Europa nicht nur ökonomisch sehen

Huber weist auf kulturelle Grundlagen und religiöse Prägekraft hin

Der Bischof der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich für einen weniger ökonomisch fixierten Blick auf die Veränderungen in der Europäischen Union ausgesprochen.

Im Rundfunk (88acht) sagte Wolfgang Huber, der auch Ratsvorsitzender der EKD ist, am 24. April 2004, dass ihm die Sorgen, „die sich mit dem Datum des 1. Mai verbinden“ sehr deutlich vor Augen stünden. „Sie sind in Wahrheit nicht neu. Das Lohngefälle zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn kann einen Sog auslösen. Je mehr Arbeit nach Osten verlagert wird, desto größer“ sei die Sorge, die sich mit der Osterweiterung der Europäischen Union verbindet.

Die „Sorgen der Menschen, die ihren Arbeitsplatz morgen in Gefahr sehen, kann ich verstehen. Es ist für sie kein Trost, wenn gesagt wird, in zehn Jahren werde sich das ausgleichen. Denn sie hoffen auf Arbeit für die nächsten zehn Jahre, nicht danach. Ich glaube, auch politisch würde Vertrauen aufgebaut, wenn man spüren würde: Solche Sorgen werden gehört; und vor allem: Sie werden ernst genommen.“

Darüber hinaus rät Wolfgang Huber eindringlich, die Aufnahme von zehn osteuropäischen Ländern in die Europäische Union „nicht nur wirtschaftlich zu betrachten“. Bischof Huber erinnert an seine eigene Lebensgeschichte: Als Kind und als Jugendlicher hatte er einen vergleichbaren Prozess an einer anderen Grenze Deutschlands erlebt. „Mich verschlug das Schicksal der Kriegs- und Nachkriegszeit an die westliche Grenze Deutschlands, in die Nähe Frankreichs, des Erzfeinds – wie man noch wenige Jahrzehnte vorher gesagt hatte. Ich erinnere mich an Menschen, die Konflikt und Feindschaft noch so lebendig in Erinnerung hatten, dass sie mir rieten, doch besser nicht die französische Grenze zu übertreten. Ich könne sonst unmittelbar zum Militärdienst eingezogen werden; denn ich sei doch – während des Zweiten Weltkriegs – auf inzwischen wieder französischem Territorium geboren. Ich habe mich von solchen Warnungen nicht abhalten lassen. Und ich habe erlebt, wie die deutsch-französische Freundschaft sich entwickelte. Intensive Jugendaustauschprogramme spielten dabei eine Schlüsselrolle. Inzwischen hält jeder die deutsch-französische Freundschaft für stabil. Diese Erfahrung auf die neuen Mitglieder der EU zu übertragen, ist wichtig und richtig.“

Hubers Rat ist, „an Europa nicht nur die Wirtschaft interessant zu finden, sondern auch die kulturellen Grundlagen, die Prägekraft der Religion, die Institutionen politischer Verantwortung. Wenn wir zusammenwachsen, schwindet die Angst. Das gilt nach West und Ost.“

Hannover/Berlin, 23. April 2004

Pressestelle der EKD
Christof Vetter


Nachfolgend der Wortlaut des Bischofswortes:

Bischofswort für den 24. April 2994 / RBB 88,8

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer!

Heute in einer Woche werde ich um Mitternacht in Frankfurt an der Oder auf der Brücke nach Stubice stehen und miterleben, wie Deutschland und Polen näher zusammenrücken.

Die Sorgen kenne ich schon – oder ich ahne sie doch – , die sich mit dem Datum des 1. Mai verbinden. Sie sind in Wahrheit nicht neu. Das Lohngefälle zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn kann einen Sog auslösen. Je mehr Arbeit nach Osten verlagert wird, desto größer ist die Sorge um über die Hoffnung, die sich mit der Osterweiterung der Europäischen Union verbindet. Diese Hoffnung besagt, dass in dem größer werdenden Europa ein größerer Binnenmarkt entsteht, Eine Stärkung der Kaufkraft wird schließlich allen zu Gute kommen. Und die Löhne werden sich angleichen, zwar nicht sofort, aber doch bald.

Das mag so sein. Und es wird mich freuen, wenn es so kommt. Aber die Sorgen der Menschen, die ihren Arbeitsplatz morgen in Gefahr sehen, kann ich verstehen. Es ist für sie kein Trost, wenn gesagt wird, in zehn Jahren werde sich das ausgleichen. Denn sie hoffen auf Arbeit für die nächsten zehn Jahre, nicht danach. Ich glaube, auch politisch würde Vertrauen aufgebaut, wenn man spüren würde: Solche Sorgen werden gehört; und vor allem: Sie werden ernst genommen.

Doch darüber hinaus rate ich dazu, die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur wirtschaftlich zu betrachten. Vielleicht kommt meine persönliche Lebensgeschichte einer anderen Betrachtungsweise zu Gute.

Ich habe als Kind und als Jugendlicher einen vergleichbaren Prozess an einer ganz anderen Grenze Deutschlands erlebt. Mich verschlug das Schicksal der Kriegs- und Nachkriegszeit an die westliche Grenze Deutschlands, in die Nähe Frankreichs, des Erzfeinds – wie man noch wenige Jahrzehnte vorher gesagt hatte. Ich erinnere mich an Menschen, die Konflikt und Feindschaft noch so lebendig in Erinnerung hatten, dass sie mir rieten, doch besser nicht die französische Grenze zu übertreten. Ich könne sonst unmittelbar zum Militärdienst eingezogen werden; denn ich sei doch  - während des Zweiten Weltkriegs – auf inzwischen wieder französischem Territorium geboren.

Ich habe mich von solchen Warnungen nicht abhalten lassen. Und ich habe erlebt, wie die deutsch-französische Freundschaft sich entwickelte. Intensive Jugendaustauschprogramme spielten dabei eine Schlüsselrolle. Inzwischen hält jeder die deutsch-französische Freundschaft für stabil. Diese Erfahrung auf die neuen Mitglieder der EU zu übertragen, ist wichtig und richtig.

Mein Rat ist, an Europa nicht nur die Wirtschaft interessant zu finden, sondern auch die kulturellen Grundlagen, die Prägekraft der Religion, die Institutionen politischer Verantwortung. Wenn wir zusammenwachsen, schwindet die Angst. Das gilt nach West und Ost.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag. Bleiben Sie behütet!