Predigt im Gottesdienst der St. Pauls-Kirche in New York

Rolf Koppe

Es gilt das gesprochene Wort.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!
Wie ein stummer Schrei hängt an der St. Marienkirche in Berlin ein riesiges Plakat, auf dem in 25 Sprachen steht, was wir auch zwei Monate nach dem 11. September im tiefsten Herzen noch sind, nämlich "atterré", "wnje sebja", "senza parole", "bewildered" - auf deutsch "fassungslos".

Wir trauern mit um die Opfer aus über 60 Nationen, darunter, wie wir heute wissen, 11 Deutsche. Wir trauern mit allen Familien, ihren Freunden, ihren Kolleginnen und Kollegen. Wir fassen nicht, was geschehen ist. Zigtausende haben in Deutschland ihren Namen in Listen eingetragen und hierher geschickt, haben Worte und Gebete hinzugefügt. Ja, wir sind zutiefst verbunden mit den Menschen in dieser Stadt und in diesem Land. Viele haben sich solidarisch erklärt mit den Feuerwehrleuten, den Krankenschwestern und den freiwilligen Helfern. Viele haben hier Verwandte, Kinder ...

Diese Kirche hat ihre Türen weit aufgemacht für die, die fassungslos waren und es noch sind. Ich komme gerade von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem bayrischen Amberg und möchte den herzlichen Dank von Präses Jürgen Schmude und vom Ratsvorsitzenden Manfred Kock an alle Ehrenamtlichen, den Gemeindekirchenrat mit seinem Präsidenten Detlev Boldt und unserem Pastor Sönke Schmidt-Lange und seine Frau weitergeben. Dafür, dass die St. Paulsgemeinde seelische Erste Hilfe geleistet hat, dass sie nach Deutschland und von Deutschland Brücken geschlagen hat, und dafür, dass sie dem menschlichen Entsetzen Gottes Wort entgegengesetzt hat.

Es ist wohl kein Zufall, dass die heutige Losung der Herrnhuter Brüdergemeine, die aus dem 60. Kapitel des Jesajabuches genommen worden ist, heißt: "Ich will den Frieden zu deiner Obrigkeit machen und die Gerechtigkeit zu deiner Regierung". Sie erinnert an den Frieden, der höher ist als alle Vernunft, und an das Ziel Gottes mit uns Menschen. "Schalom", "Salaam", "Mir", "paix", "peace", "Frieden" - in allen Sprachen schwingt die Sehnsucht und die Verheißung auf eine Welt mit, in der das Gegenteil von Gewalt herrscht.

Aber noch leben wir nicht in Sicherheit. "Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker", sagt der Prophet und stellt den eigenen Schmerz, den Schmerz seines Volkes, an die Seite anderer Völker. Und er setzt dagegen: "Man soll nicht mehr von Frevel hören in deinem Lande noch von Schaden oder Verderben in deinen Grenzen, sondern deine Mauern sollen "Heil" und deine Tore "Lob" heißen". Das ist der Wille Gottes: sein Friede und seine Gerechtigkeit sollen regieren; das Volk Israel, alle Völker; Jerusalem, alle Städte. Der zweite Jesaja, wie er genannt wird, verkündet universales Heil. Es wäre ein völliges Missverständnis, liebe Gemeinde, diese Vision mit Gewalt zu verwirklichen. Wir bitten darum, wie Jesus uns im Vaterunser gelehrt hat: "Dein Reich komme" und "erlöse uns von dem Bösen" und propagieren nicht wie Sektierer: "Unser Reich komme" oder "wir erlösen euch von dem Bösen". Gottes Herrschaft ist Liebe, innerer Friede und Gerechtigkeit aus Gnade. Schon jetzt, aber noch in der Erwartung auf sein Kommen.

Es gibt, liebe Gemeinde, zwischen Deutschen und Amerikanern bei allen Gemeinsamkeiten einen großen Unterschied: wir Deutschen tun uns schwer, öffentlich zu beten. Die in New York und in Berlin lebende Schriftstellerin Irene Drische hat das in folgender Szene deutlich gemacht: Als es hieß: "alle Amerikaner beten heute Nacht für euch", habe sie einen Freund angerufen und ihn gefragt, ob sie noch Amerikanerin bleiben dürfe, wenn sie nicht bete. Er habe darauf geantwortet: "Ich verstehe dich nicht. Ich bete gerade".

In diesen Wochen der extremen Schwankungen zwischen Ohnmacht und Macht beten wir zu Gott, dass wir größere Klarheit darüber bekommen, was zu tun und zu lassen ist. Wir denken mit allen, die politische Verantwortung tragen, darüber nach, wie Schuldige zu bestrafen und Unschuldige zu schützen sind. Wir fragen auch kritisch, ob militärische Mittel für das Erreichen der angestrebten Ziele taugen, nämlich verbrecherische Täter dingfest zu machen und islamisch geprägten Ländern zu vermitteln, dass es um die Bekämpfung des Terrorismus und nicht um einen Angriff auf den Islam geht.

Als wir am 4. Februar diesen Jahres vor dem Brandenburger Tor in Berlin im Kreis von 150 Vertretern der Kirchen aus aller Welt die ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt starteten, haben wir nicht geahnt, wie existentiell dieses Ziel ein halbes Jahr später werden würde. Wir fragen heute, wie Geist, Logik und Praxis von Gewalt überwunden werden kann angesichts der Anonymität von Terroristen. Wir haben uns gegenseitig verpflichtet, kreative Ansätze zur Friedenstiftung aus der christlichen Tradition, von weltlichen Bewegungen und anderen Religionen ins Spiel zu bringen. Wir wissen, dass Regierungen handeln müssen, national und international, dass die Vereinten Nationen zu stärken sind und dass das gute nachbarschaftliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen kein Lippenbekenntnis bleiben darf.

Es ist wohl kein Zufall, wenn der Lehrtext der Herrnhuter Brüdergemeine für den heuten Sonntag aus dem 1. Timotheusbrief im 2. Kapitel entnommen ist, in dem der Apostel Paulus schreibt: "Ich ermahne nun, dass man vor allen Dinge tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit".

Wir bleiben nicht stumm und beten: Gott, lieber himmlischer Vater! Wir bitten dich, dass unsere Welt bekommt, was sie braucht: Frieden auf der Erde; Gerechtigkeit für die Verfolgten, die Bedrohten, die Vergessenen; Trost für die Hinterbliebenen, für Kranke und Sterbende; Kraft für die Verzagten; Humor für die Verbitterten; Klarheit für die Denkenden; Mut und Nüchternheit für die Handelnden; Zeit für die Liebenden: deinen Frieden auf Erden. Amen.

Dr. h.c. Rolf Koppe
Bischof für Ökumene und Auslandsarbeit im Kirchenamt der EKD, Hannover