Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung

Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017

10. Die Kirchen als Orte demokratischer Beteiligung

So sehr die politische Kultur durch sie tragende religiöse, gerade auch christliche Überzeugungen gestärkt wird, so sehr sind die Vertreterinnen und Vertreter dieser Überzeugungen aufgerufen, für deren freie Anerkennung zu werben, sie argumentativ zu vertreten und nicht als unhinterfragbar zu dekretieren. Für uns als Kirchen bedeutet das zum einen, im Anerkennen und Aneignen der Demokratie deren enge Verbindung mit den Werten des Christentums selbstbewusst zu vertreten. Zugleich aber müssen wir deutlich machen, dass die Überzeugungen, die die freiheitliche Demokratie stützen, für eine Ordnung einstehen, die auch die Freiheit anderer Religionen, Weltanschauungen und Überzeugungen garantiert.

Als Kirchen können wir nur dann als politische Akteure für die Stärkung des demokratischen Gemeinwesens ernst genommen werden, wenn wir berücksichtigen, dass auch in unserer Mitte die Ängste vor dem Wandel und die Versuchung zur Abgrenzung anzutreffen sind. Die evangelische Kirche mit ihren knapp 23 Mio. Mitgliedern ist ein Spiegel der pluralistischen Gesellschaft. Den klaren Positionierungen der kirchenleitenden Personen und Gremien, dem außerordentlichen Engagement vieler Gemeinden, der Diakonie und der Werke und Verbände für die Aufnahme geflüchteter Menschen steht bei einem beachtlichen Teil der Kirchenmitglieder Skepsis hinsichtlich der wachsenden Vielfalt und des sozialen Wandels gegenüber. Unbeschadet des klaren und richtigen Eintretens für die Rechte von Minderheiten und Geflüchteten müssen wir wahrnehmen, dass die Sorge angesichts des Wandels und der Herausforderungen, die eine pluraler werdende Gesellschaft und gerade auch die technologisch-ökonomischen Veränderungen mit sich bringen, bis in die Leitungsebenen der evangelischen Kirchen hineinreicht.

Das Evangelium von Jesus Christus als Grund der Kirche verkündigt die in Gottes Sohn geschenkte Versöhnung des Menschen mit Gott. Jeder einzelne Mensch ist ein mit unverlierbarer Würde begabtes Geschöpf Gottes, dem gerade in seiner Einmaligkeit und Unterschiedenheit von anderen Respekt gebührt. Das Evangelium ruft Menschen auf den Weg des Glaubens, des Friedens und der Versöhnung. Dieser Grund der Kirche soll auch ihre tatsächliche Gestalt und ihre Praxis prägen. Die Kirchen selbst sollen Orte sein, an denen Menschen diese Anerkennung und diesen Frieden erfahren und dann selbst dafür eintreten.

Diese Botschaft des Evangeliums ist eminent politisch. Der erste und vornehmste Ort dieser politischen Praxis der Kirchen ist das Miteinander sehr unterschiedlicher Menschen in den Gemeinden, Gemeinschaften und Werken. Die Kirchen mit ihrer tiefen und breiten sozialen Verankerung sollen und wollen damit Foren sein, auf denen Konflikte ausgetragen werden, Ängste gehört und bearbeitet, Gespräche geführt und Menschen einbezogen werden: Sie sind Orte demokratischer Beteiligung. Als Kirchen sind wir mitverantwortlich für die politische Kultur unseres Landes und für die Gestaltung unseres Gemeinwesens. Dazu gehört auch die selbstkritische Frage, ob nicht manche in politischen Diskursen vertretene moralische Überzeugung als eine Stigmatisierung anderer Positionen verstanden werden kann und damit den Abbruch der demokratischen Auseinandersetzung mit sich bringt, anstatt die Demokratie zu stärken – und zwar innerhalb der Kirchen ebenso wie innerhalb der Gesellschaft.

Ängste wahrnehmen, Gespräche führen, Konflikte austragen: Die Kirchen sollen und wollen, geprägt durch das Evangelium des Friedens und der Versöhnung, Orte der demokratischen Beteiligung sein.

Die moralischen Dimensionen von politischen Streitfragen dürfen in den Argumentationen nicht ignoriert werden. Sie anzusprechen ist legitim. Allerdings müssen wir angesichts der beschriebenen Herausforderungen der Demokratie darauf achten, dass eine auf moralischen Überzeugungen beruhende Argumentation die liberale rechtsstaatliche Ordnung stützt und sie nicht schwächt. So sehr das Recht nicht ohne ein moralisches Fundament denkbar ist, so sehr dürfen auch die Grenzen zwischen Recht und Moral nicht verwischt werden. Hinter dem Recht müssen sich auch die versammeln können, die nicht dieselben Überzeugungen teilen. Zugleich kann sich das Recht nicht nur auf Verfahren der politischen Legitimation allein stützen. Vielmehr zeugen diese Verfahren selbst schon von den moralischen Grundlagen, die der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung eingeschrieben sind. Umgekehrt gilt aber auch: Moralische wie politische Überzeugungen sind zu ihrer Durchsetzung auf das Recht angewiesen. Diese Spannungsverhältnisse sind immer wieder neu zu justieren und an der Debatte darüber möchten wir verantwortungsbewusst teilnehmen.

Dies vor Augen, sollen die evangelischen Kirchen Orte der Suche nach Kompromissen sein – indem wir die Auseinandersetzung mit allen suchen, die sich selbst auf eine demokratisch-rechtsstaatliche Kontroverse verpflichten lassen. Dies tun wir im Wissen, dass es bleibende Konflikte geben wird, wir aber gerade deswegen Wege finden müssen, um diese Konflikte aushalten zu können. Das bedeutet: Gerade weil wir die Rechte von geflüchteten und zugewanderten Menschen achten und einfordern, wollen wir die Sorgen der Menschen hören und würdigen, die sich im politischen Leben unseres Landes nicht vertreten fühlen. Wir fordern alle Seiten auf, sich am demokratischen Wettstreit um die richtige Politik zumindest durch die Ausübung des Wahlrechts zu beteiligen und nicht in der Passivität zu verharren – gerade auch in den Fragen von Flucht, Asyl und Migration. Ebenso möchten wir auch diejenigen, die geflüchtet und neu in unserem Land angekommen sind, ermutigen und auffordern, sich aktiv am demokratischen Wettstreit und politischen Prozess zu beteiligen. Das schließt den Appell mit ein, die Sprache der politischen Debatte zu lernen und sich angemessen zu informieren. Dabei wissen wir uns solidarisch mit jenen Politikerinnen und Politikern unseres Landes, die in der politischen Auseinandersetzung die Demokratie stärken wollen, damit das Zusammenleben in Freiheit, Sicherheit und Vielfalt gelingen kann.

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