Predigt beim Ökumenischen Pilgergottesdienst in Volkenroda anlässlich des Internationalen Jugendfestivals, 10.-15.8.2005

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Schwestern und Brüder, hier in Deutschland erinnern wir uns am heutigen Tag daran, dass genau vor 44 Jahren, am 13. August 1961, in Berlin die Mauer gebaut wurde, die für Jahrzehnte Ost und West in unserem Land ehern voneinander trennte. Und wir danken Gott dafür, dass diese Trennung im Jahr 1989 überwunden wurde. An vielen Orten der Welt erinnern sich aber Christen auch daran, dass heute vor genau 278 Jahren, am 13. August 1727, die Einwohner des kleinen sächsischen Ortes Herrnhut durch den Geist Gottes zur „Brüdergemeine“ zusammengeschlossen wurden. Sie bekräftigten das durch die erste gemeinsame Feier des Heiligen Abendmahls.

Der Herrnhuter Brüdergemeine verdanken wir seitdem Jahr für Jahr die Auswahl der biblischen Losungsworte, die jedem einzelnen Tag zugeordnet sind. Es sind Worte, die vielen Menschen rund um den Globus Halt und Orientierung geben. Mich rührt es oft tief an, wenn ich mir am Morgen deutlich mache, dass zugleich mit mir viele andere Menschen in der ganzen Welt den Tag unter dasselbe biblische Leitwort stellen. So wollen wir es auch heute miteinander tun.

Das biblische Wort für den heutigen Tag führt uns in die Tiefe der Geschichte Gottes mit uns Menschen hinein und lässt uns Gottes Größe und Nähe spüren. Es heißt: „Ich erzähle dir meine Wege, und du erhörst mich; lehre mich deine Gebote.“ (Psalm 119,26). Dieser Satz will in kleinen Schritten umgangen, bestaunt, gehört werden: „Ich erzähle“ – „Du erhörst“ – „Lehre mich“.

I. „Ich erzähle dir meine Wege“

Wie viele Wege Menschen gehen! In jeder Minute. In nahezu jedem Winkel der Welt.

Wie viele Schritte haben uns jetzt hier in Volkenroda zusammengeführt. Planungs- und Entscheidungsschritte im Vorfeld der Teilnahme an diesem Jugendfestival. Schritte auf dem ökumenischen Pilgerweg, dem alten Zisterzienserweg von Loccum nach Volkenroda, der am 6. April eröffnet wurde, oder andere Reiseschritte, um hierher zu gelangen.

Wie viele Lebenswege sich an diesem Ort heute und in der nächsten Woche während des Weltjugendtages kreuzen. Schritte eines Lebens. Lebensgeschichten.

„Ich erzähle dir, Gott, meine Wege.“ Wie gut das tut, die eigenen Schritte, den eigenen Lebensweg, die eigene Lebensgeschichte erzählen zu können! Wer seine Lebensgeschichte erzählen kann, vermag wundersame Fügungen, Spuren von Gottes Handeln zu entdecken. Dankbarkeit wächst in uns, weil wir erzählen können. Wenn Menschen nicht mehr erzählen können, werden sie arm. Ältere können nicht erzählen, wenn sie keine Enkel haben, die zuhören. Kinder können nicht erzählen, wenn sie keine Eltern haben, die ihnen zuhören. Jugendliche brauchen Gleichaltrige, um sich mit ihnen auszutauschen. Wer erzählt, baut an seiner eigenen Identität. Wer erzählt, spinnt den Faden seines Glaubens fort.

Zur Lebensgeschichte in Deutschland gehört die Erfahrung, dass vor 44 Jahren durch den Bau der Berliner Mauer von einem Tag auf den andern die Wege zueinander versperrt wurden. Damit verstummte auch das Erzählen. Aber zu unserer Geschichte gehört ebenso das Wunder, dass diese versperrten Wege sich wieder öffneten. Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass dieses Wunder von 1989 in der Kleinlichkeit unserer öffentlichen Debatten vergessen und verdrängt wird. Dabei kann es nicht bleiben.

II. „Du erhörst mich“

Im Zentrum unseres Glaubens steht die Gewissheit, dass Gott hört. Wir halten uns an Gott, weil wir ihm erzählen können. „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.“ So sagt es der Psalmist (Psalm 50,15). „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet, Gott, bei dir.“ So hat es Augustin in seinen Confessiones, seinen Bekenntnissen geschrieben, die nichts anderes sind, als ein einzigartiges Lebenszeugnis über die Gewissheit, dass Gott hört. Er hört auch stille Gebete oder geschriebene Worte. „Denn Gott ist Zeuge seiner heimlichsten Gedanken und erkennt in Wahrheit sein Herz und hört seine Wort“. So sagt es die Weisheit (Weisheit 1,6). Genauso hört er den lauten Jubel und das fröhliche Singen. Gott hört die Geschichten unseres Lebens. Er nimmt sie in sich auf. Er trägt sie. Bei ihm sind sie gut aufgehoben.

Michael Ende hat ein wunderbares Kinderbuch geschrieben, das eigentlich für Erwachsene bestimmt ist.  Momo, ein kleines Mädchen, bringt seine Spielkameraden auf neue Ideen, versöhnt die Streithähne, lässt Gesprächspartner Ihr Eigenstes wieder entdecken – indem es nichts weiter tut als zuzuhören. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Telefonseelsorge hören nach einem Gespräch oft aus tiefstem Herzen nur dies: „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.“ Christen sind füreinander Zuhörer, weil wir in Gott einen so guten Zuhörer haben.

III. „Lehre mich deine Gebote“

Gebote – darunter verstehen wir oft starre Regeln, die unsere Lebensgeschichte einzwängen und an der Entfaltung hindern. Manchmal schon haben wir Gebote als  verbiegendes oder autoritäres Gegenüber erlebt. Wo Gott nicht hört, was wir sagen wollen, sondern wo Gott spricht, was wir nicht hören mögen. Doch Gottes Gebot ist die Verheißung der Freiheit. Sie öffnet der eigenen Lebensgeschichte ungeahnte Perspektiven. Die zehn Gebote hat Gott dem Volk Israel auf dem Weg in die Freiheit des verheißenen Landes offenbart. Ein Volk war gefangen und geknechtet, es war verstrickt in Not und Abhängigkeit. Aber Gott hat es daraus befreit.

Gottes Gebot trennt nicht, sondern vereint. Es hilft uns, dass wir Gott bei uns und in uns sein lassen. Gottes Gebot ist die Verheißung einer freimachenden und verheißungsvollen Gemeinschaft untereinander. Als das höchste Gebot bezeichnet Jesus deshalb des Doppelgebot der Liebe: der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten wie zu uns selbst.

„Ich erzähle dir meine Wege, und du erhörst mich; lehre mich deine Gebote.“ Wir kommen zusammen und wir gehen auseinander. Gott bleibt. Er bleibt unser Zuhörer. Er bleibt unsere Mitte. Sein Gebot weist uns den Weg in die Freiheit.

Amen.