sich Straßburg oftmals als „Hauptstadt Europas“. Allerdings hat Straßburg noch eine ältere Geschichte; ihre Wurzeln in römischer Zeit mögen hier nicht ausschlaggebend sein, wohl aber seine religiöse Bedeutung während der Reformationszeit: Dank früher religiöser Toleranz der Stadt konnten hier sehr bald die Schriften von Martin Luther und anderen Reformatoren veröffentlicht werden. Straßburg war lange der Schmelztiegel reformatorischer Vielfalt, andersorts Verfolgte wie Hans Denck, Kaspar Schwenckfeld oder verschiedene Täufergruppen fanden hier ein Bleiberecht, - nur der Chiliast Melchior Hofmann schaffte es, aus der Stadt verbannt zu werden. Diese Tradition der religiös-konfessionellen Toleranz wird bis heute fortgesetzt, denn Straßburg ist nicht nur der Sitz eines Ökumenischen Instituts, das wesentliche Beiträge zur Förderung und Vertiefung der christlichen Ökumene erarbeitet, sondern auch der Ort der Erarbeitung der „charta oecumenica“, die auf dem ersten ökumenischen Kirchentag in Berlin 2001 feierlich von Vertretern der Europäischen römisch-katholischen Bischofskonferenz und der Konferenz Europäischer Kirchen unterzeichnet wurde und das ökumenisch bedeutsamste Dokument der vergangenen Jahr war. In diesem Text spiegelt sich eine neue Idee, die große Hoffnungen auf die weitere ökumenische Entwicklung freigesetzt hat: Ihre Schwerpunkt hat sie in der Selbstverpflichtung, die die einzelnen Kirchen im Gegenüber zu den anderen eingehen. Hier werden keine Verträge geschlossen, mit denen man sich gegenseitig bindet, sondern hier werden Selbstverpflichtungen eingegangen, die aus dem Geist der Gemeinsamkeit eingehalten werden wollen. Und diese Selbstverpflichtung gründet in dem alle Christen gleichermaßen verpflichtenden Auftrag des Auferstandenen, der laut Johannes-Evangelium für alle seine Jünger betet, „damit sie eins seien“ (Joh 17, 23). Von diesem Auftrag kann sich keine christliche Konfession oder Kirche dispensieren. Ich bin mir bewusst, dass die Einheit der Christen noch ein fernes Ziel ist und dass eine sichtbare Gestalt einer solchen Einheit zwischen römisch-katholischen, orthodoxen und reformatorischen Kirchen noch nicht einmal in Konturen sichtbar ist. Aber dieses Gebet Christi setzt jene Selbstverpflichtungen der charta oecumenica frei, und diese wirken wie ein steter Tropfen, der den Stein der Abgrenzungsbedürfnisse aushöhlt. Plötzlich gilt es zu begründen, warum man einer Überwindung der Trennungen und der zukünftigen Gemeinschaft im Wege steht, nicht, warum man sie anstrebt.

B. Über die Möglichkeiten der evangelischen Kirche

Nach der Erläuterung der Quellen, die mit den drei Orten Taizè, Leuenberg und Straßburg bzw. mit den geistlichen Themen Wahrheit, Demut und Hoffnung verbunden sind, wende ich mich nun dem zweiten Teil der Überlegungen zu, indem ich dem leicht pathetisch formulierten Grundsatz formuliere: Von Taizè, Leuenberg und Straßburg lernen heißt … fragen lernen! Wie hältst Du es mit der Wahrheit Deiner Wunden? Wie hältst Du es mit der Demut deiner Lösungen? Und wie hältst Du es mit der Größe deiner Hoffnungen für Europa?

1. Über den Umgang mit Wunden

Man muss kein besonders kompetenter Europakenner sein, um zu spüren, dass die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der Deutschen über Europa immer dann erinnert werden, wenn Deutschland eine abweichende, kritische oder führende Rolle in einem Europathema einnimmt. Das gebeutelte Griechenland tut sich gerade hervor, Frau Merkel als Nazianhängerin darzustellen, die Engländer haben in ihren Massenprodukten große Erfahrung, deutsche Politiker als Hitlerkopien zu bebildern; auch die Polen können erstaunlich unwirsch auftreten und die Holländer erinnern sich an die Besetzung i.d.R. nach jedem verlorenen Fußballspiel. Wie kommt das eigentlich? Warum wird bei jedem kleinen Interessenkonflikt zwischen Deutschland und den Partnern in Europa gleichsam automatisch diese „Nazi-Assoziation“ freigesetzt? Und warum wird die gegenwärtige fiskalpolitische Haltung der Bundeskanzlerin und ihres Finanzministers doch laut oder leise verzahnt mit nationalsozialistischen Eroberungsstrategien im Dritten Reich. Jeder Psychologe würde von Wunden und Verletzungen sprechen, die immer noch eitern und so einer Weiterentwicklung Europas im Wege stehen.

Und um keinen falsches Selbstmitleid an den Tag zu legen: Gibt es diese unversöhnten Geister aus der Europäischen Vergangenheit nicht auch in den anderen Ländern? Sind Holland und Spanien wirklich schon über den Spanischen Erbfolgekrieg hinweg? Feiern die Oranje bei einem Fußballsieg über Spanien nicht doch den alten Sieg noch einmal? Und sind Polen und Rußland anders, wenn und wie sie das Unglück von Smolensk aufarbeiten? Schlägt Serbien nicht immer noch die Schlacht auf dem Amselfeld aus dem 14. Jahrhundert und wiederholt Frankreich nicht seine Französische Revolution? Ganz zu schweigen von den alten Konflikten an den Grenzen Europa um den Genozid der Türken an den Armeniern. Europa ist von alten Geistern umzingelt, die aus den Wunden der Geschichte aufsteigen und nationalstaatliche Ressentiments gegeneinander perpetuieren. Europa hat viele Geschichten gegenseitiger Verwundungen hinter sich, die immer mitlaufen und mitreden und mit behindern! Und so wenig es reicht, wenn Staatsmänner sich bei den Soldatengräbern in Bitburg die Hand reichen, so wenig wird man dieser Wahrheit der Verletzungen gerecht, wenn man immer nur den Euro retten, die Wettbewerbsfähigkeit erhalten und das Bruttosozialprodukt steigern will.

Zweifellos haben über diese Frage schon viele Menschen nachgedacht, eine der klügsten Erwägungen stammt m.E. von Aleida Assmann. Gemäß dem Grundsatz des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel (März 1990), dass die „Grundvoraussetzung für die wirkliche Freundschaft unserer Völker …. die Wahrheit“ sei, hat Assmann („Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft“) unterschiedliche Modelle für den Umfang mit traumatischer Vergangenheit im europäischen Erinnerungsraum entfaltet. Denn Europa ruht auf einer Geschichte der Gewalt und der Kriege, der Zerstörung und Unterdrückung; 2/3 aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben kummervolle Erfahrungen mit Diktaturen gemacht und das Gegeneinander der europäischen Nationalstaaten ertragen.

Assmann nennt vier Formen des Erinnerns in Europa: Zuerst das Erinnern, um zu vergessen, das direkt nach dem Krieg wichtig war. Denn wer Hass und Rache in Gang halten will, der kultiviere die Erinnerungen an Verletzungen. Daneben gibt es das Erinnern, um niemals zu vergessen, das für den Westen Deutschland spätestens mit der herausragenden Rede des Präsidenten Richard von Weizäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 begann. Von da ab wird aus der Vergessenskultur eine Erinnerungskultur, die gerade im Blick auf den Holocaust und den einzigartigen Vernichtungswillen der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk zu einem Erinnern führte, das niemals ins Vergessen überführt werden sollte. Und auch wenn einen bei der gegenwärtigen Beschneidungsdebatte mitunter das Gefühl beschleicht, es sei doch ein unverantwortliches Vergessen eingetreten, scheint sich das Wissen um die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk doch noch durchzusetzen. Daneben aber gibt es laut Aleida Assmann eine dritte Form des Erinnerns, das Erinnern, um zu heilen. Der Grundsatz der Freudschen Analyse mit ihrem Modell Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten klingt an. Die Vorstellung ist, dass durch die nacherlebte Erinnerung an früheres Leid die Möglichkeit erwächst, die alte Geschichte loszulassen und frei von ihr zu werden. Dieses Modell funktioniert besonders in den etwa 40 Wahrheitskommissionen, die genau auf dieser Grundlage die Wahrheit von Gräueltaten, Verletzungen und Diktaturen an den Tag bringen und durch symbolische Akte wie öffentliche Schuldbekenntnisse einem geheilten Vergessen anheim geben. Im Grunde geht es hier um eine Art „säkulares Erlösungshandeln“, durch die das erinnerte Leid in ein Licht der Güte gestellt und dadurch losgelassen werden kann, allerdings ohne die Quelle einer solchen Güte und Barmherzigkeit noch benennen zu können. Und weil es im Erinnerungsraum Europa keine gemeinsame Haltung zur Öffentlichkeit der (christlichen) Religionen gibt, werden die Erinnerungsdiskurse i.d.R. national geführt; sie sind naturgemäß monologisch organisiert und verbinden sich mit typischen Rollen, sei es die des Siegers, die des Widerstandskämpfers und die des Opfers. So gerät Europa laut Assmann schnell in die wenig weiterführende Situation, die Opfer der einen Seite gegen die Opfer der anderen Seite aufzurechnen. Erst seit Ende der 90er Jahre entsteht ein Prozess der Verschränkung dieser verschiedenen Perspektiven, sodass in einem Volk bzw. Land alle drei Rollentypen benannt werden können. Deutschland wird im Blick auf die nationalsozialistischen Verbrechen immer eine einzigartige Verantwortung haben, es gibt hier nichts zu relativieren. Aber Aleida Assmann plädiert für ein dialogisches Erinnern, für den „Umbau von monologischen in dialogische Gedächtniskonstruktionen“. Denn die „Europäische Integration (kann) nicht wirklich fortschreiten, solange sich die monologischen Gedächtniskonstruktionen weiter verfestigen“ (A. Assmann). Man kann es auch etwas zugespitzter sagen: Wir können noch so viel Geld bereitstellen und noch so viele Schirme aufstellen, wenn wir die Geschichte der Wunden nicht wahrhaftig und aufrichtig zu einer gemeinsamen Geschichte der Erinnerung umgestalten, wird die Seele Europas nicht wachsen können. Ähnlich wie in Taizè muss Raum sein für die Erinnerung an die alten Wunden und Verletzungen, sonst vergessen wir den einzigartigen Wert, den ein gemeinsames Europa darstellt: Einen Friedensraum seit Jahrzehnten, der vor dem Hintergrund der Geschichte Europas nur als sensationell bezeichnet werden kann. Aber kann man diesen Gedanken verstärken?

Zur Europäischen Union gehört viel Verwaltung, viele Sprachen, viele verschiedene Orte, unzählige Gesetze und Verabredungen, aber noch kein wirklich gelebter, gemeinsamer freier Feiertag. Die Menschen in Europa haben nicht die Möglichkeit, einmal im Jahr innezuhalten, sich über einen freien Tag zu freuen, an dem in ganz unterschiedlicher Weise Europa als eine endlich friedliche und zivilisierte Region der Welt gefeiert wird. Betrachte ich die Geschichte des 3. Oktobers nach 1990 in Deutschland, dann weiß ich wohl, dass die Etablierung eines Feiertages ein langer Weg ist und dass es erhebliche Aufklärungs- und Kommunikationsaufgaben sind, um einen gemeinsamen Feiertag auch inhaltlich so zu entfalten, dass er nicht nur als Freizeit, sondern als Befreiung wahrgenommen wird. Dennoch empfinde ich dies als eine ehrenvolle und würdige Aufgabe. Die Etablierung eines europäischen Feiertages! Die Frage ist dann nur: Welcher Tag wäre geeignet für einen europäischen Feiertag? Der 9. Mai kommt mir etwas abstrakt und ausgedacht vor, er symbolisiert zu wenig die Wurzeln der Geschichte Europas; der 1. August hat tiefe Wurzeln, weil am 1. August 1914 die „Urkatastrophe Europas“ mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges verbunden ist; aber einen Kriegsbeginn kann man nicht feiern. Das gilt doch auch für den 1. September, obwohl er als Antikriegstag ausgewiesen ist. Aber kann es der 1. Mai sein, um die europäische Arbeiterbewegung zu würdigen? Kann es ein christlicher Feiertag sein, z.B. Pfingsten wegen der Aufhebung der Sprachverwirrung? Wohl kaum, wenn schon kein Gottesbezug in der Verfassung akzeptiert wird. Welcher Tag im Jahr ist angemessen, vielleicht haben Sie eine Idee.

2. Über die Demut der Werte

Die zweite Weichenstellung aus dem Geist reformatorischer Lerngeschichte in Europa benenne ich mit dem Stichwort „Demut der Wertedebatte“. Im Blick auf dieses Themenfeld kann man eigentlich nur Fehler machen, weil es zum Mainstream gegenwärtiger Grundüberzeugungen zu gehören scheint, dass es um eine Stärkung der europäischen Wertegemeinschaft geht. Schaut man genauer hin, sind es in der Regel aber die jeweils eigenen Werte, deren Stärkung Europa voranbringen soll. Leider aber sind die Werte immer sehr unterschiedlich. Wenn man sich aber den Vertrag über die Europäische Union vom 1. Dezember 2009 anschaut und eine erste Orientierung zu gewinnen versucht über die Werte, die die Gemeinsamkeit der Europäischen Union tatsächlich stärken sollen, dann verliert man sich relativ schnell in einer Unzahl von Bestimmungen, Verweisen und Erläuterungen. Es entsteht ein doppelter Eindruck: Einmal gibt es eine unüberschaubare Vielzahl von Bestimmungen und zum anderen sind sie alle schrecklich richtig. Nicht ein einziger Wert ist zu kritisieren, aber alle zusammen legen eine Werteverdichtung an den Tag, die erschlägt. Es kommt einem ein weiser Satz des Theologen Nathan Söderblom in leichter Abwandlung in den Sinn: „Die Werte trennen, der Dienst eint!“

Meines Erachtens können wir gerade an dieser Stelle die Einsichten der Leuenberger Konkordie für eine „Weichenstellung für Europa“ anbieten. Denn nicht die Fülle der gemeinsamen Werte führt zusammen, sondern die Konzentration auf wesentliche Werte. In der Leuenberger Konkordie heißt es, es sei genug zu wissen (satis est), dass Christus im Abendmahl gegenwärtig handelt. Übertragen auf Europa lautet in einer gewissen jesuanischen Schlichtheit: „Was muss ich tun, um ein guter Europäer zu sein? Was ist genug (satis est), um gute Weichen für Europa zu fördern? Muss man alle Einzelbestimmungen der Werte leben? Kann es Dispens für einige besonders schwer einzuhaltende Bestimmungen geben? Oder gibt es Kernsätze, gibt es substantiell unverzichtbare Bestimmungen, die sich von manchen wünschenswerten Bestimmungen unterscheiden? Von Leuenberg zu lernen heißt hier, die Wertedebatte gleichsam in entgegengesetzter Richtung zum Mainstream zu führen: Nicht den hohen Wertekonsens einfordern, sondern eine Konzentration auf wesentliche Werte befördern. Denn sonst führt die sog. Wertedebatte nicht aus den Dilemmata Europas heraus, sonst spiegelt nur die Strittigkeiten der Politik.

Auch hier bin ich bei Weitem nicht der erste, der sich diesen Fragen stellt; eine der klügsten und aktuellsten Überlegungen will ich kurz vorstellen: Der Soziologe Hans Joas hat jüngst ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Die Sakralität der Person“. Es ist eine Art Genealogie des europäischen Zentralwertes Menschenwürde. Joas verfolgt die Absicht, die unterschiedlichen Quellen für die heute gültigen Vorstellungen von Menschenrechten und Menschenwürde mit dem Oberbegriff „Sakralität der Person“ zu charakterisieren und diesen für das Zentrum der Wertedebatte zu deklarieren. Der Vorteil dieser These besteht darin, dass diese Sakralität weder auf die eine noch auf die andere geistige Quelle zurückgeführt und also auch nicht mit historischen Besitzansprüchen verknüpft werden kann. Die unterschiedlichen Herleitungen, die zu dieser einzigartigen Würdigung der Person geführt haben, sind alle gleichermaßen legitim. Denn wenn die Menschenwürde und die Menschenrechte weder als direkte Ableitung aus dem jüdisch-christlichen Traditionszusammenhang zu konstruieren sind noch der Triumpf der Aufklärung über eine im Mittelalter steckengebliebene Religion ist, sondern in beiden Traditionen beheimatet ist und also auch anschlussfähig ist für die je andere Tradition, dann ist dieser zentrale Wert der Menschenwürde kulturell zentral und wesentlich. Alle Traditionsstränge speisen den Grundwert „Sakralisierung der Person“, auf denen die europäischen bzw. universalistischen Menschenwürde- und Menschenrechtsdefinitionen basieren.

In meinen Augen ist das eine Art Säkularisierungsprozess im besten Sinne des Wortes: Nach dem Verlust eines gemeinsamen Himmels über Europa und dem Ende der monopolartigen Dominanz christlicher Werte etabliert sich eine Art „säkularer Heiligkeit“ für den einzelnen Menschen und spricht diesem jene Würde und Unantastbarkeit zu, die zuvor dem Menschen zuzusprechen allein Gott vorbehalten war. So aber gehört dieser zentrale Wert allen, es kann von keiner Seite ein exklusiver Besitzanspruch im Blick auf seine Herleitung und dann eben auch seiner Füllung beansprucht werden, er dient allen europäischen Traditionen als Basiswert für die Gemeinsamkeit. Damit deutet sich eine Möglichkeit an, diesen aus der reformatorischen Tradition heraus gefundenen Weg der Konzentration auf das Wesentliche auch für die europäische Wertediskussion zu entfalten.

In Parallelität zur Leuenberger Konkordie könnte man formulieren: Um Mitglied der Europäischen Union zu sein, ist es genug (satis est), die Menschenwürde als zentralen Wert zu achten. Dieser individualethische Grundsatz ist unverhandelbar und unveräußerlich und hat natürlich auch manche Weiterungen im Rechtssystem, im Bildungsbereich, in der Generationengerechtigkeit und Solidarität u.a.m. Aber es lässt auch Freiräume zu und die Möglichkeit, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unterschiedlich zu gestalten: Niemand muss den Euro haben oder halten, um ein guter Europäer zu sein oder zu bleiben; das zeigen allein schon die 15 Länder Europas, die den Euro nicht haben. Und niemand muss die Energiewende für unerlässlich halten und Atomkraftwerke verbannen, um zu Europa zu gehören. Niemand muss seine Volkswirtschaft allein auf ökonomische Fragen ausrichten, um Mitglied zu bleiben. Eine „Weichenstellung für Europa“ lautet hier: „Weniger Europa ist mehr Europa!“ Denn Europa braucht Raum für unterschiedliche Wahrheiten, ohne dass das Projekt Europa insgesamt in Frage gestellt wird. Den unveräußerlichen Wert der Menschenwürde kann der reiche Norden eher dadurch stärken, dass er die ökologischen Belastungen abzubauen vermag, während die ärmeren Länder im Süden diesen Wert eher durch eine Begrenzung der Sozialstaatskrise schützen können. Die südosteuropäischen Länder werden die Menschenwürde gegenwärtig am ehestens dadurch etablieren können, dass sie Zeit und Hilfe bekommen, um die prekären Lebensverhältnisse zu überwinden. Und die nordosteuropäischen Länder wie Polen oder Lettland dürfen den Euro so schnell als möglich haben wollen, und sei es, weil er Symbol der 1989 gewonnen Freiheit ist.

Als Laie hat man ja manchmal den Eindruck, dass die Finanzmärkte deswegen den Euro so vor sich hertreiben können, weil sich die Schwerpunktsetzungen der Euro-Länder gegeneinander ausspielen lassen. Die sehr unterschiedlichen Leitziele der Euro-Länder unter einen Schirm zu zwingen, heißt ja faktisch, die Fiskal- und Haushaltsdisziplin des Nordens allen aufzuerlegen. Wenn aber der Euro als Raum dieser Disziplin definiert werden soll, was durchaus Sinn macht, dann muss man entweder die Schulden solidarisch mittragen, um diese Disziplin zu ermöglichen, oder das Ausscheiden billigend in Kauf nehmen, - beides dürfte etwa annähernd gleich teuer werden. Nur sollte man mit keinem der beiden Wege das Ende des Projekts Europa verbinden; dies ist erst zu Ende, wenn der zentrale Wert der Menschenwürde als gemeinsames Band aufgegeben und die Verschiedenheiten der Etablierung dieses Wertes nicht mehr zugelassen wird.

C. Die Frage der Hoffnung

Der dritte Punkt, aus der eigenen Tradition heraus die „Weichenstellung für Europa“ zu befördern, ist der der Hoffnung. Hoffnung steht hier für ein positives Zielfoto, ein emotional gewinnendes, auch intellektuell begeisterndes Zukunftsbild, dass Einspruch erhebt gegen die heute weitverbreitete Vorstellung, Zukunft könne nicht mehr fortschrittsoptimistisch als Möglichkeitsraum betrachtet werden, sondern müsse eher als Aufschub drohender Katastrophen verstanden werden. Das real existierende Europa hat ein gewaltiges Imageproblem; es gilt jedenfalls bei sehr vielen Bürgern Europas, die schon vor der Friedlichen Revolution 1989 Mitglieder der Europäischen Union waren, wie eine mittelgroße Landschildkröte: außen schwerfällig, innen langsam, dick gepanzert und schnell bereit, den Kopf einzuziehen. Europa gilt als eine Art „Bürokratie-Babel“, ein hochbezahltes Karussell, das ungezählte Texte in verblüffend viele Sprachen übersetzt, das aber in entscheidenden Momenten zu kaum einer gemeinsamen Politik fähig ist. Dieses Bild, das in der Sache wohl schon seit einigen Jahren gar nicht mehr zutrifft, ist besonders mit dem „Monster Brüssel“ verbunden. Dass in Straßburg ein Parlament wirkt, das europaweit alle fünf Jahre (allerdings mit geringer Wahlbeteiligung) gewählt wird, fällt eigentlich erst dann auf, wenn einzelne deutsche Parlamentarier ihren Doktortitel zurückgeben müssen oder Deutsche zum Präsidenten des Parlaments werden.

Diesen Image-Mangel kann man nur mit einer neuen Perspektive korrigieren, sonst haben die jeweils nationalen Krämerseelen unserer Tage leichtes Spiel, sie können herzhaft polemisieren gegen den Istzustand Europa. Unbestrittener Meister in Deutschland ist wohl Peter Gauweiler, der entgegen erwiesener Sachverhalte weiterhin behauptet, dass die deutschen Länder als „Verlierer der Europäischen Union gelten müssen“. Denn nach seiner Überzeugung sei die Europäische Union weder ein linkes noch ein rechtes Projekt sondern die Bündelung der „historisch belegbaren Nachteile beider Richtungen“ (FAZ, 2. August 2012, Seite 29).

Aber welche Perspektiven hat Europa? Während nach 1989 das Anwachsen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union faktisch die Füllung des Begriffs Europa war, ist ein positives Bild dessen, was entstehen kann und wohin die Reise gehen soll, bisher weitgehend von national-wirtschaftlichen Interessen bestimmt: Freier Handel, freier Warenverkehr, freier Arbeitsmarkt usw., das steht im Zentrum. Für die erste Generation der Europäer nach dem 2. Weltkrieg war allein die Tatsache, dass Europa nach Jahrhunderten der Kriege endlich Frieden findet, ausreichend plausibel für das hoffnungsvolle Projekt Europa. Aber die heutige Generation hat 60 Jahre Frieden hinter sich, heute kann man kaum das „Projekt Europa“ begründen mit dem Hinweis auf abwesende Kriege. Darum geht es heute um eine neue Perspektive, eine neue Hoffnung für Europa, die jungen Menschen nicht nur eine fiskal-berufliche, sondern auch eine kraftvolle und sinnstiftende Perspektive gibt.

Aber an solchen kulturellen Grundhoffnungen fehlt es, es fehlt (so Nils Minkmar in der FAS vom 12. August 2012, S. 21) an „kultureller Energie für Europa“. Weil niemand weiß, wo Europa eigentlich hin will und wie - wenn ich diesen belasteten Ausdruck trotzdem nochmal nennen darf – die „blühenden Landschaften Europas“ später aussehen werden, hat auch niemand Lust, diese Perspektivlosigkeit zu finanzieren. Denn natürlich hat niemand Lust, die Schulden anderer Leute zu übernehmen; dies aber erst recht nicht, wenn diese Schuldenübernahme perspektivlos ist. Man kann durchaus den Vergleich mit der Wiedervereinigung ziehen: Natürlich hat es viel damals und gibt es heute noch Protest gegen die Solidaritätssteuer, aber die Vision einer solchen Schuldenübernahme war nie strittig: Wir sind ein Volk! Findet sich etwas Vergleichbares für Europa? Richtig ist, Europa wird es für niemanden umsonst geben. Aber richtig ist eben auch, dass man allein mit einer gemeinsamen europäischen Haushalts- und Wirtschaftspolitik quasi den Versuch macht, eine Wohngemeinschaft alleine über das Haushaltsgeld zu definieren. Meine Erfahrung als Student sagt mir: Diese Form des Zusammenlebens bewährt sich auf Dauer nicht!

Trauen wir uns also zu, die „Weichenstellung für Europa“ mit einer Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ abzuschließen, ein Europa der Freiheit, des Friedens und der Solidarität, das sich auf die Vielfalt der verschiedenen Wege und Tempi einlässt, dass die Einhaltung der unerlässlich zu achtenden Menschenwürde einfordert, die aber auch Lust macht auf eine große Zukunft Europas. Jutta Limbach hat jüngst zu Recht betont, dass Europa eine „neues, überzeugendes Narrativ der europäischen Integration“ brauche (FAZ vom 27. August 2012, S. 28), aber sieht keine Chance für einen entsprechende Erzählung, da Europa ein „Projekt der Eliten“ sei und der Bürgersinn nicht bereit sei für die Vereinigten Staaten von Europa! Mein Eindruck ist aber eher umgekehrt, dass die Eliten nicht bereit sind, die Bürger schon eher, -wenn es denn eine kraftvolle Hoffnung gäbe.

Wir Christen – und hier meine ich wirklich alle jenseits von Konfessionsgrenzen - sollten diese Hoffnung auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ immer wieder einsprechen und auf allen europäischen Ebenen in Erinnerung rufen, denn aus unserer eigenen ökumenischen Geschichte wissen wir um die Langzeitwirkung von großen Ideen, die sich keineswegs sofort und gleich umsetzen lassen. Und wir sollten die Bilder dieser Zukunft lockend und verheißungsvoll zeichnen, also ein Europa der Freiheit und Solidarität, der Gerechtigkeit und Fairness, und der Chance einer/eines jeder/n, mit seiner Muttersprache und einem passablen Englisch ganz Europa als Lebensraum zu betreten.

Und ich glaube wohl, eine Heilung Europas in der heutigen Krise wird nur möglich, wenn diese Vision von den Vereinigten Staaten von Europa kraftvoll vertreten wird. Wir sollten darum als Kirchen Bündnispartner für diese Hoffnung und Vision suchen, und sei es auf den Spuren des unüberbietbaren Martin Walsers, der jüngst gezeigt hat, dass selbst so vermeintlich urdeutsche Romantiker wie Hölderlin seine Texte an den Väter aus Griechenland orientierte und auf diese Weise „dieses Ausland zu seinem Inland“ machte.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.