Die Rolle der Religionen in Europa

Dr. Irmgard Schwaetzer

Es gilt das gesprochene Wort!

"Früher sprach man von christlichen Werten. Dann begann man, von jüdisch-christlichen Werten zu sprechen und heute sind es Werte der abrahamitischen Religionen. Das ist eigentlich ein Fortschritt." Mit diesen  Worten hat Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg von der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien vor nicht allzu langer Zeit (2012) in Worte gefasst, welchen Weg der gemeinsame Austausch zur Rolle der Religionen in Europa  und ihrem Beitrag hinter sich hat. Gemeinsam waren sich Vertreter des Christentums, des Judentums und des Islam in Wien einig, dass die gegenseitige Toleranz der Religionen trotz ihres jeweiligen Wahrheitsanspruchs ein junger, aber unverzichtbarer Beitrag für Europa sei. Religion aber sei nur denkbar als eine, die durch die Aufklärung gegangen sei. Menschenrechte seien dabei die Basis des Zusammenlebens. An diesen Gedanken möchte ich heute Abend mit Ihnen anknüpfen.

Religionsfreiheit als Menschenrecht

Das Grundpostulat  der Menschenrechte ist „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Würde, die sich für religiöse Menschen aus der Gottesebenbildlichkeit ableitet und deren Achtung die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben von Menschen bedeutet. Die Freiheit der Religionsausübung – dazu gehört selbstverständlich die Einhaltung religiöser Gebote wie die Beschneidung im Judentum - ist konsequenterweise unverzichtbarer Teil der Menschenrechte. Auch der gegenseitige Respekt vor unterschiedlichen Traditionen dient der Verständigung über das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Dabei werden Konfliktfelder zwischen Religionen, religiösen Traditionen und Menschenrechten wie z.B. der Kopftuchstreit, der Kruzifixstreit oder die Diskussion um das Gebet an öffentlichen Schulen nach nationalem und europäischem Recht geklärt werden müssen.

Dabei ist Religionsfreiheit nicht nur als ein positives Recht zu verstehen: also das Recht ein glaubensgemäßes Leben zu führen, sondern auch als ein negatives: das Recht, keiner Religion anzugehören. Das Recht auf negative Religionsfreiheit, das Wachsen des Anteils der Agnostiker und Atheisten in den modernen Gesellschaften Europas, spielt nach den Umbrüchen der 90er Jahre und der Erweiterung der Europäischen Union auf 27 Staaten eine stärkere Rolle. Aber dazu später.

Kirchen und Glaubensgemeinschaften im europäischen Recht

Im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009  gibt es einen Kirchenartikel. Darin heißt es: ( Artikel 17 Absatz 3 AEUV) :„Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“

Die Europäische Union hat sich zudem in Art. 17 Absatz 1 verpflichtet, den Status derjenigen Kirchen, religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften, den sie in den Mitgliedsstaaten nach seinen jeweiligen Rechtsvorschriften genießen, nicht zu beeinträchtigen, dies gilt in übertragener Weise auch für weltanschauliche Gemeinschaften. 

Der Absatz 3 nimmt die Bedeutung der Religionsgemeinschaften für die europäische Gesellschaft und Wertegemeinschaft wahr und verarbeitet sie positiv. Lange wurde der Europäischen Gemeinschaft eine gewisse „Religionsblindheit“ vorgeworfen, spätestens mit dieser Vorschrift ist ein neuer Ansatz markiert. Der Kirchenartikel im Lissabonner Vertrag unterstreicht auch die Abkehr von einer im Wesentlichen auf wirtschaftliche Fragen ausgerichteten Union mit ihrer sog. „Binnenmarktlogik“ hin zu einer Europäischen Union, die auch durch den Austausch mit Kirchen und Religionsgemeinschaften und deren besonderem Beitrag dem Gemeinwohl dienen und Zusammenhalt stiften will.

Der Passus hilft dabei die  Rolle der Religionen in Europa zu erfassen.  Die EU hat die Bedeutung der Religionen als Dialogpartner für die Politik erkannt. Denn diese leisten als gesellschaftliche Kräfte wichtige Beiträge, um Europa eine Seele zu geben, wie Kommissionspräsident Jaques Delors einst gefordert hat. Der „regelmäßige, offene und transparente“ Dialog zwischen Religionsgemeinschaften und der EU markiert aber auch den Wandel von der Wirtschafts- zu einer Werteunion. Schließlich schaffen die Religionsgemeinschaften die Voraussetzungen , die das europäische säkular ausgerichtete Staatswesen selbst nicht garantieren kann, um das berühmte Böckenförde-Diktum ein wenig abzuwandeln.

Herausfordernd ist und bleibt, dass die Gründerväter Europa nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden haben, sondern auch als Wertegemeinschaft, als christliche Wertegemeinschaft. So fehlt in der Präambel des bereits erwähnten Vertrags von Lissabon zwar bedauerlicherweise ein Hinweis auf das christliche Erbe, im Vertrag selbst - und auf den kommt es an- werden aber wichtige Inhalte der christlichen Soziallehre aufgegriffen. Dies darf nicht vergessen werden, und unzweifelhaft ist es eine Rolle der Religionen in Europa, auf die Wurzeln unseres Erbes hinzuweisen und seine Geschichte zu erzählen. Ein freier Sonntag ist gewiss schön und für jeden ein Kulturgut, aber wer erinnert daran, dass es ein Gebot Gottes ist, am siebenten Tage auszuruhen? Diese Wurzeln freizulegen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, das ist unsere Aufgabe, das ist Teil der Rolle der Religionen in Europa.

Rolle der Kirchen in der europäischen Union: ein menschenfreundliches Gesicht

Um die Rolle, die Religionen in Europa spielten, spielen und zukünftig spielen können, aus evangelischer Sicht genauer zu beschrieben, möchte ich  zurückkehren zum Vormittag des 12. Oktober 2012 der Verleihung des Friedensnobelpreises. Diese Ehrung ist von großer symbolischer Bedeutung, würdigt sie doch die zentrale geschichtliche Bedeutung der EU als Friedensprojekt. Und zwar zu einem Zeitpunkt, in der es täglich um die Lösung der Schulden- und Finanzmarktkrise in der EU ging und darum, ob unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der europäische Gedanke zukünftig überhaupt noch sinnvoll erscheint.  Längst überwunden geglaubte Ressentiments begleiteten die Verschlechterung der Lebensumstände weiter Bevölkerungsteile durch nationale Sparanstrengungen, eine vertiefte Kluft zwischen Arm und Reich  Gewannen nationalistisch gesinnte Kräfte in der Wirtschaftskrise an Boden, der Gedanke der Solidarität geriet in den Hintergrund.

Diese Krise hat gezeigt, dass die Funktionsweise der EU dringend verbesserungsbedürftig ist. 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben in der EU, in Frieden, in Freiheit, und die meisten, trotz der Krise in relativem Wohlstand. Für diese halbe Milliarde Menschen ein funktionierendes Gemeinwesen zu gestalten, das demokratisch ist, ist eine gewaltige Aufgabe. Sie kann nicht allein von den Institutionen, gewissermaßen Top-Down, geleistet werden, sondern die notwendige politische Debatte muss im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern offen und  transparent und regelmäßig geführt werden. Dazu müssen die bestehenden vertraglichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen durch das Europäische Parlament zu stärken. 

In diesen Dialog auf europäischer Ebene sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften inzwischen institutionell einbezogen. Gerade angesichts der sozialen Ungleichgewichte innerhalb und zwischen den Staaten, die durch die Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre verschärft worden sind, müssen wir uns einmischen. Den Schwachen eine Stimme zu geben (Kindern, Arbeitslosen, Flüchtlingen) ist wie überall Aufgabe der Kirchen. Auch in der Gestaltung der europäischen Politik braucht es die Erinnerung an die Maßstäbe, die wir aus unserem Glauben ziehen.

Die Krise hat auch gezeigt, wie rasch die Vision, die die Gründer Europas hatten, in Vergessenheit geraten kann: eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig stärkt, in einem Wirtschaftsraum, vor allem aber in einem Raum der Solidarität.
Sie haben es gemerkt: offen, transparent, regelmäßig – so wird der Prozess beschrieben, der, wenn er gelingt, die Europäische Union in eine gute Zukunft führt. Mit diesen drei Worten wird aber, wie anfangs erwähnt, auch die Rolle der Religionen in Europa beschrieben, und für Europa. Sie sind Dialogpartner mit den Institutionen in der EU und mit den Bürgerinnen und Bürgern, sie bilden gleichsam ein Forum, eine Agora, auf der offen, transparent und regelmäßig kommuniziert wird für ein menschenfreundliches Gesicht der Europäischen Union.

Versöhnte Verschiedenheit

Für meine Kirche, die EKD, kann ich sagen, dass wir als ein solcher Dialogpartner für die EU zur Verfügung stehen, dies ist unsere Rolle. Nicht zuletzt durch unser Büro in Brüssel nehmen wir diese Aufgabe in Europa seit 1990 wahr. Wir sehen uns mit in der Verantwortung,  die Europäische Union solidarisch und sozial zu gestalten. Wir  können dazu einen Beitrag leisten, denn der zu Anfang beschriebene Erfahrungsraum  ist uns gut vertraut, und wir haben manches ausprobiert über die Jahrhunderte, um uns und andere in diesem Raum zu orientieren. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte von Konflikten und Kriegen, von tiefen gegenseitigen Verletzungen, von Generationen andauernden Unversöhnlichkeiten. Es ist aber auch eine Geschichte der Versöhnung, die verbunden ist mit vielen kirchlichen Friedensprojekten.  In diesem Jahr mahnt uns der Beginn des ersten Weltkrieges und lässt nicht vergessen, dass die Kirchen, auch meine Kirche, nicht nur in der Friedens- und Versöhnungsarbeit tätig waren, sondern auch eine Geschichte der Schuld geschrieben haben.

Als Kirchen sind wir in unseren eigenen Reihen mit Spannungen und Konflikten, die mit gelebter Vielfalt einhergehen,  und auch mit ihrer erbitterten Austragung, bestens vertraut, hier gibt es nichts zu beschönigen. Wir kennen aber vor allem auch die Erfahrung, dass Einheit in Vielfalt trotz schwerer Schuld gelingen kann, wenn Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt gerückt werden, und gleichzeitig Raum für Unterschiede gelassen wird. Immer neu müssen in offenem und transparenten Dialog verbindende ebenso wie trennende Erfahrungen und Standpunkte miteinander besprochen werden. Muss  regelmäßig nach gemeinsamen Zielen Ausschau gehalten werden. Dass dies trotz jahrhundertelanger Feindschaften gelingen kann,  dafür steht international geradezu sinnbildlich die Europäische Union, dafür stehen ebenso kirchenintern die Leuenberger Konkordie als Kirchengemeinschaft (1973), die Gemeinschaft Europäischer Kirchen, und die Charta Oecumenica (2001).

Wesenhaft für das Gelingen dieser Verständnisprozesse war eine Begrifflichkeit, die ich als Beitrag der Christen für Europa festhalten möchte. Es ist die Vision einer „Versöhnten Verschiedenheit“. Dieser Begriff leistet erhebliches: Differenzen werden nicht bagatellisiert, sondern benannt. Benannt wird aber auch, ob in den Differenzen noch Trennendens steckt, das heute keinen Platz mehr hat. Was eine Generation vorher noch berechtigt als trennend empfunden wurde, heute aber nicht mehr dem Empfinden entspricht, wird neu justiert. Das alte ist kein Fehler, sondern Zeitzeugnis, das nicht verdammt zu werden braucht, aber auch nicht bestehen bleiben muss. So werden gemeinsame Perspektiven möglich, die Verschiedenheit respektieren und das je eigene neu schätzen und lieben  lernen. Diese Vision kann und wird nicht nur den Kirchen helfen, guten Zusammenhalt bei aller Unterschiedlichkeit zu gestalten, sie ist ein Schlüsselbegriff für das Gelingen der Vision „Europa“ und ein wichtiger Beitrag, den die Kirchen auf diesem Weg leisten können. Wenn wir, und das sage ich besonders im Hinblick auf den aktuellen Prozess des Zusammenwachsens von Kirchen innerhalb der EKD, wenn wir versöhnte Verschiedenheit vorleben, dann sind wir glaubhafte Zeugen, dass auch in der EU der Weg zu versöhnter Verschiedenheit gelingen wird.

Wenn wir über die Rolle der Religionen in Europa nachdenken, dann sollte nicht vergessen werden, dass wir von einem Europa reden, dass durch die Aufklärung gegangen ist. Dann können und dürfen wir aber auch niemals vergessen dass in Europa  der Holocaust verübt wurde. Dass wir nach dieser Geschichte der Schuld an unseren jüdischen Mitbürgern in Europa gemeinsam Schritte zum Frieden haben gehen können, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Kirchen in Europa dürfen nie schweigend zusehen, wenn Unrecht geschieht. Und auch dafür bin ich zutiefst dankbar: dass nach der Geschichte der Verbrechen und des zu vielen Zeiten schwierigen Zusammenlebens, nach der Erfahrung von Ausgrenzung und selbstverständlicher Teilhabe jüdisches Leben wieder mitten in Europa angekommen ist. 

Es ist gut, dass in den christlichen Kirchen das Bewusstsein für die große Nähe zur jüdischen Religion wieder gewachsen ist, Dieses Bewusstsein darf nicht verloren gehen. Es ist gut, dass in den christlichen Kirchen auch das Bewusstsein dafür wieder gewachsen ist, dass  im christlichen Glauben Motive enthalten sind, andere Religionen in ihrer Andersheit zu respektieren und zu achten – diese Motive müssen immer wieder heraus gearbeitet werden.

Öffentlich oder privat? Säkular oder laizistisch?

Entgegen der These, dass mit der Moderne die Bedeutung von Religion im privaten und öffentlichen Leben abnehme, ist festzustellen, dass dem nicht so ist. Europa mag im Vergleich als der Kontinent gelten, auf dem die Gesellschaften am wenigsten religiös sind, und auf dem der Einfluss der religiös nicht gebundenen Agnostiker am stärksten gewachsen ist. Dennoch ist das Thema Religion und die Rolle, die sie spielt oder spielen soll, öffentlich präsent wie seit langem nicht mehr – die Fragestellung unserer Begegnungstagung zeigt die Aktualität der Frage ja deutlich auf. Das Verhältnis zwischen Politik, Religion, Gesellschaft und Person hat sich aber gewandelt, hat sich neu sortiert.

Spätestens seit der Iranischen Revolution 1979 hat sich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat mit großer Macht wieder ins Bewusstsein der westlichen Welt, ins Bewusstsein Europas gedrängt. Eine drängende Fragestellung, die der aufgeklärten modernen westlichen Welt schier nicht mehr vorstellbar schien. Der 11. September 2001, der Arabische Frühling – die Frage nach der Rolle der Religionen und der Beziehung zwischen Staat und Religion, Staat und Kirchen als verfasster Gemeinschaft der Gläubigen  ist aktueller denn je und ein Dauerthema.

Um die Deutungshoheit darüber, wie weit die Trennung von Kirche und Staat, die in den Verfassungen aller europäischen Staaten verankert ist, zu verwirklichen ist, wird erbittert gestritten. Das Konzept der fördernden Neutralität des Staates, das der deutschen Verfassung zugrunde liegt, hat den Anspruch alle Religionen und Überzeugungen gleich zu behandeln, d.h. allen gleiche Rechte, Pflichten und Chancen einzuräumen. Teil dieser Chancen ist, am öffentlichen Diskurs mitzuwirken. Gerade weil der Staat aufgrund seiner Neutralität nicht wertschöpfend wirkt, ist er zur Bewahrung der Kohäsionskräfte in der Gesellschaft auf wertegebundene Gemeinschaften angewiesen. Es ist also geradezu unverzichtbar, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit auftreten. Es dient dem gegenseitigen Verständnis und damit nicht nur dem Zusammenhalt sondern auch dem Frieden einer Gesellschaft dies öffentlich und in gegenseitigem Respekt zu tun. Mit gutem Recht werden wir uns gegen die Kräfte wehren, die Kirchen und Religionsgemeinschaften aus der Öffentlichkeit verdrängen wollen. Laizismus  - also das Freihalten des öffentlichen Raumes von allen religiösen Diskursen und Zeichen – ist ein Missverständnis von Glaubensfreiheit, wie die Debatte in den laizistischen Staaten Frankreich und Türkei zeigt.

Für die Rolle der Religion bedeutet die Ausgestaltung der staatlichen Ordnung als säkularer oder laizistischer Staat aber je etwas anderes. Im ersten Fall wird die Freiheit der Religionen und Religionsgemeinschaften zur Gestaltungsaufgabe. Die Freiheit ins Tun zu übersetzen und dabei zu helfen, dass alle Menschen in Freiheit leben können, das wird zur Rolle der Religion in diesem Verständnis. Zur Rolle der Religion in einer Gesellschaft, die sich von Religion befreit zu haben glaubt gehört, wachsam darauf zu achten, dass der Staat sich nicht überhöht und an die Stelle der Religion tritt. Aus beiden Konzeptionen der Gestaltung des Staates haben sich die Gewissensfreiheit und die staatsbürgerliche Gleichheit zu europäischen Grundwerten entwickelt, die unveräußerlicher Bestandteil des europäischen Friedensprojektes geworden sind. 

Dass das Christentum in Europa fest verortet ist und das Verhältnis von Staat und Kirche über Jahrhunderte ausgestaltet und weiterentwickelt worden ist, wird neuerdings wieder zur Herausforderung – für alle Religionen, ganz besonders aber für die Muslime. Muslimische Gemeinden gehören zwar längst zu Europa, aber die neue religiöse Pluralität wird nur schlecht im überkommenen Verhältnis zwischen Staaten und Kirchen abgebildet, zu fest gewachsen scheint auch auf europäischer Ebene die Bindung zwischen Staat und christlicher Religion. Die Umgestaltung und vielleicht sogar die Neuinterpretation eingeübter Rollen im Verhältnis von Religion und Staat in Europa hin zur wirklichen Chancengleichheit ist  notwendig und dringend geboten.

Im Umgang mit dem Islam in Europa wird sich erweisen, ob das vorhandene Religionsverfassungsrecht sinnvoll auf andere als die christliche (und jüdische) Religion bezogen werden kann, und es wird spannend werden zu sehen, wie sich beide Rollen in diesem Prozess ausgestalten werden: die Rolle der islamischen Organisations- und Repräsentanzformen, die sich dem Religionsverfassungsrecht anpassen sollen, und demgegenüber gleichzeitig die Rolle des  Religionsverfassungsrechtes, das sich neu jusitieren muss, um den Islam als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft zu integrieren. Ein spannendes Rollenspiel mitten in Europa.

Erwartungen und Rollen verändern sich

Wussten Sie, dass in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren mehr Kirchenglocken gegossen worden sind als in den hundert Jahren zuvor? Ist das ein Ausweis für den Erfolg der christlichen Religion und vielleicht für eine veränderte Rolle, die sie zukünftig beansprucht oder spielen wird? Einer Antwort auf die Frage kommen wir näher, wenn ich Ihnen sage, dass diese Glocken fast ausnahmslos in ostdeutschen Dorfkirchen klingen. Dort gehören aber drei Viertel der Bevölkerung keiner Kirche an und bezeichnen sich auch nicht als religiös.  Diese Dorfkirchen aber entwickeln sich zu örtlichen Zentren, zu Traditionsorten, quasi  jenseits von gelebter Religion, aber in enger Verbindung mit religiöser Tradition. Die Frage nach der Rolle der Religionen wird sich also in der Antwort nicht auf die Rolle der Kirchen und nicht auf die Rolle der Kirchenmitglieder beschränken können. Interessant ist, etwas vorher anzusetzen. Besonders bei dem Punkt, wie Menschen zu ihrer Religion kommen, und was das für die Rolle von Religionen bedeutet. In der Moderne werden Menschen wohl mehrheitlich nicht in eine Religion hineingeboren, sie wählen sie selbst aus. Dann aber müssen Kirchen mit ihren Glaubensinhalten sichtbar sein, Identifikationsräume bieten.

Wenn Menschen sich für eine Religion entscheiden, dann muss es Teil unserer Rolle sein, in Europa nicht in der Vielzahl der Angebote, säkular und religiös, unterzugehen, sondern laut und deutlich unsere Stimme  erheben, Menschen, die ihren Glauben leben, müssen  als Anknüpfungspunkt bereit stehen. Die neue Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD zeigt, dass über Grundfragen des Lebens vor allem in kleiner, vertrauter Runde gesprochen wird, und dass die Amtsträger der Kirche eine entscheidende Rolle bei der Hinwendung zur Kirche spielen. Und damit Menschen in die Lage versetzen, entscheidungsfähig zu sein. Für eine Religion wohlgemerkt, nicht für den Glauben – der bleibt immer ein Geschenk Gottes.

Eine zunehmend wichtige Rolle könne die Religionen nicht jeweils einzeln, sondern nur gemeinsam spielen: Den Dialog vorleben, der zum Frieden führt. Sie können gemeinsam herausragende Beispiele bieten. Die Kölner Friedensverpflichtung von 2006 darf als so ein Beispiel gelten, in ihr haben sich Christen, Juden und Muslime gemeinsam verpflichtet, sich aktiv für Frieden und Verständigung zu engagieren und zum gegenseitigen Abbau von Vorurteilen beizutragen, so dass die Menschen in Köln in Frieden, Sicherheit Gerechtigkeit und Freiheit leben können – und nicht nur in Köln, sondern überall auf der Welt. Wenn Religionen ihre Friedensverantwortung wahrnehmen, dann sind sie wichtige, dann sind sie unentbehrliche Partner für Politik und Gesellschaft.

Ein Kennzeichen der letzten Jahre ist die alle Lebensbereiche umfassende Ökonomisierung . Marktkräfte bestimmen unser Leben. Aber je stärker nach Marktgesetzen, nach Konkurrenz, nach Effizienz gefragt wird, umso mehr wird auch danach gefragt, was diese Mechanismen eigentlich im Zaum hält. Unbegrenzte Märkte haben Europa an den Rand des Ruins gebracht, zumindest des finanziellen. Wir Menschen spüren, dass Funktionieren nach Marktregeln unserem Leben keinen Halt gibt, dass wir nicht allein als Wirtschaftsfaktoren und Konsumenten im Blick sein wollen. Sondern dass da etwas sein muss, dass dem Leben Sinn und Halt und Tiefe gibt. Der Einfluss der Religionen auf die Gesellschaft wird daher weiter wachsen. Er wird sich nicht in den Strukturen einer Mehrheitskirche abspielen, wohl aber in der Gemeinwohlarbeit, in der Diakonie und Caritas, in der Bildungsarbeit. Dort, wo Religionen, in meinem Fall das Christentum, Barmherzigkeit und Orientierung geben können, werden die Menschen in Europa diese Stimme aufmerksam hören. Diese Rolle gehört zu uns: Barmherzigkeit zu üben in einer ökonomisierten Welt, Orientierung zu bieten und Orte und Riten bereit zu halten, die auch jenseits unserer je eigenen Mitgliederschaft tragfähig sind.

Die Synode der EKD, der ich nun seit Ende letzten Jahres vorstehen darf, hat im November 2012 einen Beschluss gefasst, für den europäischen Zusammenhalt einzutreten und gegenseitige Solidarität zu üben, denn der Glaube und unsere Gemeinschaft orientieren sich nicht an Grenzen. Krise und Integration der Europäischen Union,  da waren wir uns einig auf der Synode, „gehen die Kirchen unmittelbar etwas an, und insbesondere die Zunahme von sozialen Spannungen und Ungleichheiten erfüllte und erfüllt uns mit Sorge. Es liegt an den Kirchen und damit an uns, den Prozess der europäischen Integration zukunftsfähig zu halten, und ein soziales Europa einzufordern.  Wir haben in ökumenischer Kraft die Verbundenheit und Reichweite, Menschen zu einem gemeinsamen europäischen Weg zu ermutigen. Und noch dazu verfügen wir über ganz praktische Erfahrungen, wie Völkerverständigung, Einheit in Vielfalt und gemeinsames Handeln über Grenzen hinweg gelingen kann. Nach innen in unsere Kirche hinein zu rufen und nach außen in die Europäische Gesellschaft.“

Europa ohne Mythos

In seiner Europarede hat Bundespräsident Gauck Ende vergangenen Jahres davon gesprochen, Europa habe „keine gemeinsame europäische Erzählung, die 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen und Hände zum Gestalten animiert.“ Es gebe „auch keinen Gründungsmythos im Sinn einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten“, und eine einzige Europäische Identität  gebe es „genau so wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation“. Und ich füge hinzu: Und ebenso wenig wie die eine europäische Religion. Um nochmal den Bundespräsidenten zu zitieren, versammele Europa sich nicht um etwas, also um Monumente zum Beispiel, sondern für etwas, „für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für Menschenrechte, für Solidarität“. Unzweifelhaft sind die Religionen unverzichtbarer Teil der Verwirklichung der gemeinsamen Ziele. 

Angesichts des Relevanzverlustes von Religion, der überall in der Gesellschaft zu spüren ist, und angesichts des auch aktuell mit einem Blick zum europäischen Nachbarn in der Ukraine wieder sehr bedrohten Friedens in Europa ist die Rolle der Religionen in Europa vor allem eines: eine gemeinsame Aufgabe. Möge das wachsende Bewusstsein füreinander dabei helfen, dass wir gemeinsam unsere Rollen und darin unsere gemeinsame Rolle für Europa finden, und kraftvoll wahrnehmen. Ich bin davon überzeugt, dass die Bedeutung unserer gemeinsamen Rolle für Europa kaum zu überschätzen ist.