Predigt zur Eröffnung der Gebetswoche für die Einheit der Christen, Braunschweiger Dom

Friedrich Weber, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig

Es gilt das gesprochene Wort.

Text: Micha 6,6‐8

6 „Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern?

7 Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?“

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“, oder er hat doch mitgeteilt, was gut ist und was Gott beim Menschen sucht: „Nichts anderes als Recht üben, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit seinem Gott.“

Liebe Schwestern und Brüder,

womit soll ich mich Gott nahen? Das ist die Generalfrage dieses Textabschnitts. Da schwingt die Angst vor der Begegnung mit. Nichts anderes als Angst vor der Wiederbegegnung trieb Jakob dazu, seinen betrogenen Bruder Esau mit Geschenken zu besänftigen.

Woran wird Gott Gefallen haben: An Ganzopfern, die verbrannt, gänzlich zum Himmel aufsteigen, oder besser noch am zarten einjährige Kalb, einer Kostbarkeit? Die qualitative Steigerung der Gaben ist erkennbar, die sich in ihr offenbarende Unsicherheit ebenfalls. Und dann die ungeheure quantitative Steigerung: wären tausende Widder, Bäche von Öl und dann zuletzt in Überbietung allen bisher Gesagten: die Opferung des Erstgeborenen angemessen?

So nicht, so nicht mit diesem Gott, der sein Volk in die Freiheit geführt hat, der sich mit seinem Volk verbunden hat. Und so bleibt wohl keine andere Erklärung für diese qualitative und quantitative Steigerung als die, dass der Fragesteller die Möglichkeiten, sich mit den Mitteln des Kultes mit Gott zu versöhnen, für erledigt erklärt. So nicht mit diesem Gott.

Aber wie dann? Die Antwort: Gott hat mitgeteilt, was gut ist und was er beim Menschen sucht: „Nichts anderes als Recht üben, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit seinem Gott.“ So lautet die direkte Übersetzung. Bei ihr will ich heute bleiben, wenngleich auch ich die wunderbare Paraphrase Luthers im Ohr und im Herzen habe.

Hans Walther Wolff hat in seinem Kommentar zur Stelle vor gut 30 Jahren trefflich darauf verwiesen, dass öffentliche Gerechtigkeit und private Menschlichkeit zusammenbleiben. „Recht üben – das ist die alltägliche, sachliche Lebensaufgabe, die der Übervorteilung, der Habsucht, dem Betrug und allem anderen wehrt, das Lebensgemeinschaft erschwert und zerstört. Aber das Tun des Rechts soll sich im Leben der Freundlichkeit vollziehen. Das Recht üben bedeutet nichts anderes als die Rechtsordnung zu kennen und sie zu praktizieren, den Witwen und Waisen, dem Fremden ist recht zu schaffen, Aber dieses Recht schaffen soll eben kein formales, kaltes Geschehen sein, sondern mit von Herzen kommender Liebe verbunden sein. Und dann kommt hinzu, das alles umfassend: „Mit seinem Gott soll er gehen und den Weg des Guten finden. In der Nachfolge also werden Recht und Liebe neue Wirklichkeiten“. (Wolff, BK Micha, Neukirchen‐Vluyn 1982, 155)

Soziales Verhalten und Frömmigkeit gehören zusammen, denn Nähe zu Gott kann nur durch das Teilen des Rechts mit den Rechtlosen gewonnen werden. Menschen, denen man das Recht vorenthält, denen man keine Würde zubilligt, solche Menschen sind „dalit“, sie sind zerbrochen. Die Dalits, die indischen Christenmenschen, denen wir die Liturgie für diesen Gottesdienst verdanken, sind "Zerbrochene".

Unsere braunschweigische Partnerkirche, die Tamil Evangelical Lutheran Church, ist ‐wie die meisten Kirchen Indiens ‐ eine sogenannte Dalit‐Kirche. Wie leben Christen, wie lebt eine Kirche, die daran festhält, dass nicht länger Jude oder Grieche ist, Sklave noch Freier, Mann noch Frau, sondern dass alle in Christus eins seien (Gal 3,28), wie lebt und gestaltet sie dieses Situation?

Eine Konkretion. Die Chefsekretärin der Grundschule an der Kodaikanal International School ist eine ehemalige Schülerin und Bewohnerin des TELC Kinderheims in Porayar, wo wir auch über die Stiftung Ökumenisches Lernen in den letzten Jahren immer wieder Freiwillige aus unserer Landeskirche hatten. Die Sekretärin war als Waise unter extrem prekären Verhältnissen von ihrem Onkel Ende der 60er, Anfang der 70er‐Jahre in das Kinderheim der TELC gegeben worden, wo sie neben Unterkunft und Ernährung auch eine schulische Ausbildung erhielt. Sie war begabt und strebsam und hat auch eine weiterführende Schule besucht. Anfang der 90er Jahre wurde sie Hilfsschreibkraft in jener Schule. Bedingt durch ihre Schulanstellung konnte ihre eigene Tochter Schulen besuchen und in Indien Medizin studieren. Sie arbeitet heute als Ärztin im Krankenhaus von Vellore. Eine Geschichte des gesellschaftlichen Aufstiegs, des persönlichen Ehrgeizes, aber auch des Segen Gottes. Ihre Geschichte ist aber keineswegs einzigartig, sondern steht exemplarisch für viele, die aus Dalitfamilien kommend über Bildungsmöglichkeiten in christlichen Einrichtungen nun die wirtschaftliche Mitte Indiens stellen und an dem rasanten Wandel Indiens vom Entwicklungsland zur Industrienation beteiligt sind. Hier wird Recht geübt, Freundlichkeit geliebt und Menschen gehen aufmerksam mit ihrem Gott.

Von einem anderen heißt es, er sei der lutherischen Kirche dankbar, dass sie das Evangelium in sein Dorf gebracht und Dalits zu stolzen Menschen gemacht habe, die nun zur Ordnung der Schöpfung gehören, ebenfalls Ebenbilder Gottes sind. Und niemand sage mehr: „Du kannst nichts tun, um dein Leben zu ändern, weil Du zu diesem Leben geboren bist.”

Das Evangelium von Jesus Christus befreit, weil in seinem Gefolge vom Recht Gottes die Rede ist, dass keinen Unterschied zwischen seinen Geschöpfen aufzurichten erlaubt. Dieses Recht ist von Freundlichkeit bestimmt. Die wiederum sieht den Einzelnen in seiner Not, aber auch die systematische Benachteiligung und will sie abwenden. Dabei soll die Freundlichkeit mit den Mühseligen und Beladenen, den Geknickten und Verglimmenden nicht etwas Besonderes, sondern das sicher Erwartbare sein.

Liebe und Freundlichkeit sollen fest in der Rechtspraxis stehen, denn sonst verdient die Gerechtigkeit, die in einem Land, einer Stadt, auch in der Kirche oder einer diakonischen Einrichtung gilt, nicht den Namen Gerechtigkeit. Für uns Christen heißt das nichts anderes, als im aufmerksamen Mitgehen mit unserem Gott, in der Nachfolge also, uns darum zu bemühen, daß Recht und Liebe zusammenbleiben. Es sind schon genug Menschen des „Rechts der Stärkeren“ wegen zerbrochen, verglommen, ausgelöscht und zertreten worden.

Und noch eins: Die in den letzten Wochen aus Indien bekanntgewordene systematische Geringschätzung und Mißachtung von Mädchen, die alltägliche sexuelle Gewalt gegen Frauen entsetzt uns. Aber das ist kein Einzelfall: „Wir sind uns bewusst, dass Frauen auf der ganzen Welt aufgrund der asymmetrischen und repressiven Beziehungen zwischen Männern und Frauen Opfer von Gewalt und Übergriffen werden. Leider herrscht bei Fällen von Gewalt und Belästigung häufig ein Klima der Straffreiheit: Viele Vergehen werden nicht angezeigt und selbst wenn Fälle gemeldet werden, werden die Täter nur selten vor Gericht gestellt. Der konkrete Fall dieser jungen Frau zeigt erneut, dass in ungerechten Geschlechterverhältnissen eine implizite Gewalt verankert ist, die sich immer wieder Bahn bricht und in Gewalttätigkeiten Ausdruck findet. Diese Erfahrung machen Frauen weltweit und manchmal müssen sie dafür mit ihrem Leben bezahlen.“ (LWB‐Brief vom 14.1.2013)

Unsere Partnerkirche hat eigens ein Referat eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, Menschen zu sensibilisieren und Männer und Frau dabei zu unterstützen, von Gewalt geprägte Beziehungen zu überwinden. Aber entscheidend ist es, aus der Bekundung des Entsetzens und Abscheus herauszufinden und sich noch stärker für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen. Das indische Beispiel hat gezeigt, „Das Erreichen von Geschlechtergerechtigkeit ist eine Frage von Leben und Tod.“ (Martin Junge) Auch in unserem Land haben wir lange gebraucht – und sind mit der Arbeit daran auch heute noch nicht am Ende –, Frauen die gleichen Rechte in unserer Gesellschaft und Kirche zuzubilligen.

Darum müssen wir uns daran erinnern lassen, dass die uns von Christus geschenkte Freiheit Auswirkungen in das politische, soziale, das öffentliche Leben hat. Nicht umsonst wurde 1934 in der 2. These von Barmen formuliert:

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu Eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht derRechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen.“

Die Suche nach Recht, die Freundlichkeit und das aufmerksame Mitgehen mit unserem Gott geschieht in ökumenischer Gemeinschaft, es geschieht so, dass die leidenden Geschwister nicht vergessen werden, dass wir für sie bitten und beten, auf ihr Elend verweisen und gegen es ankämpfen.

So segne uns Gott in unserem die Grenzen unserer Konfession übersteigenden Dienst und ermutige uns zum aufmerksamen Mitgehen mit ihm, der Mensch wurde um bei denen zu sein, denen um Trost bange war und ist.

Amen