Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis und die Zukunft der Ökumene

Manfred Kock

Im Rahmen der Ökumenevorlesungen der Universität Münster

Gastvortrag des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Es gilt das gesprochene Wort.

Einleitung

Die ökumenische Bewegung lebt von der Vision der wachsenden Einheit der Kirchen.

Diese Vision ist nicht selbstgewählt, sondern geboren aus dem Gebetswunsch Jesu Christi: „Heilige sie in der Wahrheit ... damit sie alle eins seien“ (Joh17, 17.21.). Wo immer Christinnen und Christen danach streben, die Trennung der Kirche Jesu Christi in Konfessionen und nationale Kirchentümer zu überwinden, wirkt ihre Vision auf die bestehenden kirchlichen Verhältnisse ein. Die Phantasie des Glaubens weitet den Blick über die spröde Gegenwart hinaus. Zukunftsbilder scheinen auf, die Mut machen, zu glauben, was sein kann.

Mag die gegenwärtige Wirklichkeit bisweilen kümmerlich erscheinen, mag der Ökumenische Rat der Kirchen gegen Widerstände zu kämpfen haben, mag das Einheitsgebet des Papstes wie eine Stimme in der Wüste verhallen, mögen wir uns, wie wirkliche Geschwister das ja zuweilen auch tun, in den Haaren liegen - die ökumenische Bewegung selber ist seit über 100 Jahren unaufhaltsam und insgesamt erfolgreich im Gange ist, denn sie bezieht ihre Dynamik aus der Kraft des Glaubens und des Geistes. Sie versetzt Berge und wirkt Wunder, gegen den Augenschein. Sie überwindet Beschränktheiten und Intrigen, für die auch Christen von je her anfällig waren und auch weiterhin sein werden.

Wer von der Ökumene spricht, redet von einem schöpferischen Handeln Gottes. Wo wir am Ende sind, spricht er: „Siehe, ich mache alles neu.“

Diese Verheißung verbietet nicht, von den Schwierigkeiten in der Ökumene zu sprechen. Nur sind sie nicht Ausdruck einer ultimativen Krise.

An der Vision der Einheit des Leibes Christi teilzuhaben, das bedeutet in Spannungen zu leben zwischen Begeisterung und Nüchternheit, Erfolg und Scheitern, Versöhnung und Streit, Schuld und Vergebung, Zweifel und Glauben.

Im ersten Teil der nun folgenden Ausführungen erinnere ich an die bewundernswerte Geschichte der ökumenischen Bewegung und an das wachsende Vertrauen der Konfessionen in unserem Land.

Im zweiten Teil gehe ich auf die retardierenden Momente in der Ökumene ein, auf Ärgernisse und Enttäuschungen.

Im dritten Teil will ich das Verständnis von Kirchengemeischaft aus evangelischer Sicht erläutern und dabei auch meine Einschätzung des Papstamtes als Symbol der Einheit vortragen.

Zum Schluss wird noch einmal von der ökumenischen Hoffnung zu sprechen sein.

1. Ökumene hat Zukunft

Die bewundernswerte Geschichte der Ökumene

Wenn man auf die Geschichte des ökumenischen Gedankens blickt, kann man doch nur mit großem Staunen und großer Dankbarkeit feststellen: Was hier angefangen hat, was sich hier entwickelt hat, ist so kraftvoll, so verheißungsvoll, dass Schwierigkeiten und Probleme auf dem Wege, die es stets auch gegeben hat, kein Argument dagegen bilden können. Was seit Stockholm 1925, der Weltkonferenz „On Life and Work“, und seit Lausanne 1927, der Weltkonferenz „On Faith and Order“, geschehen ist, was sich seit Amsterdam 1948 gestaltet hat, ist eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Es sind ja nicht nur und nicht vor allem die verfassten Kirchen, die diese Bewegung tragen. Schon vor den großen Weltkonferenzen haben die christlichen Jugendbünde, die Evangelische Allianz, die Missionskonferenzen Wege geebnet. Und in den Jugend-, Männer- und Frauenwerken der verschiedenen Kirchen, in den Friedens- und Entwicklungsdiensten lebt der Gedanke ebenso fort. Ja, hier liegen wichtige Triebkräfte, ohne die die Kirchen selber wohl nicht so leicht in Bewegung zu bringen gewesen wären.

Die römisch-katholische Kirche

Eine atemberaubende Wende nahm auch die römisch-katholische Kirche im Blick auf die Ökumene. Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass Pius XI. in seiner Enzyklika „Mortalium animos“ von 1928 den Katholiken die Teilnahme an Tagungen der Nichtkatholiken strikt verboten hat: „Man darf auf die Einheit der Christen nicht anders hin arbeiten, als durch Wirken für die Rückkehr der Getrennten zur wahren Kirche Christi, von der sie ja seinerzeit unglücklicher Weise abgefallen sind. ... In dieser Kirche Christi kann niemand sein und niemand bleiben, der nicht die Autorität und die Vollmacht Petri und seiner rechtmäßigen Nachfolge anerkennt und gehorsam annimmt.“ Von daher ist es ein qualitativer Sprung, wenn das II. Vatikanische Konzil in „Lumen gentium“ (Nr. 8) mit dem berühmten „subsistit“ zum Ausdruck bringt, die Kirche sei zwar „verwirklicht“ in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird, dann aber fortfährt, „... das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen“. Und im Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“, ebenfalls von 1964, wird noch deutlicher gesagt: „Nichtsdestoweniger sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und im Leibe Christi eingegliedert, darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt.“ Der eingeschlagene Weg der römisch-katholischen Kirche gipfelt schließlich in der Enzyklika „Ut unum sint“ des gegenwärtigen Papstes Johannes Paul II. von 1995, in der er in visionärer Emphase die ökumenische Bewegung als im Plan Gottes selbst begründet sieht. Von wiederentdeckter Brüderlichkeit ist die Rede (Ziff. 41f), von verwirklichter Zusammenarbeit (Ziff. 74ff). Ja, der Papst stellt sein Amt selber als „universales Dienstamt der christlichen Einheit“ zur Debatte und lädt dazu ein, zu prüfen, inwieweit ein solches Petrusamt auch für die „getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften“ von Bedeutung sein könnte.


Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GE), die zum Reformationstag 1999 in Augsburg feierlich unterzeichnet wurde, war ein ökumenischer Meilenstein. Auch die Tatsache, dass sie durch die „Gemeinsame Offizielle Feststellung“ (GOF) gerettet werden musste, bedeutet nicht, dass die Verständigung über die Rechtfertigungslehre gescheitert ist. Denn zu ersten Mal seit der Reformationszeit ist es gelungen, dass die seit damals getrennten Kirchen gemeinsame Aussagen zu jener Lehre machen, die einst zum Zerbrechen der Einheit der westlichen Kirche führte. Die früheren gegenseitigen Lehrverurteilungen treffen die Lehre der Dialogpartner, wie sie in der Gemeinsamen Erklärung dargelegt wird, fortan nicht mehr.

Daran ändert auch die heftige Protestwelle von evangelischen Professoren und auch von einer katholisch-konservativen Gruppe gegen die Unterzeichnung nichts. Die Professoren wiesen zurecht auf verbleibende Unschärfen hin. Darum aber das ganze Unternehmen für einen Fehlschlag zu erklären, wie das immer wieder von einigen geäußert wird, verkennt, dass ökumenischer Dialog ein Prozess ist, in dem auf der Basis des Erreichten das noch nicht Erreichte zur weiteren Klärung gebracht werden muss.

Die Gemeinsame Erklärung bezeichnet keinen Formelkompromiss in Sachen Rechtfertigungslehre, sondern eine Spanne, innerhalb derer die beiden Kirchen sich in ihrer Tradition akzeptieren.

Beide Traditionen füllen wichtige Lehrbegriffe mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt. Darum muss, wer einer Verständigung über Lehrfragen auf der gemeinsamen Grundlage der Heiligen Schrift näher kommen will, der jeweils anderen Seite genügend Spielraum geben für die Vergewisserung in der jeweiligen Tradition.

Die Debatte über die GE fand in der Regel auf angemessenem Niveau statt. Die freie, kritische theologische Auseinandersetzung ist ein wichtiger Bestandteil des ökumenischen Dialogprozesses. Der hannoversche Landesbischof Horst Hirschler hat einmal festgestellt: „Der Streit könnte eine ‚List des Heiligen Geistes‘ sein, denn bis in die Gemeinden hinein ist über das Herzstück reformatorischer Theologie, das ja in der Sache die Mitte des christlichen Glaubens ist, inzwischen so viel gesprochen und mit Ernst gestritten worden wie lange nicht mehr.”

Darum freilich geht es: Verständlich zu formulieren, was Rechtfertigung für den modernen Menschen heißt, denn die Frage nach dem christlichen Menschenbild ist hochaktuell, wie wir in der Diskussion um die Chancen der Gentechnik und um die Grenzen des Erlaubten bei der Genforschung erleben. Wert und Würde des Menschen sind im Rechtfertigungshandeln Gottes begründet und darum unverfügbar. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Stärken und Schwächen, seiner Taten und Untaten. Seine Würde ist unabhängig von seiner genetischen Vollkommenheit. und darum darf menschliches Leben nicht zur willkürlichen Manipulationsmasse erklärt werden. In der Fragen nach den ethischen Konsequenzen aus der Rechtfertigungslehre für den Schutz des Lebens sind die beiden Kirchen trotz teilweise unterschiedlicher theologischer Begründungswege recht nah beieinander.

So ist die Geschichte der GE ein Lehrbeispiel dafür, dass Ökumene weitergeht, auch wenn bei einzelnen Akteuren auf beiden Seiten der Mut zu wirklich entscheidenden Schritten nach vorne fehlt. Auf diese Weise machen die Kirchen zwar keinen großen Sprünge, aber sie kommen doch voran.

Die orthodoxen Kirchen

Die Entwicklung der Beziehungen der orthodoxen Kirchen zur ökumenischen Bewegung ist ein weiteres spannendes Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte.

Es war ein Meilenstein auf dem Weg der Ökumene, als die orthodoxen Kirchen, insbesondere diejenigen aus den damaligen sozialistischen Ländern, dem Ökumenischen Rat der Kirchen beitraten. Das war im Jahr 1961 bei der Vollversammlung des ÖRK in Neu Delhi. Der Erweiterung des Kreises der Mitgliedskirchen durch die orthodoxen Kirchen ist es zu verdanken, dass die Basisformel des Ökumenischen Rates um eine deutliche trinitarische Aussage ergänzt wurde. - Auch wenn die Mitwirkung der orthodoxen Kirchen theologisch nie spannungslos war, man erinnere sich an die eher kritische Stellungnahme zu der Lima-Erklärung von 1982, so bleibt es doch ein unschätzbarer Gewinn, dass dieser große Zweig der Christenheit sich in die Ökumene eingefügt hat. Dieser Mitwirkung der Orthodoxen im Weltrat der Kirchen hat auch das Gespräch mit der katholischen Kirche belebt. Freilich steht der Primat des Papstes auch zwischen den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche und den mit ihr verbundenen ( „unierten“) Ostkirchen.

Diese Spannungen sind vor allem nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs in den Jahren nach 1989 zutage getreten. Die Diskussion um den Besuch des Papstes in der Ukraine hat kürzlich das Ausmaß des Konflikts vor Augen geführt. Aber der intensive theologische Dialog zwischen Rom und den orthodoxen Kirchen geht weiter.

Mir scheint nicht ausgeschlossen, dass auch die orthodoxen Kirchen eines Tages einen Weg finden, in großer Gelassenheit in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext mit ihrer christlichen Wertekompetenz mitzuwirken, etwa wenn es darum geht, offenkundige Missverständnisse von Freiheit zu korrigieren, ohne die individuelle Freiheit selber als positives Errungenschaft in Frage zu stellen.

Wirkliche Bereitschaft zum Verstehen des Anderen gilt allerdings ebenso für alle anderen Kirchen als Voraussetzung und die Einsicht, dass der Weg nicht schon per se identisch ist mit dem Ziel. Es gibt Fortschritte, hinter die niemand ernsthaft zurück gehen will und die verlässlich in die richtige Richtung weisen. Dazu zähle ich die Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des ÖRK „Taufe, Eucharistie und Amt“ (Lima-Papier, 1982) oder auch die Erklärung „Gemeinsam den einen Glauben bekennen. Eine ökumenische Auslegung des apostolischen Glaubens, wie er im Glaubensbekenntnis von Nicäa- Konstantinopel (382) bekannt wird“ von 1991 für ganz besonders wertvolle Früchte der Arbeit des ÖRK. Auch wenn sie nicht auf eine offizielle Rezeption durch die Kirchen angelegt sind, rücken sie doch Elemente der Gemeinsamkeit ins Blickfeld, die durchaus geeignet sind, den Horizont der einzelnen Kirchen zu erweitern und ihnen geistliche Schätze der anderen näher zu bringen.

Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit den Altkatholiken

Zu den überaus erfreulichen Entwicklungen im Bereich der Ökumene in Deutschland gehört auch das Verhältnis des Katholischen Bistums der Altkatholiken in Deutschland zu den protestantischen Kirchen. Seit 1985 gibt es eine Vereinbarung über die gegenseitige Einladung zur Teilnahme am Hl. Abendmahl bzw. an der Feier der Eucharistie. Die Übereinkunft enthält Aussagen zum Verständnis des Heiligen Abendmahls bzw. der Eucharistie, die von außerordentlicher Tiefe und Klarheit sind. Was das Sakrament des Altars betrifft, haben wir Evangelischen mit unserer etwas wortlastigen Gottesdienstpraxis Grund, von der Hochschätzung des Sakraments in den katholischen Kirchen zu lernen.

Die Vereinbarung mit den Altkatholiken enthält auch eine Mahnung zum ehrfürchtigen Umgang mit den Elementen während und nach der Feier, eine Behutsamkeit, die wir uns angesichts mancher Misslichkeiten, zum Beispiel bei den Massenabendmahlsfeiern der Kirchentage, hinter die Ohren schreiben sollten.

Die Altkatholische Kirche in Deutschland hat übrigens tapfer zu der Vereinbarung gestanden, als sie ihrerseits von der Utrechter Union deswegen ins Verhör genommen wurde. Ich sehe in der Vereinbarung ein gutes Zeichen dafür, dass man Schritte, die einem in der Sache möglich sind, auch tun sollte, selbst wenn dabei die letzten Vorbehalte und gegenseitige Fragen nicht sofort ausgeräumt werden können.

Die Anglikanische Kirchenfamilie

Ebenso erfreulich und inzwischen auch sehr bewährt ist eine Vereinbarung über die Abendmahlsgemeinschaft zwischen der Church of England und der Evangelischen Kirche in Deutschland, begründet durch die Meißner Erklärung von 1988. In dieser Erklärung gibt es allerdings einen ausdrücklichen Vorbehalt: Auch wenn Abendmahlsgemeinschaft besteht, ist die volle Austauschbarkeit der Ämter noch nicht erreicht. Dies hängt zusammen mit der Bedeutung des historischen Episkopats, wie die anglikanischen Kirchen ihn kennen. In dieser Frage gibt es eher eine gemeinsame Linie der Anglikaner mit den skandinavischen lutherischen Kirchen (Porvoo-Erklärung) .

Ich sehe ein sehr positives Signal in der Art, wie beide Seiten in den der Porvoo-Erklärung vorausgehenden Verhandlungen historische und dogmatische Bedenken ausgeräumt haben. Den historischen Episkopat, d. h. die Übertragung des Bischofsamtes von einem Bischof auf den anderen, betrachten diese Kirchen als ein sinnvolles und sprechendes Zeichen für die kontinuierliche Weitergabe des Verkündigungsauftrags, der Sakramentsverwaltung und der Kirchenleitung. In den Rang eines notwendigen Merkmals, ohne das die Kirche nicht Kirche sein könnte, wird die bischöfliche Sukzession aber nicht erhoben.

Dies ist der Punkt, der diese Aussagen für mich als rheinischen Präses akzeptabel macht. Denn, wie Sie wissen, haben wir mit dem Bischofstitel nichts im Sinn und darum die Leitung der Kirche nicht episkopal, sondern presbyterial-synodal organisiert.

Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK)

Last but not least ist auch die Gemeinschaft mit den evangelischen Freikirchen zu nennen. Seit 1948 sind sie mit uns verbunden in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK). Mit der Evangelisch-methodistischen Kirche pflegen die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland seit 1987 volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Von den drei baptistischen Gemeinschaften, dem Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden, dem Bund freier evangelischer Gemeinden und dem Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden trennt uns theologisch nichts außer einem unterschiedlichen Gemeindebegriff und infolge dessen ein unterschiedliches Verhältnis zur Säuglingstaufe. Dies führt, wenn ich recht sehe, immer seltener bei Übertritten von Gemeindegliedern aus landeskirchlichen Gemeinden zu Handlungen, die im Sinne der baptistischen Auffassung als Taufe, in unserem Sinne aber als Wiedertaufe anzusehen sind.

Die zwischen den EKD-Gliedkirchen und den baptistischen Gemeinden faktisch geübte Abendmahlsgemeinschaft hat sich im Verhältnis zu den mennonitischen Gemeinden in einer förmlichen Erklärung der gegenseitigen Einladung zum Abendmahl festgemacht. So ist es zwischen ihr und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche, den Kirchen der Arnoldshainer Konferenz und den Gliedkirchen der EKD im Jahre 1996 vereinbart.

2. Ökumene: Wir sind auf dem Weg, aber noch längst nicht am Ziel

Es gibt im ökumenischen Dialog nicht nur die geschilderte erfreuliche Geschichte. Es gibt auch Rückschläge und Enttäuschungen. Sie nehmen bisweilen Ausmaße an, die manche zweifeln lassen, ob die ökumenische Bewegung in ihrem bisherigen Zustand die Christenheit überhaupt bewegen kann. Das weltweite Anwachsen charismatischer Bewegungen könnte ein Indiz dafür sein, dass der Geist längst andere Wege gefunden hat. Ich selber bin nicht pessimistisch. Ich nenne die Rückschläge und Enttäuschungen „retardierende Momente“. So wie in jedem guten Drama gibt es eine Verzögerung, bevor das Ziel der Handlung erreicht wird. Dieser Augenblick eröffnet die Möglichkeit, dass die Ereignisse einen ganz anderen Ausgang nehmen könnten als der bisherige Gang der Dinge hätte erwarten lassen. Retardierende Momente sollen deutlich machen: Was geschieht, ist keinesfalls selbstverständlich oder äußeren Zwangsläufigkeiten unterworfen. Auf unseren Zusammenhang angewandt hieße das: Rückschläge und plötzlich auftretende Hindernisse auf dem Weg zur Einheit können heilsam sein. Sie sind zugleich eine Erinnerung daran, dass im ökumenischen Prozess zwischen Himmel und Erde mehr möglich ist, als der Augenschein gerade hergibt.

Das Bild vom retardierenden Moment hat den Vorteil, dass man Verzögerungen im ökumenischen Prozeß auch in ihrer konstruktiven, identitätsstiftenden Funktion würdigen kann. Die in einem solchen Fall zutage tretenden Verwerfungen zu benennen, ist der Wahrheitsfindung vielleicht dienlicher, als manche allzu glatte, aber in ihrer Substanz bisweilen doch dünne gemeinsame Verlautbarung.

Wenn das nach wie vor Kontroverse, Trennende benannt wird, ist das nicht das Ende der ökumenischen Höflichkeit. Kann es denn schaden, wenn sich herausstellt, dass wir noch einmal und noch gründlicher nachdenken müssen und noch intensiver miteinander reden müssen? Je gründlicher das Gespräch geführt wird, desto haltbarer werden die Ergebnisse sein, mögen sie angesichts der hohen Erwartungen und der glühenden Visionen auch zunächst eher bescheiden ausfallen.

Lassen Sie mich zunächst als ein Beispiel einen Vorgang aus dem Bereich der Orthodoxen Kirche nennen.

Die Bischofssynode der russisch-orthodoxen Kirche hat im August 2000 eine Stellungnahme über „Die Grundlegenden Prinzipien der Beziehungen der russisch-orthodoxen Kirche zu den Heterodoxen“ beschlossen. Das ist ein sehr beschwerlicher Text. Vielleicht ist er inner-russisch ein Ventil, um den Austritt aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen zu vermeiden, wie ihn die georgische und die bulgarische orthodoxe Kirche vollzogen haben. In der Schrift werden an die weitere Mitgliedschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen Bedingungen geknüpft. Es heißt dort: „Wenn die Orthodoxen eine Reform des Weltkirchenrates fordern, so bestehen sie darauf, dass im Rat die Möglichkeiten zu einem vollgewichtigen orthodoxen Zeugnis von der Wahrheit der Kirche und den Prinzipien der Einheit möglich ist.“ Dieses wendet sich ausdrücklich gegen ein Übergewicht protestantischer Ekklesiologie und Ethik im Weltkirchenrat. Ökumenische Modelle wie etwa Vorstellungen von einer historischen Verzweigung der Christenheit, einer Differenzierung zwischen „sichtbarer“ und „unsichtbarer Kirche“ oder auch von der Gleichheit aller Denominationen werden abgelehnt mit den Worten: „Wahre Einheit ist nur möglich im Schoß der einen heiligen katholischen und apostolischen (d. h. der orthodoxen) Kirche“. Das ist erklärtermaßen das Konzept einer „Rückkehr-Ökumene“. Anders als in Rom bedeutet dies aber nicht die Forderung einer Unterwerfung unter ein bestimmtes Oberhaupt, also nicht die Eingliederung in eine Hierarchie, sondern die Rückkehr zum gemeinsamen Glauben der alten Kirche. Die Ineinssetzung der eigenen Kirche mit der wahren Kirche Jesu Christi ist in der Orthodoxie jahrhundertealte Überzeugung.

Gott sei Dank ist die Orthodoxie aber weniger juridisch. Darum findet sie in der Praxis oft überraschend große Spielräume, ihr Verhältnis zu anderen Kirchen pragmatisch zu regeln. Dabei hilft ihr die Unterscheidung zwischen dem, was genau genommen (kat`akribian) von Theologie und konziliarer Tradition her gilt und dem, was in einer bestimmten Situation (kat`oikonomian) im Umgang mit anderen möglich, förderlich, dem Leben der Kirche und der Gläubigen dienlich ist.

Ich halte es für außerordentlich wichtig, in den Gesprächen mit den orthodoxen Kirchen Lösungen zu finden, die es ihnen ermöglichen, weiterhin an der Gemeinschaft des Ökumenischen Rates der Kirchen verbindlich teilzuhaben. Dies wird ohne eine gewisse Selbstrelativierung der Orthodoxie gegenüber den anderen Kirchen im ÖRK nicht gehen. Den östlichen und orientalischen Kirchen wird damit ein Sprung über den eigenen Schatten abverlangt und wir sollten uns darum sensibel zeigen für die inneren Schwierigkeiten der orthodoxen Kirchen. Schließlich haben sich seinerzeit auch die Kirchen des Westens nur widerstrebend jenen aufklärerischen Exerzitien unterzogen, deren Endergebnisse sie heute als Gemeingut erhalten und ausbauen wollen. Im Gegenüber zum Islam versteigen sich manche sogar in nicht ganz uneigennütziger Geschichts- und Selbstvergessenheit dazu, die Werte der aufgeklärten Zivilisation als Errungenschaften des sogenannten „christlichen Abendlands“ zu verteidigen, so als habe es nie kirchlichen Widerstand gegen Liberalität und Toleranz, gegen die freie Wahl der Religion und des Bekenntnisses, gegen die ungehinderte Ausübung des Glaubens auch von religiösen Minderheiten und gegen die Gleichberechtigung der Frau gegeben. Die Pluralisierung der Gesellschaft, eine natürliche Folge dieser „neuen“ Werte ist in manchen kirchlichen Milieus immer wieder verdächtig als Ursache für die heutigen Wertekonflikte. Bis heute tun sich manche Christen schwer damit, die Gesellschaft dabei zu unterstützen, einen neuen Wertkonsens zu entwickeln. Stattdessen erheben sie den Vorwurf allgemeiner Gottlosigkeit, der allemal gut dafür scheint, eine wirkliche Auseinandersetzung mit libertären Exzessen umgehen zu können. Wir sollten darum nicht vergessen, dass es ein weiter Weg auch für die Kirchen im Westen war, bis sie positiv zum säkularen Verständnis von Freiheit stehen konnten.

Ein retardierendes Moment ist auch die Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre „Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“.

Diese Schrift ist von prominenter katholischer Seite „ein sperriger Text aus Rom“ genannt worden. Dem wird man nicht widersprechen wollen. So sehr man den ersten Kapiteln zustimmen kann, die die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi darstellen, so unbehaglich wird einem, wenn man sieht, wie dieses nahezu im Maßstab 1:1 auf die Einzigkeit und Heilsuniversalität der römisch-katholischen Kirche übertragen wird. Die EKD-Synode von November 2000 hat sich davon deutlich distanziert und in diesem Zusammenhang von „manifesten theologischen Irrtümern“ gesprochen. In der Kundgebung der Synode von Braunschweig heißt es weiter: „Es betrübt uns, dass die römisch-katholische Kirche sich selbst als die einzig vollkommene Realisierung der Kirche Jesu Christi versteht und damit bestreitet, dass sich der Leib Christi in einer Vielzahl von Schwesterkirchen verwirklicht und dass sich die Treue Gottes auch darin bewährt.“ Die Synode berief sich auf den siebenten Artikel der Confessio Augustana (CA VII) und hielt daran fest, dass es „zur wahren Einheit der christlichen Kirche genug ist, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden“. Eine bestimmte Amtsstruktur und -hierarchie gehört nicht - etwa auf einer Ebene mit Wort und Sakrament - zu den Wesensmerkmalen der Kirche. „Wer mehr will, will zu viel.“ In der Tat ist der Satz in „Dominus Iesus“ Ziff. 17 ein Stein des Anstoßes: „Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben (- damit sind wir Evangelischen zweifellos gemeint ! -) , sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“. Der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, ist in einem Festvortrag im November 2001 in Berlin darauf eingegangen. Er hat die sperrige Aussage erläutert: „Gemeint ist: Sie sind nicht Kirchen in dem Sinn, wie die katholische Kirche sich selbst als Kirche versteht. ... Das auszusprechen kann nicht beleidigend sein.“ Diese Erläuterung ist sympathisch. Kasper ist überhaupt dafür zu danken, dass er die gewachsene Gemeinschaft zwischen Rom und den Reformationskirchen hervorhebt: „Wir befinden uns bereits in einer realen tiefen, wenngleich noch nicht vollen Gemeinschaft“. Der Unterschied zwischen der Formulierung in „Dominus Iesus“ und der freundlichen Interpretation des Präsidenten des Einheitsrates ist allerdings der: mit der Formulierung „keine Kirche im eigentlichen Sinn“ nimmt Rom die Definitionsvollmacht für Kirche in Anspruch. Die Umschreibung „nicht Kirchen in dem Sinn, wie die katholische Kirche sich selbst als Kirche versteht“ umschifft die Klippe römisch-katholischen Exklusivverständnisses von Kirche. Ad bonam partem interpretiert bedeutet dies wohl: In der römisch-katholischen Kirche ist es offenbar doch möglich, Kirchen in dem Sinn, wie diese sich selber verstehen, zu respektieren. Das ist immerhin ein Hoffungssignal.

Natürlich müssen dafür hinreichende Grundlagen der Gemeinsamkeit bestehen. Über die Rechtfertigung haben wir uns verständigt. Über die Sakramente können wir uns auch verständigen.

Der nächste Schritt muss sein, über das satis est aus der Confessio Augustana (CA VII) miteinander zu verhandeln, wo neben der reinen Lehre des Evangeliums und der richtigen Verwaltung der Sakramente kein weiterer für die Einheit der Kirche notwendiger Sachverhalt namhaft gemacht wird. Welche Bedeutung können wir dann der zentralistischen, universalkirchlichen Struktur, dem Bischofsamt in historischer Sukzession und einem denkbaren Petrusamt beimessen?

Ich komme darauf zurück.

3. „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“

Zunächst ist im dritten Teil von der kleinen EKD-Schrift
„Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ vom Oktober 2001 zu sprechen.

Der Text -  ein Votum der EKD-Kammer für Theologie, das sich der Rat der EKD zueigen gemacht hat - ist nicht von allen ökumenischen Partnern gleich freudig begrüßt worden. „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ fasst die evangelische Position knapp - an einigen Punkten sehr knapp und damit für manche ökumenischen Gesprächspartner ungewohnt kantig - zusammen.

So hat etwa der Abschnitt über die Beziehung zu den anglikanischen Kirchen zu Recht Kritik erfahren. Wenn es dort heißt: „Die Vereinheitlichung der Amtsauffassung ist nach diesem (evangelischen) Verständnis nicht die Voraussetzung solcher Gemeinschaft“, dann bleibt unerwähnt, dass dies für die anglikanische Theologie, die gerade an diesem Punkt um Verständnis und Öffnung wirbt, ein sehr wichtiger Punkt ist. Kantig ist auch die Aussage, die den Baptisten die „Praxis der Wiedertaufe“ ankreidet, obgleich sie nicht durchgängig praktiziert wird.

Ebenso wird die Nichtanerkennung der Taufe der westlichen Kirchen durch die orthodoxen Kirchen, „wie sie insbesondere in deren Lehre grundsätzlich vertreten wird“, kritisiert. Außerhalb Deutschlands ist sie ein ökumenisches Problem, aber im Bereich der zentraleuropäischen Metropolie des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel wird die Gültigkeit der in unseren Kirchen vollzogenen Taufe akzeptiert.

Über den Abschnitt, der die Beziehung zur römisch-katholischen Kirche umreißt, hat sich Walter Kasper in dem bereits genannten Festvortrag nachdrücklich beschwert. Es heißt in EKD-Text, „dass die Notwendigkeit und Gestalt des ‚Petrusamtes’ und damit des Primats des Papstes, das Verständnis der apostolischen Sukzession, die Nichtzulassung von Frauen zum ordinierten Amt und nicht zuletzt der Rang des Kirchenrechts in der römisch-katholischen Kirche Sachverhalte sind, denen evangelischerseits widersprochen werden muss“. Dazu sagt Kasper: „Das ist so schroff, aber auch so undifferenziert und ohne Berücksichtigung von Dialogergebnissen gesagt, dass ‚Dominus Iesus’ dem gegenüber geradezu als ein freundlicher ökumenischer Text erscheint.“

Dem Vergleich mit „Dominus Iesus“ kann ich so nicht zustimmen. Schließlich haben wir mit dieser Schrift das Kirche-Sein der römisch-katholischen Kirche nicht in Frage gestellt. Aber dass wir an ihre Struktur und an ihr Selbstverständnis, wie es sich in offiziellen Äußerungen Roms darstellt, Anfragen haben, dass wir Probleme sehen und dass wir nicht einfach zustimmen können, das bitte ich uns zugute zu halten. Vielleicht kann man, wie Ulrich Ruh das in der „Herderkorrespondenz“ getan hat, von „Verhärtungen“ sprechen. Das muss uns aufmerken lassen. Aber unser Widerspruch bricht ein Gespräch nicht ab, sondern nimmt es auf und will es fortsetzen. Vielleicht haben die katholischen Kritiker ja ein Stück weit Recht, wenn sie beanstanden, dass unsere Aussagen zur „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ allzu sehr Maß nehmen an der Leuenberger Konkordie und den Eindruck vermitteln, als sollten weitergehende Vorstellungen von kirchlicher Einheit, also über eine Kirchengemeinschaft hinausgehende, außerhalb der Betrachtung bleiben.

Der Schrift „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ liegt das Modell der Leuenberger Konkordie zugrunde, das in der theoretisch bestechenden Formel von der „versöhnten Verschiedenheit“ auf den Punkt gebracht werden kann. Die Formen von innerevangelischer Kirchengemeinschaft, die wir in Deutschland haben, scheinen mit diesem Modell so hochgradig identisch, dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die Evangelische Kirche der Union (EKU) und die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) geradezu als Musterfälle des Erstrebenswerten erscheinen. Genaues Hinsehen belehrt einen freilich schnell eines besseren, denn verschieden sind wir zweifellos innerhalb unserer Kirche. Aber der erreichte Grad an innerprotestantischer Gemeinschaft orientiert sich an dem, was nach der Confessio Augustana ausreicht, um in vollem Sinn von Kirche zu reden, nämlich wo Gottes Wort rein verkündigt und die Sakramente recht verwaltet werden (CA VII). Die sich in den Kirchen entwickelnden Ordnungen und Strukturen sind von sekundärer Bedeutung. Sie dürfen nicht dem Wort Gottes widersprechen, können aber in Vielfalt gestaltet sein. In diesem Sinne können sich bekenntnisverschiedene Kirchen zusammenfinden, die darauf verzichtet haben, für ihre jeweiligen Zielvorstellung über eine mögliche Einheit ausschließlich das eigene Modell von Kirche den anderen mehr oder weniger deutlich zur Übernahme zu empfehlen.

Dieser Verzicht hat sich für die Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie segensreich ausgewirkt. Auch Kirchen, die nicht aus der Reformation hervorgegangen sind, konnten zum Beitritt ermutigt werden.

Vor allem im Dialog mit der römisch-katholischen Kirche muss erkundet werden, welche Teile der kirchlichen Strukturen notwendig sind, um von Kirchengemeinschaft sprechen zu können. Welche das Amt und die Ordnung betreffenden Strukturen sind nach katholischem Verständnis unaufgebbar? Welche Relevanz hat die Selbstdefinition der evangelischen Kirche für das Selbstverständnis der katholischen Kirche ?

Wirkliche Begegnung der Kirchen ereignet sich nur, wo eigene Tradition ihr jeweiliges Gegenüber aus dessen eigener Perspektive verstehen lernt. Wer sich entscheidet, die Tradition des anderen erschließen zu wollen, muss sich darauf einlassen. Wer diesen Schritt riskiert, nimmt damit die Herausforderung der Vielgestaltigkeit des Christuszeugnisses an und eröffnet sich Möglichkeiten, am Glaubensschatz des anderen teilzuhaben. Die eigene Tradition mit den Einsichten der anderen weiterzuentwickeln, hilft auch dazu, sich der eigenen Prägung bewusst zu werden und ermöglicht, die eigene Herkunft mit anderen Augen zu sehen.

Lassen Sie mich das entfalten an der Stellung der evangelischen Kirche zum Papstamt.

Die evangelische Kirche nimmt für sich in Anspruch, die biblische Überlieferung des Glaubens an den in Jesus Christus offenbarten Gott zu wahren, ohne auf das Papstamt angewiesen zu sein. Die Kirchen der reformatorischen Tradition sehen die päpstliche Kirchenverfassung als in der Heiligen Schrift nicht begründet und für ihr eigenes Kirchesein als unnötig.

Der seit dem 2. Jahrhundert erhobene Primatsanspruch des römischen Bischofs war schon in der alten Kirche umstritten und hat schließlich zur Trennung der Kirche des Westens von den Ostkirchen geführt.

Die reformatorischen Kirchen führten im 16. Jahrhundert ihren Konflikt mit dem Papsttum als eine Auseinandersetzung um die Wahrheit und die Freiheit des Evangeliums und erlebten das Handeln des Papstamtes als Unterdrückung des Evangeliums.

Darum ist die Diskussion um das Papstamt in den evangelischen Kirchen bis heute auch emotional besetzt, so dass sich für viele Protestanten schon die Frage nach einer Neubewertung des Papstamts, etwa als Zeichen der Einheit der Weltchristenheit, nur sehr schwer stellen lässt. Auch die höfische Prachtentfaltung, mit der bis heute die Herrlichkeit eines geistlichen Imperiums zelebriert wird, ist für evangelisches Kirchenverständnis befremdlich.

Abgesehen von höfischem Zeremoniell jedoch ist die Art, wie Johannes Paul II. das Amt führt, auch für viele Protestanten beeindruckend. Wie keiner seiner Vorgänger hat Johannes Paul II. sein Pontifikat als ein pastorales Amt verstanden. Wenn er in Jerusalem zum Frieden mahnt, in Guatemala zur Gerechtigkeit und in der Ukraine zur Versöhnung, wenn er in Assisi mit Vertretern anderer Religionen um Versöhnung betet, dann wird er nicht nur gehört als der Bischof von Rom oder der Papst der römisch-katholischen Kirche, dann wird er von vielen auch gehört als Sprecher der Christenheit in einer Welt, die die Botschaft des Evangeliums so nötig hat wie eh und je.

Mich hat es bewegt, wie die Jugendlichen bei den großen Jugendtreffen in Paris und in Rom von diesem Papst so beeindruckt waren, weil ihnen die Gebrechlichkeit seines Alters nicht als Mangel erschien, sondern eher wie ein Transparent des Jenseits, an dessen Schwelle Johannes Paul II. jetzt steht.

Johannes Paul II. hat mit zunehmendem Alter geradezu befreiungstheologische Positionen eingenommen, wenn es um den Kampf gegen das Elend in der Welt geht.

Diese pastorale Intention ist es wohl auch, die die Frage nach der Einheit der Kirchen unbefangener stellen hilft, angesichts der Tatsache, dass der zahlenmäßig größte Teil der Christenheit dieser päpstlich verfassten Kirche angehört.

Spätestens seit Johannes Paul II. in der Enzyklika „Ut unum sint“ von 1995 zum „brüderlichen und geduldigen Dialog“ über das Papstamt eingeladen hat, ist das Gespräch im Gange. Es geht in dieser Frage um den Kern der Differenzen im Kirchenverständnis.

Die eigentliche Begründung für die protestantische Ablehnung des Papstamtes ist das biblische Verständnis der Wahrheit und der Freiheit des Evangeliums. Es ist das Verständnis von Einheit, dass Christus als das Haupt der Kirche konstituiert, für das es keine irgendwie geartete Form der Stellvertretung gibt.

Die Zusprüche an Petrus in Matth. 16, 17-19 ‚Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue‘ und Joh. 21, 15ff (‚weide meine Lämmer‘)  gelten der ganzen Kirche und sind in allen ihren Ämtern wirksam. Eine Hierarchie der Ämter, wie auch ein historischer Nachfolgeautomatismus, findet sich in der Überlieferung der Heiligen Schrift nicht. Kriterium für die Christusnachfolge ist das Bekenntnis, wie es Petrus gesprochen hat, nicht aber Petrus selber als Bekenner.

Ist die Vorstellung eines lutherisch vertretbaren Sprecheramtes des Papstes für die gesamte Christenheit realistisch? Eine bilaterale Arbeitsgruppe der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) mit ihrer Schrift „Communio Sanctorum“ solche Überlegungen vorgetragen. Ich gestehe allerdings, dass ich skeptisch bin, ob der dort skizzierte Weg hinreichend realistisch ist.

In der schon erwähnten Enzyklika „Ut unum sint“ geht es darum, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche der Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet.“

Was bedeutet angesichts dieser Einladung zum brüderlichen und geduldigen Dialog der Hinweis auf „die Vollmacht und Autorität“, ohne die dieses Amt illusorisch wäre? Und was ist „das Wesentliche der Sendung“ ? Die dogmatischen Festlegungen über das Papstamt sind beim I. Vatikanischen Konzil getroffen worden, dort in der Konstitution „Pastor aeternus“ (1870).

Das vierte Kapitel über das unfehlbare Lehramt des römischen Bischofs endet mit der Feststellung: „Wenn der römische Bischof 'ex cathedra' spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des römischen Bischofs aus sich, nicht aber auf Grund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.“ (DH 3074).

Diese dogmatischen Definitionen betreffen durchaus „das Wesentliche der Sendung“ des Bischofs von Rom.

Eine gewisse Einbindung des Petrusdienstes in kollegiale und synodale Kirchenstrukturen, auch die Achtung einer relativen Eigenständigkeit von regionalen Teilkirchen, ist für römisches Verständnis durchaus möglich, ja sogar geübte Praxis. Der Papst wird vor einer wichtigen Rechtsentscheidung, erst recht vor einer dogmatischen Definition die Bischöfe hören, die Entscheidungen seiner Vorgänger beachten, die Situation der Gläubigen in Betracht ziehen, sich von Theologen beraten lassen. Eine Entscheidung aber trifft er aus eigener Vollmacht. Ex cathedra-Entscheidungen sind ex sese, non autem ex consensu ecclesiae gültig und unabänderlich. In Rechtsfragen gilt: Roma locuta, causa finita. „Das Urteil des Apostolischen Stuhls aber, über dessen Autorität hinaus es keine größere gibt, darf von niemandem neu erörtert werden und keinem ist es erlaubt, über sein Urteil zu urteilen“ (DH 3063, Vaticanum I) .

Diese im I. Vatikanischen Konzil definierte Lehre der römisch-katholischen Kirche über das Papstamt hat die Distanz zu den Kirchen der Reformation vergrößert und den von den Reformatoren formulierten Einsprüchen gegen das Papstamt recht gegeben. Papst Paul VI. war sich bei seinem Besuch beim Weltrat der Kirchen in Genf schon dessen bewusst, dass das Petrusamt, geschaffen für die Einheit der Kirche, zu deren größtem Hindernis geworden war.

Sind diese Positionen des I. Vatikanischen Konzils heute nach den Formulierungen des II. Vatikanischen Konzils und nach der Enzyklika „Ut unum sint“ modifizierbar? Das ist zunächst keine Frage an die evangelischen Kirchen, auch nicht eine Frage an die anglikanische oder orthodoxe Theologie, es ist zunächst eine Frage an die römische Kirche selbst. In einem neuen Zeit- und Problemhorizont stellen sich Aussagen, die in der Vergangenheit getroffen worden sind, auch in neuem Lichte dar. Die Zeitumstände der Entstehung von Dogmen vor allem die Frontstellungen, innerhalb derer sie formuliert, sind bei heutiger Beurteilung zu berücksichtigen.

Wie sich mir die römisch-katholische Dogmengeschichte darstellt, ist ein einmal definierter Lehrsatz nicht mehr hinterfragbar, auch nicht mit Gründen der Heiligen Schrift. Denn die Übereinstimmung mit dem Glauben der Kirche, wie er in Schrift und Tradition dargelegt ist, ist nach römisch-katholischem Verständnis die Voraussetzung der Dogmatisierung.

So bleiben drei Wege, über die definierten Dogmen hinaus zu kommen.

  • Der eine ist der Weg der Interpretation. Es könnte neu ausgelotet werden, was die definierten Dogmen festlegen wollten und was nicht.
     
  • Der andere Weg ist, zu erkunden, welchen Gebrauch die römische Kirche von den definierten Wahrheiten macht.
     
  • Der dritte Weg ist, zu erkunden, ob es dogmatische Festlegungen der römischen Kirche gibt, die nur diese binden, die auf die nichtrömischen Kirchen jedoch nicht angewendet werden.

Die grundsätzliche Frage, ob der Papst jure divino das Oberhaupt der Kirche sei, ist wohl für beide Seiten der entscheidende Punkt. Gerade diese Frage kann nicht offengelassen werden, weil daran die Lehrvollmacht und der Jurisdiktionsprimat des Papstes über die gesamte Kirche hängen. Mit dem Zugeständnis schonender Behandlung in Lehr- und Rechtsfragen ist uns evangelischen Kirchen nicht gedient.

Am entscheidenden Punkt bleibt es auch nach diesem Denkmodell bei strikt hierarchischen Macht- und Entscheidungsstrukturen. Eine grundsätzlich verpflichtende Einbindung der päpstlichen Vollmacht in kollegiale und synodale Strukturen ist nicht in Sicht, wenn dem Papst diese Vollmacht jure divino zukommt, und zwar ihm allein („ex sese“), nicht aber auf Grund der Zustimmung der Kirche .

Die von Rom zu beantwortende Frage ist, ob die römische Kirche, ihre eigene Amtsstruktur als verpflichtend betrachtend, zugleich anderen Kirchen die Freiheit zugestehen kann, andere Formen kirchlicher Struktur vorzuziehen. Die zwischen der Church of England und der Evangelischen Kirche in Deutschland in Meißen unterzeichnete Vereinbarung hat den historischen Episkopat der Anglikaner als Zeichen der Treue zur Apostolizität der Kirche, nicht aber als ausschließliche Garantie verstanden.

Das ermöglicht Kirchengemeinschaft zwischen bischöflich verfassten und synodal verfassten Kirchen. In diesem Kirchengemeinschaftsmodell steht die in Gottes Treue begründete Sukzession des Evangeliums über der Amtssukzession.

Schluss: Die Dynamik des Zukünftigen

Lassen Sie uns also, was ich als retardierende Momente bezeichnet habe, dazu nützen, das von Jesus Christus vorgegebene Ziel umso fester ins Auge zu fassen, und lassen Sie uns im Wissen darum, dass die Einheit nicht wirklich verhindert werden kann, auf dem Weg der Ökumene Schritt für Schritt weiter voranschreiten. Dieser Weg hat Gottes Verheißung! Es ist noch genug Glut in der Asche, und die Dynamik des Vorläufigen entfaltet in unseren Gemeinden schon jetzt eine Lebendigkeit, die sich segensreich auswirkt 

  •  in der Feier gemeinsamer Gottesdienste als Wort- oder Gebetsgottesdienste, als Jugendkreuzwege oder aus Anlass der Tauferinnerung;
     
  • in der gemeinsamen Gesellschaftsdiakonie etwa durch enge Kooperation von Diakonie und Caritas in den Bereichen von Hilfe, Beratung und Pflege oder in abgestimmten oder gemeinsamen sozialpolitischen Stellungnahmen ( wie den Gemeinsamen Worten zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, zur Alterssicherung, zum Schutz des Sonntags und der Feiertage usw.);
     
  • im gemeinsamen Eintreten für die Ethik des Lebensschutzes vor allem am Beginn und am Ende des Lebens;
     
  • im gemeinsamen Engagement für die Zukunft von Bildung und Erziehung in Familie, Schule und Gemeinde und der Dialog von Kunst und Kirche;
     
  • in der Mitwirkung an der Gestaltung des erweiterten Europa u.a. in der gemeinsamen anwaltschaftlichen Arbeit für Migranten und Asylsuchende, in der gemeinsamen Erarbeitung von Integrationsmodellen und im Gespräch mit den Religionen.

Noch findet der Geist immer wieder Menschen, die für die Einheit des Leibes Christi Leidenschaft entwickeln. Noch weht der Geist, der die versöhnte Verschiedenheit nicht nur in den jeweiligen Konfessionsfamilien schaffen, sondern Kirchengrenzen überschreiten will.

Wir spüren diesen Geist unter uns wirksam gerade auch im Blick auf den Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin. Was da an „neuem Wein“ an der Basis unruhig gärt und ungeduldig nach vorne drängt, sollte keine Kirchenleitung versuchen, „in alte Schläuche zu füllen“. Die Angst, dass etwas überschäumen könnte, wenn man den Druck von oben wegnimmt, teile ich nicht. Es ist die Frage gegenseitiger Fairness, wie man seitens der Bischöfe und Kirchenleitungen mit denen im Gespräch bleibt, die sich mit dem ökumenisch Erreichten nicht zufrieden geben. Allerdings sollten auch Institutionenkritiker ihre Bereitschaft zeigen, sich von wohlfeiler Pauschalpolemik zu lösen und auch unbequeme Sachargumente an sich heran zu lassen, dass sie aus derselben Liebe zur Kirche erwachsen, wenngleich verantwortliches kirchenleitendes Handeln dazu zwingt, auch noch andere Aspekte des ökumenischen Miteinanders zu berücksichtigen als die, die jeweils à jour sind.

Die Botschaft der Kirchen steht in ihrem Kern nicht einem Gegensatz zur Moderne. Das Freiheitsverständnis der säkularen Welt verdankt sich ganz wesentlich dem befreienden Evangelium von Jesus Christus. Auch wenn die Menschen das nicht mehr wissen, und gerade weil sie es vergessen haben, bleibt den Kirchen gar nichts anderes übrig, als gemeinsam darauf zu verweisen, aus welcher Wurzel uns Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zuwachsen. Der unsere Füße auf weites Land gestellt hat, der uns in der Taufe beim Namen gerufen und uns durch seinen Geist mit Gaben ausgestattet und in seinen Dienst stellt, der will die Bitte Jesu Christi erfüllen, dass alle eins seien - „auf dass die Welt glaube“. Den christlichen Kirchen bleibt in einer globalisierten Welt gar nichts anderes übrig, als dazu zu stehen, dass die Nachfolge Jesu eine globale Dimension hat.

Keine Kirche ist Selbstzweck. Sie hat den Auftrag, an der Begegnung Gottes mit den Menschen mitzuwirken, sie ist selber ja Teil dieses Aufbruchs Gottes zu den Menschen hin, den wir Mission nennen: Gott sendet seinen Sohn, seinen Geist, und er sendet Menschen, die darum wissen und daran glauben, dass er es ist, der sie unter die Leute schickt, manchmal wie Schafe unter die Wölfe, aber auch: klug, wie die Schlangen und doch aufrichtig, wie die Tauben.

Bis an das Ende der Welt sind alle Kirchen verpflichtet, dem einen Herrn gehorsam zu sein, und sein befreiendes Evangelium in überzeugender Weise auszurichten.

Wir sind auf diesem Weg.