Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn…

Bibelarbeit auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin (Gen 32, 23-33)

Wir beginnen nun diesen Tag und diese Bibelarbeit:
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Wir haben heute eine interessante, aber komplizierte, ja, in  Teilen geradezu komplizenhafte Beziehungsgeschichte miteinander zu besprechen.

Wie aber organisieren wir Menschen Beziehungen? Durch Sprache! Und wie strukturieren wir unsere Sprache und unsere Gespräche, ja unser ganzes Verstehen? Nicht zuletzt durch die Grammatik! Und so können wir sagen: Wir halten heute morgen eine Grammatikstunde. Und nun werden Sie schon entsetzt zusammenfahren sein. Ausgerechnet Grammatik am frühen Morgen! Das war doch immer sooo langweilig – und trocken. Weit gefehlt. Heute morgen wird es weder langweilig noch trocken. Sondern wir werden sehen: Grammatik, jedenfalls theologische Grammatik ist genauso spannend wie jede Beziehungskiste.

Aber wenn man die Grammatik der Beziehungen nicht beherrscht und dauernd irgendetwas verwechselt, dann kann die Sache ganz schön schief gehen. Gut, wenn der Berliner sagt: „Ick haje mir janz köstlich amüsiert!“ oder: „Kannst de mich ma’n Stück von deene Stulle jeben“, dann können wir diese Verwechslung von mir und mich gerade noch aus eigener Kraft gedanklich zurecht rücken. Aber schon  bei einer Verwechslung von mein und dein wird es ernster, denn da greift der Staatsanwalt ein. Und erst bei einer Verwechslung von Gott und Mensch!

Aber welche Verwirrungen im Verhältnis zwischen Gott und den Menschen werden wir heute morgen erfahren, Verwirrungen jedenfalls unseres ersten Blickes auf diese Beziehung! Immer wieder werden wir auf eine Umwertung unserer Werte gestoßen.

Aber was nun die Grammatik im engeren Sinne betrifft: Wir werden uns heute – so viel sei hier schon verraten - näher mit der Bedeutung zweier Hilfszeitwörter beschäftigen – mit den Hilfsverben haben und sein. Zum Beispiel: Ihr sollt ein Segen sein! Manchmal sieht man erst aus dem Vergleich mit einer fremden Sprache, wie gravierend solche Unterschiede zwischen den Hilfszeitworten sein können. (Hier, beim Segen, haben wir das Hilfszeitwort sein verwendet!) Wer also von Ihnen jemals Französisch lernen musste, der weiß, wie schwierig es ist, sich einzuprägen, ob nun ein Tun-Wort entweder mit dem Hilfszeitwort haben (also mit avoir) konjugiert wird oder mit dem Hilfsverb sein (also mit être). Ich mache darin bis heute meine Fehler – im Französischen. Aber in Glaubensfragen (und in Segensfragen) wollen wir es spätestens nach unserer morgendlichen Grammatikstunde alle richtig machen. Uns deswegen studieren wir heute die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabock. Zunächst hören wir sie nach Luthers Übersetzung des Kapitels 32 aus dem Buch Genesis, in den Versen 23- 33:

LUT Genesis 32:23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, 24 nahm sie und führte sie über das Wasser, so daß hinüberkam, was er hatte, 25 und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26 Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28 Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen,* und doch wurde mein Leben gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. 33 Daher essen die Israeliten nicht das Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte bis auf den heutigen Tag, weil er auf den Muskel am Gelenk der Hüfte Jakobs geschlagen hatte.

Bevor uns in die Geschichte ganz vertiefen, kehren wir an ihren Anfangspunkt, an ihren Anfangszeitpunkt zurück – denn die Geschichte dieser Durchwanderung und Verwandlung beginnt in tiefer Finsternis: Und Jakob stand auf in der Nacht...
Und am Ende heißt es: Da ging ihm die Sonne auf.
Und so singen wir nun das Lied Nr. 8: Abend ward, bald kommt die Nacht...
Und zwar so, dass wir am Anfang ganz leise, fast nur summend singend – und dann von Strophe zu Strophe immer etwas deutlicher und lauter, eben so, wie uns die Sonne aufgeht.

Jakob befindet sich also auf einer Reise und muss mit seinem Gefolge einen Fluss überschreiten. Das war aber keine gewöhnliche und schon gar keine gemütliche Reise gewesen – im Gegenteil. Denn Jakob wollte und sollte nach vielen Jahren der Flucht und Wanderschaft seinem Bruder Esau wieder begegnen, den er vormals grob betrogen (oder wie man hier in Berlin etwas drastischer sagen würde: regelrecht beschissen) hatte – und zwar um sein Erstgeburtsrecht. Und nicht nur das: Er hatte ihn auch um den väterlichen, ja erz-väterlichen Segen betrogen. (Da war schon mein und dein ganz gewaltig durcheinander gebracht worden!) Und nicht nur das: Die Geschichte der Geburt der beiden Zwillingsbrüder berichtet uns  bereits davon, dass der etwas später geborene Jakob seinen vorausschlüpfenden Bruder Esau an der Ferse festhielt, als wolle er schon im Mutterleib sich den Vorantritt eben noch sichern.

Jakob hatte also in seiner Laufbahn schon einiges getan, um sich seinen Namen Jakob redlich (oder sagen wir besser: unredlich, aber gerecht) zu verdienen. Jakob – das heißt: der Hinterlistige. (Nur in Jurek Beckers Roman „Jakob, der Lügner“ soll des Jakobs Schwindel den Mitmenschen im Ghetto zum Segen gereichen, für eine Weile der Hoffnung, und sei es der erschwindelten Hoffnung). Nachdem aber Esau den Schwindel am Sterbebett des Erzvaters Isaak entdeckt und den Betrug aller seiner berechtigten Hoffnungen, stößt er hervor: „Er heißt mit Recht Jakob, denn er hat mich nun zweimal überlistet. Meine Erstgeburt hat er genommen, und siehe, nun nimmt er auch meinen Segen.“

Wenn wir uns in Gemeinde und Kirche zunächst als Brüder, dann auch als Schwestern (und heute neu-inklusiv als Geschwister) anreden, dann verfolge ich das neben aller Zustimmung auch stets mit einem ironischen (um nicht gar zu sagen: hinterlistigen) Lächeln. Die Beziehungen zwischen Brüdern sind nämlich keineswegs immer unproblematisch. Karl Kraus hat ja einmal zu recht bemerkt, dem Wort „Familienbande“ sei ein gewisser Wahrheitsgehalt nicht abzusprechen. Schon die erste uns bekannte biblische Brüdergeschichte endet tödlich, ja mörderisch – die nämlich zwischen Kain und Abel. Und im Grunde ging es auch in dieser ersten Brudergeschichte um die selbe Eifersucht, um den eifersüchtig gesuchten Vorrang beim Empfang des Segens. Abels Opferrauch schien bei Gott größeren Gefallen zu finden –und schon war er erschlagen, von seinem Bruder.

Nun, ganz so mörderisch ging es zwischen Jakob und Esau nicht zu, aber Jakob hatte doch vor seiner Wieder-Begegnung mit seinem hereingelegten Bruder riesige Furcht.. Er lässt sein Hab und Gut (und sein Personal) sogar kurz vorher in zwei Lager teilen, damit ihm für den Fall, dass der seinerseits ebenfalls heranrückende Esau ihn an der einen Stelle vernichtend schlagen sollte – damit ihm also in jedem Falle die Hälfte seiner Habe erhalten bleibe.(Und selbst das wäre dann immer noch eine Menge gewesen.)

Aber bevor wir den Fortgang der Geschichte weiter verfolgen, riskieren wir noch schnell einen Seitenblick von der Brüderbeziehung zu der Beziehung zwischen Müttern und Söhnen. Denn zu seiner vermaledeiten Erbschleicherei wurde Jakob ja von seiner Mutter angestiftet; außerdem leistete die Frau Mama auch noch kräftig Beihilfe beim Erb- und Segensbetrug – zu Lasten ihres Erstgeborenen und im übrigen ja auch unter Täuschung ihres Herrn Gemahls, dessen Sterbensschwäche ausnutzend.

Merkwürdig, neben allen schönen Frauengeschichten finden wir in der Bibel auch Damen der heiligen Gesellschaft, die der feministischen Theologie heftig zu denken geben müssten. Erinnern wir uns doch nur der beiden Söhne Zebedäi. Sie verlangen – nach Markus – von Jesus einen besonderen Segen vor allen anderen: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.“ Man wagt sich gar auszudenken, was geschehen wäre, wenn Jesus sich auf dieses Verlangen nach einem segensreichen Optionsschein auf einen Sitz in der himmlischen Herrlichkeit auch nur andeutungsweise eingelassen hätte –  und wie dann der Streit darum gegangen wäre, wer von den beiden rechts, wer aber nur links zu sitzen gekommen wäre, sozusagen wie bei Kain und Abel. Es ist ja das Merkwürdige an unserem menschlichen Begehren: Selbst wenn man mit anderen es schon viel weiter gebracht hat als alle übrigen, dann geht die Eifersüchtelei um den nächsten kleinen Unterschied los zwischen den bereits überaus Privilegierten.

Nun aber Matthäus! Der lässt die unziemliche Bitte um einen Sondersegen und einen reservierten Platz an Jesu himmlischer Seite von der Mutter der beeden Söhne Zebedäi vortragen: „Lass diese meine beiden Söhne sitzen in deinem Reich einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.“ Aber immerhin – anders als die Mutter von Jakob und Esau tritt sie für die Gleichbehandlung der Brüder ein – und handelt nur zu Lasten der übrigen Jünger.

Aber nun die Mütter: Werden sie uns so dargestellt aus menschlich-männlichem, also: objektivem Realismus – oder wollen die männlichen Autoren und Redaktoren des Genesis-Textes den moralischen Tadel von Jakob, dem Durchgangserben des Abraham-Segens, ebenso ein Stück weit ablenken wie Matthäus von den zwei Jüngern? Weil: So etwas macht ein richtiger Heiliger nicht, solche heiligmäßig wichtigen Mannsbilder drängen sich nicht einfach vor, jedenfalls nicht ohne Anstiftung durch Personen, die ja als Frauen damals rein juristisch nicht so richtig satisfaktionsfähig und strafmündig waren? Interessante Fragen nach dem Bild von den Frauen!

Aber nun zurück zu dem Vorabend der Wiederbegegnung zwischen Jakob und Esau. Jakob hat also mächtig Angst vor seinem Bruder – wie sich später herausstellen wird: ohne Grund. Doch nun beginnt eine ebenso mächtige Verkehrung der Verhältnisse. Die Gefahr, mit der Jakob als sicher rechnet, wird demnächst gerade nicht eintreten. Aber dort, wo er sich so sicher fühlt, dass er am hiesigen Furtufer alleine zurückbleibt, nachdem er seine beiden Frauen, die beiden Mägde und seine elf Söhne und alles, was er sonst noch dabei hatte, längst auf die anderen Seite übergesetzt hatte – also: an diesem Ort gewissermaßen naiver Sicherheit gerät er in einen gefahrvollen Ringkampf, der sich über lange Stunden hinzieht – von der Nacht an bis zum  Anbruch der Morgenröte...

Und schon wieder werden die Beziehungen auf den Kopf gestellt. Wir erfahren, dass jener zunächst anonyme Kämpfer zwar mächtig lange mit Jakob ringt, dass er ihn aber dann doch nicht überwältigt – dass er im Gegenteil am Ende bei anbrechender Morgenröte sich – quasi  beim Stand eines ins Schachmatt abkippenden Remis –  eigentlich auf und davon machen will (als handle es sich um einen Geist der Nacht, einen Engel der Finsternis – oder um den Überrest einer viel älteren, vorjüdischen Geschichte). Ja, Jakob, der sich zuvor in bezeichnender, namensgebender Weise mancher Hinterlist bedient hatte, wird sozusagen noch gefoult, bekommt also einen offenbar regelwidrigen Schlag auf die Hüfte verpasst, gewissermaßen auf den Ischiasnerv – so dass er nun hinkt, als Gezeichneter.

Aber nun setzt ein merkwürdiges Gespräch ein:

Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Er, jener Anonymus, will sich von wegen der Morgenröte davon machen – er, der Verlierer. Aber Jakob, der angezählte Sieger, ahnt doch irgendwie, dass dies jemand gewesen sein muss, der ihm einen Segen zusprechen könnte – obwohl doch eher alles dagegen spricht. Weshalb soll jemand einen wertvollen Segen verleihen können, der es nötig hat, sich bei anbrechendem Morgenlicht auf und davon zu machen?

(Übrigens: Weil in unserer Geschichte gerade der Morgen anbricht – lassen Sie uns das Lied Nr. 18 aus dem Kirchentagsliederheft singen: Dich rühmt der Morgen!)

Weshalb soll also jemand einen wertvollen Segen verleihen können, der es nötig hat, sich bei anbrechendem Morgenlicht auf und davon zu machen? Denn Gott ist doch bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Vor allem: Weshalb bittet sich Jakob ausgerechnet einen Segen von jemandem aus, der ihm gerade eben nicht nur unterlegen war, sondern der auch noch zu dem Trick mit dem Hüftschlag gegriffen hatte? Irgendetwas ahnt da unserer Hinterlistiger, der sich ja mit Tricks auskennt.

Aber zuvor findet noch eine weitere Umwertung aller Werte statt.

28 Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob.

Das ist mir an sich eine merkwürdige Unterhaltung. Wenn ich mit jemandem zu tun bekomme, der mit mir ringt, der sich dann davon machen will, dann frage ich den doch erst einmal, wer er ist, wie er heißt – und frühestens, wenn ich das weiß, kann ich doch erst entscheiden, ob das jemand ist, von dem es sich lohnt, sich einen Segen zu erbitten. Hier kommt es umgekehrt: Es ist der Anonymus, der segnen soll, der nach dem Namen seines Gegenübers fragt, und der darauf zur Antwort erhält: „Ich heiße: der Hinterlistige“. Nun kann man ja auch sagen: Das ist doch nur richtig, dass der Segensspender sich erst einmal erkundigt, wen er denn da segnet – auf dass er nicht einen Unwürdigen segnet. Hätte sich mal Isaak etwas näher erkundigt und sorgfältiger geprüft, dann er hätte er seinen letzten Segen vielleicht nicht dem falschen Sohn gespendet.

Aber es geht hier um mehr: Die Frage nach dem Namen ist im Hebräischen mehr als nur eine Erkundigung nach einer gewissermaßen technischen Bezeichnung, die nur Verwechslungen ausschließen soll: Bei uns ist eben Frau Stirnima nur irgendjemand anders als Frau Holle, und Jeremy ist eben ein anderer als Sven. Aber davon wissen wir noch lange nicht, wer Frau Stirnima („Gruezi Gott...“), wer Frau Holle, wer Jeremy und wer Sven wirklich ist. Sie könnten hierzulande im Grund auch völlig anders heißen. Und wenn man die Praxis unserer neuern Namensgebung so betrachtet, könnte man sich das ja oft genug wünschen – bei all denn flüchtigen Modenamen. Unter meinen lieben ostdeutschen Studenten in Erfurt habe ich schon so viele brav sächselnde Enricos kennengelernt, dass ich mich langsam frage, weshalb dieser Name in der DDR zehn Jahre vor der Wende so auffällig in gewesen war. Warum nicht einfach Heinrich – wie Heinrich Faust?

Doch wenn Jakob in dieser hebräischen Geschichte seinen Namen nennen soll, damit und bevor er gesegnet werden kann, dann kommt in dieser Lüftung seiner Anonymität, nicht nur sein Name zum Vorschein, sondern sein innerstes Wesen. Namen sind dem Hebräer eben keineswegs Schall und Rauch, sondern die offenbaren Stand und Wesen, Zustand und Charakter. (Bei uns heißen zwar Leute noch Metzger oder Becker, aber, ohne dass man noch zu sagen wüsste, in welcher  vorzeitigen Generation einmal jemand Schlachter oder Brotmacher war. Und wer heißt heute alles Leicht, ohne es jemals gewesen zu sein.)

Wenn aber Jakob seinen Namen nennen muss, dann kommt seine ganze Identität auf den Tisch, dann steht er gewissermaßen da ganz ohne Hüllen. Dann sieht ihn – wir werden es gleich erfahren, wer: Dann sieht ihn nämlich: Gott ganz so, wie er ist. (Übrigens auch das eine aufregende Verkehrung der Verhältnisse in allen den anderen Verkehrungen: Immerhin hat in dieser Szene auch Jakob Gott gesehen, wie er ist – und Jakob ist daran, anders als das sonst die Hebräische Bibel ganz strikt sagt, nicht tödlich verbrannt; sondern er hat das überlebt – wie gesagt: bis auf seine verrenkte Hüfte sogar schadlos.) Jakob jedenfalls muss sich vor Gott vollständig zeigen, wie er ist. Er muss also, wie wir heute sagen würden, eine vollständige Beichte ablegen. Wie übrigens auch wir – vor einer Abendsmahlsfeier. Da gehen wir zwar untereinander oft genug anonym hin – und im Schatten dieser Anonymität geschieht so manches, manchmal auch etwas, was kirchenleitenden Organen doch nicht, noch nicht recht ist (oder sein kann.) Aber machen wir uns nichts vor: Vor Gott sind wir alle dem Namen wie dem Wesen nach restlos bekannt. Uns selber können wir etwas vormachen – Gott jedoch nicht!

Übrigens – wieder eine kleine Verkehrung des uns Gewohnten: Uns wird gesagt, bevor wir vor den Tisch des Herrn treten – siehe Matthäus 5, 23-24: „Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe.“

Also: Erst die Versöhnung mit dem Bruder, der etwas gegen mich hat (und Esau hatte ja allen Grund, etwas gegen Jakob zu haben) – dann die höchst intensive, die uns intensivstmögliche Begegnung mit Gott im Abendmahl. Bei Jakob aber ist es umgekehrt. Er möchte seinem Bruder gegenübertreten – und wird zuvor in eine höchst intensive Begegnung mit Gott regelrecht gezwungen. Wie intensiv werden wir gleich sehen.

Aber zunächst noch dieses zu Matth. 5, 23-24: Da wird mitten im Evangelium noch an die hebräische Opferkultur erinnert. Doch im Abendmahl opfern nicht wir, opfert auch nicht die Kirche. Sondern Gott opfert seinen Sohn – und Christus opfert sich selbst für uns. Gott also ist es, der anders als am Flusse Jabbok, der gewissermaßen gezeichnet aus dem Ringen mit uns, um uns hervorgeht, gezeichnet nicht allein an der Hüfte, sondern mit sieben Wundmalen. Und Christus opfert sich selbst so, dass es mit dem Opfern ein für allemal ein Ende hat. Und dieses ultimative Selbstopfer Gottes in Christus sollte Christen untereinander spalten können? Wie soll das letztlich zugehen?

Bevor wir an den Tisch des Herrn treten, sollen wir uns untereinander versöhnen. Aber wenn wir dies wirklich getan haben, wenn wir uns wirklich in und durch Christus haben versöhnen lassen – wie können wir dann noch an unterschiedliche Tische treten? Da kann doch etwas nicht stimmen mit der Versöhnung, oder?

Jakob also wird vor der Versöhnung mit seinem betrogenen Bruder in eine höchst intensive, höchst riskante Begegnung mit Gott gezwungen, riskant für Gott, denn Gott geht das Risiko einer Niederlage ein, doch eben gerade in Gottes Niederlage erkennt Jakob: Gott (und bittet um seinen Segen)   – so wie wir erst in der Erniedrigung des Erhöhten, so wie wir erst am Kreuz: Christus richtig erkennen.

Am Jabbok war dies eine Begegnung, die Gott von sich aus herbeiführt – im Dunkel der Nacht. Und Jakob wird in dieser Begegnung ein ganz anderer Mensch, so anders, dass er sogar seinen Namen ausgetauscht bekommt, ja ausgetauscht bekommen muss – denn ein anderer Mensch muss auch anders heißen, wenn der Name denn irgendetwas über sein Wesen aussagen soll:

28 Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.

Wenn man diese Sätze als Deutscher liest, dann muss einem eigentlich – angesichts unserer jüngeren Geschichte – der Atem stocken bleiben. Da nimmt Gott von Jakob das Wesen und den Namen des Hinterlistigen und nennt ihn nun Israel – aber wir Deutschen, d.h. unsere deutschen Vorfahren haben das Verbrechen begangen, in den Israeliten eben das Wesen des schlechthin Hinterlistigen zu brandmarken. Und als die Nazis alle männlichen deutschen Juden zwangen, auf ihrem Pass zwischen den Vornamen und den Familiennamen den Zunamen Israel zu setzen, da haben sie wohl wirklich nicht gewusst (oder rundheraus verhöhnt), was das vor Gott heißt, nämlich einen Ehrennamen:

Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.

Und wenn unsere Juden hier nicht etwas gewonnen, sondern alles verloren haben, dann waren es wohl nicht wirklich Menschen, die mit ihnen, vor allem gegen sie gekämpft haben, - dann waren dies eben nicht Menschen, sondern das, was wir Unmenschen nennen – ohne sie je aus unserer Gattung entfernen zu können.

Gott aber lässt Jakob nunmehr Israel heißen:

denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.

Die Szene endet schnell:

31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen,* und doch wurde mein Leben gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

Da ging ihm die Sonne auf – an dieser Stätte des Gottesringens. Ach, dass doch auch uns die Sonne aufgehen möge, wenn wir einmal mit (und um) Gott ringen müssen, auf den Tod – oder zuletzt: im Tod.  Und so singen wir dies Lied als Bitte:

Sonne der Gerechtigkeit, Nr. 35, 1 - 3

Aber wo bleibt nun die Grammatik? Und der Unterschied zwischen Sein und Haben? Beim Segen verhält sich die Sache wie folgt: Gott sagt dem Abraham und der Sarah, und er sagt uns: Ihr sollt ein Segen sein! Gottes Zuspruch lässt uns ein Segen sein für andere. Abraham ist zum Segen für alle geworden, die nach ihm kamen, für alle, die seine Nachkommen wurden. Der Gesegnete ist eine Durchgangsstation, eine Medium, durch das Gott den Menschen etwas zugute tun will. Deswegen: Du sollst ein Segen sein, Ihr sollt ein Segen sein. Sein!!

Wir Menschen aber wollen den Segen haben, möglichst unbedingt, möglichst exklusiv. Vor allem wollen wir ihn haben: für uns! Nicht zuerst für andere. Seit Kain und Abel, seit Jakob und Esau, seit den zween Söhnen Zebedäi – bis in die heutigen Tage. Wir wollen den Segen für unsere Macht und unsere Machtmittel (und zuweilen für unsere Waffen und Kriege).

Der Segen Gottes ist aber kein Verdienstkreuz, kein Orden, kein moralisches Fleißkärtchen für seinen Empfänger und für dessen zurückliegende Verdienste; und schon gar keine Auszeichnung, auf der er sitzen bleiben dürfte.. Sondern der Segens-Empfänger wird zur Durchgangsstation für das heilsame Wirken Gottes zugunsten der Menschen – und das durch die Generationen hindurch.

Ihr sollt ein Segen sein! In dem, was ihr wirkt, jetzt und künftig. Lasst den Segen durch Euch zu anderen gehen. Ihr sollt ein Segen sein.

Wer aber den Segen haben will, der will ihn sich aneignen und auf ihm sitzen bleiben. Der will ihn für sich haben – nicht zugunsten anderer, sondern zu Lasten anderer: wie Kain – und wie ursprünglich auch Jakob, als er noch Jakob hieß. Aber gerade an Jakob erkennen wir, dass Gott für sein heilsames Wirken nicht auf Heilige, auf moralisch perfekte Menschen angewiesen ist. (Und wenn er es denn wäre, sehe es noch schlimmer aus auf dieser Welt. Denn der Vorrat an perfekten Heiligen ist begrenzt, so vorhanden.) Doch Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Schon Abraham, der Erzvater und Empfänger des ersten Völkersegens, war alles andere als perfekt.

Und selbst Jakob, der doch nach alle seinen Betrügereien und nach unseren weltlichen Maßstäben es zum Heiligen nie bringen könnte, wird Gott zu einer weiteren Durchgangsstation seines Segens. Selbst noch unmittelbar vor dem Empfang des zuvor durch Betrug erlangten Segens, nun aus der Hand Gottes (und nicht allein des sterbenden Vaters) – selbst noch kurz davor, will er den Segen für sich haben, so ehrgeizig und eigensinnig wie zuvor:

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Da stellt der Sieger dem Unterlegenen einen Ultimatum. Jakob tut Gott, wie es anfangs in unserem morgendlichen Abendlied hieß: mit Bitten Gewalt an.

Doch dann setzt der Akt der Beichte, der Namens- und der Wesensoffenlegung, setzt also der Offenbarungseid ein – dann folgt die Konversion des Jakob in den Israel ( wie später der des Saulus in den Paulus); und dann und nur deshalb der Segen.

Da erfolgt also nicht nur ein Austausch des Namens und des Wesens, sondern auch ein Austausch des Hilfzeitwortes – vom Haben zum Sein:

Vom:
Ich will den Segen haben!

Zum:
Du sollst ein Segen sein!

Diese grammatische Korrektheit sollten wir immer im Auge behalten, wenn es uns nach einem Segen verlangt. Da werden Sie mir alle zustimmen, wenn ich als Beispiel dafür das Waffensegnen anführe. Ich will mich aber gerne auf das Glatteis begeben, und dasselbe an einem Beispiel  verdeutlichen, das viel kontroverser ist. Ich spreche von dem höchst umstrittenen Verlangen nach einer Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften.

Und damit der Punkt, auf den es mir in diesem Zusammenhang ankommt, in aller Präzision zum Vorschein kommt: Ich war entschieden dafür, dass der staatliche Gesetzgeber in etwa in dem Sinne handelte, in dem er es getan hat. Ich gehört zu denen, die im kirchenleitenden Diskurs dafür eintraten, in einer staatlichen Regelung die Möglichkeit zu sehen, auch in diesen Gemeinschaften Schutz und Solidarität zu gewähren und verantwortlich zu leben. Und ganz gewiss muss eine Diskriminierung von Homosexuellen ausgeschlossen sein, auch in der Kirche.

Und selbst in der Frage: Segnung – ja oder nein? Und wenn ja: wo und wie?, brauchen wir weitere Gespräche, allerdings keine kirchenspaltenden Alleingänge.

Das alles vorausgeschickt, komme ich im Zusammenhang mit unserem Text und im Sinne unseres Segensgrammatik zu meinem zentralen Punkt:

Meine Ohren spitzen sich äußerst kritisch dort, wo ich den Satz höre:

Den Segen wollen wir haben! Und da noch als Ultimatum! Oder gar ähnlich wie im Rosenkavalier von Richard Strauß der Ochs von Lerchenau auf den Boden stampfend: Den Segen will ich als Morgengabe haben! Als Morgengabe auf die vermeintliche Modernität einer Kirche, die nicht mehr unterscheiden kann zwischen einer feindseligen Diskriminierung und einer den jeweiligen Lebenssituationen zugewandten Differenzierung – also auch einer Kirche, die nicht mehr unterscheiden kann zwischen den Hilfszeitwörtern sein und haben.

Gewiss:

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Ein steiler Satz, ein stolzes Ultimatum! Übrigens: Ein Siegersatz!

Aber dieser Sieger über Gott wird in Name und Wesen völlig verwandelt, wird einer Konversion unterzogen – so gründlich, wie eines Tages unsere Waffen, die wir zuvor selber gesegnet hatten:

Von einem Jakob zu einem Israel, von einem, der den Segen haben will, zu einem, der ein Segen sein soll – wie sein Großvater Abraham. Von einem Haben-Woller, zu einem Sein-Soller.

Ach, dass doch Gott eines Nachts auch mit uns so ringen wollte, dass wir vom Haben ins Sein konvertiert werden.

Amen.
 

Lasst uns nach dem Segen und zum Beschluss dann das Lied 142 singen: Bewahre uns Gott...

Dann aber geht hin mit Segen und im Frieden Gottes:

Der Herr segne und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.
Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
Amen