Der Protestantismus als Weltkulturerbe - Erbe und Verpflichtung

Wolfgang Huber

Vortrag bei der Gemeinsamen Jahrestagung von Evangelischem Bund und Gustav-Adolf-Werk in Erfurt

I.

Der Ort, an dem uns diese gemeinsame Studientagung des Evangelischen Bundes und des Gustav-Adolf-Werkes zusammenführt, macht auf seine Weise bereits das Thema anschaulich, das mir aufgetragen ist: „Der Protestantismus als Weltkulturerbe“. Die mit dem Protestantismus als Weltkulturerbe verbundenen Kontinuitäten und Brüche haben hier in besonderer Weise Gestalt angenommen, in der Stadt Erfurt ebenso wie in dem Augustinerkloser, in dem wir tagen. Für die evangelische Kirche ist das Augustinerkloster in Erfurt aufs engste mit dem Namen Martin Luthers verbunden. Wenn man sich in diesen Gemäuern bewegt, spürt man es deutlich: Der mit der Reformation verbundene Neubeginn meint nicht die Entstehung der evangelischen Kirche oder des Protestantismus gleichsam aus dem Nichts. Auch wir blicken auf eine zweitausendjährige Geschichte zurück. Ohne die Verwurzelung in der biblischen Überlieferung, ohne das Studium der Kirchenväter, ohne die Auseinandersetzung mit der altkirchlichen  und der mittelalterlichen Tradition ist das vierfache „solus“ der Reformation nicht denkbar. Dieses vierfache „allein“ – das Allein der Schrift, der Gnade, des Glaubens und vor allem Christi  selbst – bildet  die Erneuerung eines Erbes, das der Christenheit insgesamt anvertraut ist. Nicht ein protestantischer Sonderweg ist das, was uns bewegt, sondern die Verantwortung für den christlichen Glauben selbst.

Kontinuitäten und Brüche lassen sich auch an der Stadt wahrnehmen, in der wir uns befinden. Wenn man die Anzahl von Erfurts Kirchengebäuden in ein Verhältnis zu Fläche und Einwohnerzahl setzt, stellt man fest, dass die Kirchendichte dieser Stadt zu den größten in Deutschland gehört. Auf Schritt und Tritt begegnet uns das kulturelle wie geistliche Erbe einer Jahrtausende währenden Kirchengeschichte. Die Kirchtürme prägen das Stadtbild. Das Christentum als Weltkulturerbe ist allgegenwärtig.

Doch zugleich gehört diese Stadt zu einer Region Deutschlands, die von einer weitreichenden Entkirchlichung bestimmt ist. Auch wenn die Kirche hier noch zu den größten Institutionen und Gemeinschaften zählt, ist deren Mitgliederzahl doch weit unter 25 Prozent der Bevölkerung gesunken. Und so hat auch Erfurt mit seinen vielen Kirchen teil an der spezifischen säkularisierten Situation im Osten Deutschlands.

Freilich erleben wir auch gegenläufige  Bewegungen. Gerade über die kulturellen Aspekte unseres kirchlichen Lebens, über die Kirchenmusik, die Bildungsarbeit, das sozialpolitische Engagement kommen viele Menschen wieder neu mit der Kirche in Berührung. Die schrecklichen Ereignisse vom April 2002 im Gutenberg-Gymnasium hier in Erfurt haben gezeigt, wie nötig die Kirchen sind, um Menschen in extremer Notsituation Halt zu geben und Trost zu spenden. Die gebundene Sprache der Psalmen, unsere alten Texte und Lieder erweisen sich als Halt in äußerster Not.

Nicht nur einer Spannung zwischen Kontinuität und Brüchen sind wir ausgesetzt, sondern auch zwischen äußersten Extremen menschlichen Verhaltens. Nicht weit ist es von hier nach Weimar, der Stadt der deutschen Klassik, und dann weiter auf den Ettersberg, zum Konzentrationslager Buchenwald, einem Ort massenhafter Demütigung und unausdenkbaren Leidens, dessen Erinnerung im Buchenwald-Denkmal zugleich eine eigentümliche Gestalt monumentaler Heroik angenommen hat. Auch solche Extreme gehören zu dem Koordinatennetz, in dem sich an diesem Ort unser Nachdenken darüber bewegt, was der christliche Glaube, was der Protestantismus als Weltkulturerbe in die Gegenwart einzubringen hat. Das Weltkulturerbe der deutschen Klassik auf der einen Seite und die Unkultur des nationalsozialistischen Terrors auf der anderen Seite, beides gilt es zu erinnern, beides gehört zu unserer Geschichte. Mitten hinein in diese Spannung haben wir die Rechtfertigung des gottlosen Sünders zu verkündigen. Kein leichtes, aber ein unverzichtbares Erbe; ein Auftrag an uns Christen hier und heute.

II.

Nicht nur der Ort, an dem wir uns versammeln, sondern auch der Zeitpunkt dieser Tagung wirft auf das Thema ein ganz besonderes Licht. Gestern hat der Europäische Rat wieder über den Europäischen Verfassungsvertrag beraten. Das gehört zu den Schritten, mit denen sich die Europäische Union auf die Erweiterung auf 25 Mitglieder vorbereitet, die am 1. Mai tritt. Mit diesem Datum – und im Blick auf die diskutierte Aufnahme der Türkei – auch über dieses Datum hinaus stellt sich die Frage, was in Europa künftig den Vorrang haben soll: die Erweiterung oder die Vertiefung. In der Debatte über die europäische Verfassung – insbesondere über ihre Präambel und die Rolle der Grundrechte in ihr – geht es im Kern um diese Frage: Welche Schritte der Erweiterung traut Europa sich zu? Und wie stark müssen seine Wurzeln sein? Wie tief muss es fundiert sein in einer – bei aller Pluralität – gemeinsamen Grundorientierung?

Lassen Sie mich auf die so gestellte Frage zunächst mit einem Bild antworten: Je ausladender die Krone eines Baumes ist, desto mehr ist er auf ein tiefes und festes Wurzelwerk angewiesen. Je größer die Zahl von Wohnungen im europäischen Haus wird, desto wichtiger werden dessen Fundamente.
 
 Unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Europäische Union mit der Erweiterung von fünfzehn auf fünfundzwanzig Mitglieder eine gewaltige Aufgabe aufgeladen. Sie ist ein richtiger und notwendiger Schritt. Mit ihm lassen wir endgültig die Spaltung des europäischen Kontinents hinter uns, die in der Konferenz von Jalta beschlossen wurde und von der die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geprägt war. Diese Spaltung zu überwinden, ist ein Schritt von großer historischer Tragweite. Doch er muss in den vor uns liegenden Jahren mit Sinn erfüllt werden. Die Bewährungsprobe dafür, dass Europa nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist, liegt noch vor uns. Einstweilen hat man den Eindruck, dass die Erweiterung sich zumindest auch mit Bestrebungen zu einer Renationalisierung verbindet. Die Vertiefung ist keineswegs eine automatische Folge. Sie muss vielmehr bewusst angestrebt werden; für sie muss man sich die nötige Zeit nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt stimme ich August Hermann Winkler zu, der unlängst in einem wichtigen Aufsatz die These vertreten hat, unter einer solchen Perspektive sei es für Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zu früh. Wer das sagt, muss freilich alsbald hinzufügen, dass gerade dann weitergehende Verhandlungen über eine verstärkte Zusammenarbeit der Europäischen Union mit der Türkei auf verschiedenen Feldern umso dringlicher sind. Zusammenfassend beurteilt Heinrich August Winkler die augenblickliche Lage so: „Ohne überzeugte Europäer kein Europa, ohne ein europäisches Wir-Gefühl keine überzeugten Europäer, ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte kein europäisches Wir-Gefühl: Die EU muss der Vertiefung den Vorrang geben vor der Erweiterung, erst recht vor der Erweiterung um die Türkei.“

Das ist der Zusammenhang, in dem die aktuelle Debatte über den europäischen Verfassungsvertrag aus der Perspektive der christlichen Kirchen von herausragender Bedeutung ist. Es geht für sie nicht in erster Linie um ein eigenes institutionelles Interesse; es geht vielmehr um die Frage, ob neben der wirtschaftlichen Funktion des vereinigten Europa auch seine kulturellen Grundlagen und Voraussetzungen verstärkt bewusst gemacht und erneuert werden. Aus der Sicht der Kirchen muss diese Diskussion unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass die Europäische Union sich in Zukunft noch stärker als bisher als gemeinsamer geistig-kultureller Raum versteht, der mehr sein will als ein politischer Zusammenschluss mit vornehmlich kommerziellen Absichten.

Was ich hier im Blick auf die aktuelle europäische Entwicklung im Großen sage, gilt auch für viele andere Bereiche. Wir befinden uns in einer Zeit neuer Orientierungssuche im persönlichen wie im öffentlichen Bereich. Auf die gesellschaftlichen Umbrüche, die wir erleben, reagieren viele Menschen mit der Suche nach verlässlichem Halt und klaren Wurzeln. Je stärker sie mit diesem Suchen allein gelassen werden, desto größer ist die Versuchung, sich fundamentalistischen Antworten anzuvertrauen. Je mehr die Kirchen sich auf die Pflege des eigenen Milieus beschränken, desto weniger werden sich Menschen, die auf einer solchen Suche sind, von ihnen ansprechen lassen. Die Diskrepanz zwischen dem, was gerade auch von der evangelischen Kirche an Ausstrahlung erwartet wird, und dem Eindruck, den sie im Rückzug auf ein selbstgenügsames Milieu bisweilen macht, wird uns gelegentlich in bedrückend ungerechter Form vorgehalten. Der Journalist Henning Ritter hat dafür vor einiger Zeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Beleg geliefert. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch hat an anderer Stelle eine schneidend scharfe Abrechnung mit dem protestantischen Milieu geliefert. Auch wenn wir solche Polemiken als ungerecht empfinden, sollten wir nicht die Augen davor verschließen, dass hinter ihnen eine hohe Erwartung steht. Sie richtet sich darauf, dass der Protestantismus eine große theologische, geistliche und kulturelle Form des christlichen Glaubens darstellt, nach deren Zukunftsfähigkeit heute mit neuem Nachdruck gefragt wird. Diesem Fragen sollten wir uns nicht verweigern. Wir sollten es vielmehr auch dort, wo wir es als unbequem und sogar als verletzend empfinden, als provozierende Ermutigung ansehen. In meinen Augen ist es entscheidend, ob wir uns heute auf die Pflege eines vertrauten Milieus beschränken oder ob wir den Mut entwickeln, das, was uns anvertraut ist, öffentlich erkennbar zu machen. Gerade in dieser Hinsicht enthält die Rede vom „Weltkulturerbe“ eine bewusste Provokation.

III.

„Weltkulturerbe, Glaube, Liebe, Hoffnung“, unter dieser – vielleicht überraschenden – Perspektive werden in der Kulturdenkschrift der EKD und der VEF „Räume der Begegnung – Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“(1) die Leitlinien für eine christliche Orientierung und für das christliche Handeln in einer von kultureller Pluralität geprägten Welt beschrieben.

Seit 1972 werden in eine Liste der UNESCO, der Kulturorganisation der Vereinten Nationen, Naturdenkmäler und vor allen Dingen Baudenkmäler aufgenommen. Einzigartigkeit und Authentizität gelten als die wichtigsten Kriterien, um in diese Liste des Weltkulturerbes registriert zu werden. In Deutschland gehören die Wartburg, die Luthergedenkstätten in Wittenberg und Eisleben, der Kölner Dom oder der Dom zu Speyer, ganze Stadtensembles wie Stralsund oder Wismar, aber auch Kunstwerke wie Beethovens Neunte Symphonie, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, zu den so ausgezeichneten Monumenten der Menschheitsgeschichte. In diesem Verständnis von „Weltkulturerbe“ geht es darum, besondere Kostbarkeiten, die eine einmalige Bedeutung für die Welt haben, zu erhalten. Dies meint gerade kein museales Bewahren des Ererbten, denn erben hat ja auch immer damit zu tun, Überliefertes, Vergangenes für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen. „Weltkulturerbe“ in diesem Sinn ist deshalb viel stärker mit den anvertrauten Talenten zu vergleichen, die wir aus der Bibel kennen. Solche Talente, werden richtig gebraucht, wenn man mit ihnen wuchert, die aber missbraucht werden, wenn man sie vergräbt (Matthäus 25, 14-30). Ein Erbe ist immer auch eine Verpflichtung für die Gegenwart und Zukunft.

Wenn wir in diesem Sinne von unserem christlichen Glauben zum „Weltkulturerbe“ gehörend sprechen, muss deutlich bleiben, dass dieser Glaube mehr ist als eine bloße Überlieferung. Unser Glaube hat eine Macht, der unser gegenwärtiges Leben prägt und unsere Zukunft bestimmt – sogar über den Tod hinaus. Zugleich hat dieser Glaube aber in der Geschichte der Menschheit der Geschichte Europas der Geschichte in Deutschland eine Prägekraft entwickelt, die sich in unserer Kultur auf vielfältige Weise auswirkt. Diese bleibende Prägekraft kann man sich deutlich machen, wenn man sich vor Augen hält, wie Europa, wie unser Land, wie die Stadt Erfurt aussähe, gäbe es keine Kirchen mehr. Setzt man sich diesem Gedankenexperiment aus, dann wird erkennbar, dass die Rede vom „Weltkulturerbe“ im Bezug auf unseren Glauben keineswegs so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. „Die Struktur der Zeit würde sich tief greifend verändern. Nicht nur die Zeitrechnung vor und nach Christi Geburt fiele weg, sondern wohl auch der Rhythmus der Siebentagewoche, der aus dem Judentum stammend durch das Christentum der Welt weitergegeben wurde. Wahrscheinlich würde der für den Menschen notwendige zweckfreie Wechsel von Arbeit und Ruhe zugunsten von Rationalisierungs- und Effizienzvorgaben beeinträchtigt werden, so dass die Begrenzung der menschlichen Arbeit durch eine gemeinsam geteilte freie Zeit aufgegeben würde. Tage, die dem Gottesdienst gewidmet wären, erschienen ohnehin als entbehrlich. Die räumliche Struktur in der wir uns bewegen, würde sich ebenfalls tiefgreifend verändern. Kirchtürme, an denen Glaubende wie Glaubensferne Orientierung suchen, Klöster die zur Einkehr einladen, Wegkreuze, die den wie selbstverständlich genommenen täglichen Weg mit dem Passionsweg Jesu in Verbindung bringen – all das ist bisher tief in die Struktur unseres Lebensraums eingefügt. Gewiss bliebe von all diesen Bauwerken noch etwas übrig – aber doch allenfalls als verblassende Erinnerung an das, wofür sie stehen: Gottesdienst und Gebet, Glaube und tätiges Christ sein.“ So in der bereits erwähnten Denkschrift "Räume der Begegnung“ (2).

IV.

Bei aller Nüchternheit besteht aber auch kein Anlass, die nach wie vor vorhandene Prägekraft des Christentums in Europa zu leugnen. Von den 720 Millionen Menschen in Europa sind immerhin mehr als 500 Millionen Christen. Von den 450 Millionen, die der erweiterten europäischen Union angehören wollen, werden es 380 Millionen, also mehr als achtzig Prozent sein. Dieser Tatsache wird man nicht gerecht, wenn man in einem allgemeinen Lamento über die Säkularisierung erklärt, das Christentum sei in Europa ganz oder doch beinahe tot, seine geistige Substanz sei in Europa entkernt. Nicht nur in der Vergangenheit haben Christen sich in Europa für Werte eingesetzt, die diesen Kontinent geprägt haben: für die Erkenntnis der Natur als Schöpfung, für die Würde des Menschen, für die Ehre Gottes. Auch durch viele Irrtümer sind sie dabei gegangen und haben Schuld auf sich geladen: in der Ausbeutung der Natur, in der Gewalt gegen andere Menschen, in der Leugnung Gottes.  Aber das Christentum war es, das selbst die Maßstäbe setzte, an denen solche Irrwege aufgedeckt wurden. Das Christentum ist nicht nur verflochten in eine Geschichte der Schuld; es ist auch die Quelle von Schulderkenntnis und Neubeginn.

An keinem Thema lässt sich das eindrücklicher zeigen als an der Vorstellung von der unantastbaren Menschenwürde und den aus ihr abgeleiteten Menschenrechten. Gewiss: Diese Einsicht musste in der Neuzeit in erheblichem Umfang gegen die Kirchen durchgesetzt werden; doch zugleich kann man nicht davon absehen, dass sie sich christlichen Quellen verdankt. Denn in ihr drückt sich eine Vorstellung von der menschlichen Person aus, deren Würde deshalb unantastbar ist, weil sie in der Gottebenbildlichkeit ihren Ursprung hat.

Mit der Erweiterung der Europäischen Union ist eine schon längst überfällige Ostverschiebung unserer Wahrnehmung verbunden, Sie wird uns lehren, auch die Bedeutung des Christentums mit anderen Augen zu sehen. Die Rolle des Katholizismus ist in Polen eine andere als beispielsweise in Frankreich, die Bedeutung der östlichen Orthodoxie ist uns in West- und Mitteleuropa ohnehin weitgehend  unbekannt. Schon diese Beobachtung nötigt dazu, im Blick auf die religiösen und kulturellen Grundlagen der europäischen Einigung die plurale Form ernst zu nehmen, in denen uns diese Grundlagen begegnen. Das ökumenische Bemühen der Kirchen darum, ihrer Pluralität die Gestalt einer versöhnten Vielfalt zu geben, kann insoweit sogar ein Modell für das werden, was auch für Europa insgesamt nötig sein wird: sich in der Pluralität so aufeinander zu beziehen, dass das Verbindende sich gegenüber dem Trennenden als stärker erweist. Das romantische Bild einer religiösen Einheitskultur dagegen, wie Novalis es gezeichnet hat und wie es auch heute immer wieder aufflackert,  taugt nicht als Leitbild für die Zukunft. Doch der relativistische Werteverzicht, der sich häufig mit einem rein technokratischen Bild Europas verbindet, versagt erst recht vor der Aufgabe, eine Vertiefung der Zusammengehörigkeit in Europa zuwege zu bringen.

Dabei lässt sich ohne Mühe an die Geschichte Europas anknüpfen. Nur seine kulturelle und religiöse Geschichte begründet nämlich, warum wir Europa einen Kontinent nennen. Für diese kulturelle und religiöse Prägung sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem.

Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Ein Erbe ist das übrigens, dessen Überlieferung zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zu danken ist. Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende Religion, das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Jesus, Petrus und Paulus – um nur diese drei zu nennen – waren Juden. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Für die Zukunft hat deshalb nur ein Christentum Berechtigung, das sich seiner Herkunft aus dem Judentum bewusst ist.

Wer von den christlichen Wurzeln Europas spricht, muss sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen. So wenig es einen Grund gibt, das Christliche an Europa zu marginalisieren, so unbegründet ist es auch, Europa mit dem Christentum gleichzusetzen. Für keine Epoche der europäischen Geschichte ist das angemessen.

Ebenso unangemessen ist es freilich, die christliche Prägung unseres Kontinents zu negieren. Auch wenn wir die Umstände, unter denen manche Teile des Kontinents christianisiert wurden, als problematisch empfinden, können wir doch die Augen nicht davor verschließen, dass es kein europäisches Land gibt, das nicht mindestens vor einem Jahrtausend zum Christentum übergetreten ist. Diese Bindung an das Christentum stellt ganz unausweichlich einen wichtigen Bestandteil der europäischen Identität dar. Das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt.

Aber der christliche Glaube verband sich von Anfang an mit den unterschiedlichen regionalen Kulturen Europas. Er wurde eingebettet in die Lebenswelten der – lateinischen oder keltischen, germanischen oder slawischen – Völker, die zusammen Europa bildeten. Im Westen entstand, wie Peter Brown gesagt hat, “ein Mosaik benachbarter, aber getrennter ‚Mikro-Christenheiten‘”.

Die Entwicklung der westlichen Christenheit war zugleich über lange Jahrhunderte durch die beständige Spannung zwischen einer sich hierarchisch verfestigenden Kirche und sich dagegen auflehnenden Erneuerungsbewegungen bestimmt. Was Petrus Waldus oder Jan Hus bereits versuchten, gewann in der Reformation des 16. Jahrhunderts dann weltgeschichtliche Bedeutung. Dabei hatte es die Reformation des 16. Jahrhunderts auch der politischen Konstellation zu verdanken, dass sie nicht wie die Erneuerungsbewegungen des Mittelalters als Ketzerei niedergeschlagen wurde. Als die “Protestanten” auf dem Reichstag in Speyer vor genau 475 Jahren sich einem Mehrheitsbeschluss der Reichsstände in Fragen des Glaubens widersetzten, fügten sie zur abendländischen Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einen weiteren Baustein für die Entstehung des modernen Verfassungsstaats hinzu. Sie verlangten die Anerkennung von Gewissensfreiheit  und die Selbstbeschränkung der politischen Autorität in Fragen der Religion. Sie ebneten damit den Weg zur Aufklärung ebenso wie zur Anerkennung von religiöser Pluralität. Auf dem Weg zu diesem Ziel lagen freilich die Konfessionskriege der nachreformatorischen Zeit. Sie nötigten zu einer Neukonstruktion eines europäischen Friedens, der nicht unmittelbar auf der Religion beruhte, sondern auch dann Bestand haben sollte, wenn man annähme, dass es Gott nicht gäbe. Insofern nötigte die Unversöhnlichkeit der konfessionell bestimmten Kriegsparteien selbst zu einer Friedensordnung, die auch gegen die Konfessionen durchgesetzt werden konnte.

Daran muss man sich immer wieder erinnern, wenn die These vertreten wird, der Frieden zwischen den Völkern setze den Frieden zwischen den Konfessionen und Religionen voraus: “kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden” (Hans Küng). Gegebenenfalls muss der Frieden – Gott sei’s geklagt – auch gegen Konfessionen und Religionen durchgesetzt werden. Auch das gehört zu den Lehren der europäischen Entwicklung. Die Kirchen selbst müssen ein Interesse daran haben, dass der Rechtsfrieden gegen diejenigen behauptet wird, die ihn gefährden – und sei es unter Inanspruchnahme religiöser Motive. Nordirland ist dafür ebenso ein aktuelles Beispiel wie der Balkan. Erst recht gilt das für den 11. September 2001 und seine Folgen. Den 11. März 2004 müssen wir in Europa diesem Datum inzwischen zur Seite stellen. Gerade die europäische Erfahrung spricht dafür, die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft und den weltlichen Charakter der Rechtsordnung deutlich voneinander zu unterscheiden. Diese Einsicht wird das Gespräch zwischen Christentum und Islam in Zukunft stärker bestimmen müssen als in der Vergangenheit.

Die geschilderten Entwicklungen des konfessionellen Zeitalters brachten es mit sich, dass sich in der europäischen Neuzeit immer weitere Lebensbereiche der konfessionellen Prägung entzogen. Das galt nicht nur für die Politik und die ihr dienende Rechtswissenschaft, sondern auch für die Philosophie, die Geschichtswissenschaft und die Naturwissenschaften. Schon in dieser Zeit verlor die Theologie in Europa das Monopol auf die Deutung von Welt und Mensch. Seitdem muss sie ihre eigenen Deutungen argumentativ – und das heißt auch: möglichst prägnant – in den Diskurs mit anderen Deutungen einbringen – es sei denn, sie zieht sich in eine Sonderwelt zurück, in der sie ihr Eigenes pflegt, ohne sich der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationen zu stellen.

Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen, bedeutet also zugleich, die europäische Pluralität anzuerkennen. Denn das Christentum hat auf seine Weise zu dieser Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Er trug dazu bei, dass sich die staatsbürgerlichen Rechte von der Religionszugehörigkeit lösten. Diese “Bresche”, wie René Rémond sich ausdrückt, wurde in der Französischen Revolution geschlagen. “Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst religiöser Art, bedrängt werden ...” heißt es erstaunlich zurückhaltend in der “Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte” von 1789. Aber die Einsicht, dass Unterschiede des religiösen Bekenntnisses keine staatsbürgerliche Benachteiligung zur Folge haben dürfen, war weitreichend. Diese Entkoppelung setzte sich schrittweise in ganz Europa durch. Erst der Ausschluss der Juden von der Staatsbürgerschaft im Deutschland der Nazizeit – aber auch im Frankreich der Vichy-Regierung – war eine tragische Abweichung von dem nun errungenen Prinzip. Wer immer heute von Europa als Wertegemeinschaft spricht, wird gerade deshalb dieses Prinzip zu den Werten zählen, hinter die Europa nicht wieder zurückgehen kann. So wie durch die Reformation die Gewissensfreiheit zu einem europäischen Grundwert wurde, so durch die Französische Revolution die staatsbürgerliche Gleichheit. Es gibt jedenfalls in meinen Augen keinen Zugang zum Wertekonsens Europas an diesen beiden Weichenstellungen vorbei.

Die Kirchen haben die Unabhängigkeit des Staatsbürgerrechts von der Religionszugehörigkeit nicht selbst durchgesetzt. Auch deshalb hat dieser epochale Wandel sich in einem Säkularisierungsschub Ausdruck verschafft, der zwei Jahrhunderte – das 19. wie das 20. Jahrhundert – prägte. Nicht nur in überwiegend protestantischen Gegenden – mit ihrer traditionell geringeren Kirchenbindung – , sondern auch in katholischen Regionen löste sich das Deutungsmonopol der Kirchen ebenso auf wie ihr direkter Zugriff auf die Lebensorientierung der einzelnen. Die heiligen Zeiten werden entweiht. Der Rhythmus der Woche wie des Jahres wird profanisiert. Die religiöse Grundierung des Alltags schwindet. Atheistischer Humanismus wie atheistisches Ressentiment werden zu verbreiteten Haltungen. Glaubensfeindliche Ideologien bestimmten die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus; ihre auf unterschiedliche Weise kollektivistischen Bilder vom Menschen liegen hoffentlich auf Dauer hinter uns.

Inzwischen überlagern sich Säkularisierung und religiöse Pluralität. Die Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu einer verstärkten Präsenz nichtchristlicher Religionen in Europa, allen voran des Islam. Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit der Andersglaubenden ist, wird – vor allem angesichts der Anwesenheit von 10 Millionen Muslimen in Europa – zu einer täglichen Erfahrung.

Doch alle Ambivalenzen, die mit dem Säkularisierungsprozess verbunden sind, ändern nichts an der epochalen Bedeutung des Übergangs zu gleichen Bürgerrechten, die von der Religionszugehörigkeit unabhängig sind. Einem Staat, der diesen Grundsatz leugnete, würden wir heute vorhalten, dass er gegen die europäische Werteordnung verstößt. Europa als Wertegemeinschaft ist durch eine Vorstellung vom Verfassungsstaat geprägt, der die gleiche Würde jedes Menschen und ebenso die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Denn das gehört zur Unbedingtheit der Menschenwürde. So sehr diese sich einem christlichen Impuls verdankt, so sehr kann sie rechtlich nur in einem säkularen Verfassungsstaat gesichert werden.

V.

In dieser Beschreibung des Beitrags, den der christliche Glaube zu einer gestalteten europäischen Pluralität geleistet hat und auch weiter leisten kann, habe ich teils direkt, teils indirekt auch schon viel von dem zur Sprache gebracht, worin ich die spezifische Bedeutung des Protestantismus als Weltkulturerbe sehe. Ich will das in einem nächsten Schritt dadurch vertiefen, dass ich sage: Die besondere Leistung des Protestantismus besteht in seiner Fähigkeit des Unterscheidens. Die Unterscheidungsleistungen einer protestantischen Weltsicht gründen in der reformatorischen Neuentdeckung der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft.

Nur im Geschenk des Glaubens und nicht durch eigene Leistung ist der Mensch vor Gott anerkannt und gerechtfertigt. Diese biblische Einsicht wurde von der Reformation erneut ins Zentrum des christlichen Glaubensverständnisses gerückt. Drei Unterscheidungsleistungen, die im Protestantismus in besonderer Weise akzentuiert worden sind, ergeben sich daraus.

Als erstes ist die grundlegende Unterscheidung zwischen Gott und Mensch zu nennen. Dass das Seinwollen wie Gott eine Grundverkehrung menschlicher Existenz bildet, tritt uns gerade in den Maßlosigkeiten unserer Gegenwart wieder deutlich vor Augen: in dem vermessenen Anspruch darauf, menschliches Leben selbst herstellen zu können, ebenso wie in der Neigung dazu, den Verfügungsanspruch über fremdes Leben mit den Mitteln der Gewalt zu verwirklichen und solche Art der Gewaltsamkeit auch öffentlich in exzessiver Form zur Schau zu stellen. Nur in der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch lässt sich zusammendenken, was sonst unausweichlich auseinandertritt: die Endlichkeit des Menschen und die Unantastbarkeit seiner Würde. Nur wenn diese Würde in seinem Angesprochensein durch Gott und nicht in seinen eigenen Leistungen gründet, zerbricht sie nicht an Fehlleistung und Schuld. Nur wenn menschlichem Leben eine Verheißung mitgegeben ist, die an der Endlichkeit dieses Lebens nicht zerschellt, kann von der Würde des Menschen in einem strengen Sinn die Rede sein. In diesem Sinn ist der Mensch ein „Zweck in sich selbst“. Gerade im „Kant-Jahr“ ist darauf hinzuweisen, dass der Mensch nicht zu einem Mittel degradiert werden darf. Seine Würde ist unverfügbar – dies ist ein Erbe, das der christliche Glaube an die Welt und die Menschen weitergibt und seinen Niederschlag bis in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefunden hat. Ein Erbe ist dies, das um des Wohls der Menschen willen unverzichtbar ist.

Zweitens geht damit einher die Unterscheidung der Person von ihren Handlungen. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Er ist mehr als seine Taten oder Untaten, seine Leistungen oder Fehlleistungen. Jeder Mensch lebt von der Gnade des Neubeginns, vom Geschenk der Vergebung. Die Kirchen waren es, die in den bedrückenden Tagen des Aprils 2002 hier in Erfurt deutlich gemacht haben, dass bei aller Trauer und Wut über die Taten des Amokschützen Steinhäuser auch dieser der Fürbitte bedarf und würdig ist. Wie die Liebe Gottes jeden Menschen zukommt, so soll auch die Liebe unter den Menschen unteilbar sein. Dies ist ein Erbe, auf das wir um eines mitmenschlichen und solidarischen Umgangs miteinander angewiesen sind. Es hat einen streng theologischen Grund, wenn wir sagen, dass die Nächstenliebe gerade in der Liebe zum Feind ihren klarsten Ausdruck findet.

Die dritte Unterscheidung betrifft das christliche Verständnis der Hoffnung. Der christliche Glaube überlässt die letzte Wahrheit Gott und verwahrt sich so gegen jeden Versuch letzte Wahrheiten mit Gewalt durchzusetzen und totalitäre Heilslehren zu postulieren und in die Praxis umzusetzen, wie wir es im vergangenen Jahrhundert gerade hier in Deutschland – ich erinnere nur an das Konzentrationslager Buchenwald hier in der Nähe – erleben und erleiden mussten. Die christliche Hoffnung unterscheidet Gottes Zukunft, in der allein die Offenbarung einer letzten Wahrheit von Gott erwartet werden kann und der Gestaltung der irdischen Zukunft, die immer vorläufig bleiben muss und auf das verantwortliche menschliche Handeln angewiesen ist. Mit dieser Unterscheidung leistet die christliche Kirche einen Beitrag zur Humanisierung des Umgangs mit der Zukunft.

Diese drei Unterscheidungsleistungen, diese Trias von „Glaube, Liebe und Hoffnung“ (vgl. 1.Kor, 13, 13) ist ein „Weltkulturerbe“, welches zu bewahren und gestaltend einzubringen ist.

VI.

Was kann der Protestantismus in der Orientierungssuche der Gegenwart beitragen, gestützt auf die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, die Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten, der Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit? Er kann beitragen zu einem neuen Blick auf den Menschen, in dem dieser Mensch als ein Beziehungswesen wahrgenommen wird. Weder was der Mensch besitzt noch was er selbst aus sich macht, ist entscheidend. Sein Menschsein gründet vielmehr in den Beziehungen, in denen sich menschliches Leben vollzieht: Die Beziehungen zu Gott und zum Nächsten, zur Mitwelt und zu sich selbst konstitutieren menschliche Exisenz.  In einem solchen Bild vom Menschen sind Individualität und Sozialität, Freiheit und Verantwortung miteinander verbunden. Wer sich auf dieses Bild eines seiner selbst bewussten, auf die Gemeinschaft mit anderen angelegten, für Gott offenen Menschen beruft, rückt freilich auch die Kontroversen in den Blick, die sich an dieses Bild heften. Nur durch diese Kontroversen hindurch, nicht an ihnen vorbei kann sich dieses Bild festigen.

Durch solche Kontroversen hindurch will der Protestantismus beitragen zu einer  Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht. Nichts gefährdet in meinen Augen diese Kultur der Anerkennung mehr als eine sich ausbreitende Tendenz, die Rede von der Menschenwürde zur bloßen Leerformel zu erklären. Gewiss darf man das Menschenwürdeargument nicht uferlos verwenden, indem man jede Einzelfrage unmittelbar auf die Menschenwürde zurückführt. Die Warnung vor “Uferlosigkeit” darf dagegen nicht dazu missbraucht werden, bestimmte Menschen und Menschengruppen oder auch bestimmte Entwicklungsstufen menschlichen Lebens einfach aus dem Geltungsbereich der Menschenwürde auszuschließen.

Freiheit und Verantwortung miteinander zu verbinden ist darüber hinaus die Grundidee der Demokratie. Nachdem mit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa auch das kollektivistische Menschenbild ein Ende gefunden hat, besteht die große Aufgabe darin, ein Menschenbild zu entwickeln und zu fördern, das Freiheit und Verantwortung in ihrem Zusammenhang sieht. Daraus, dass der Kollektivismus hinter uns liegt, folgt keineswegs zwangsläufig, dass nun einem isolierten Individualismus das Feld zu überlassen sei. Denn eine Freiheitsauffassung, für welche das Wesen der Freiheit in ihrem willkürlichen Gebrauch besteht, löst sich nicht nur aus der Verbindung mit einem protestantischen Begriff der Freiheit, sondern aus der europäischen Tradition überhaupt. Auch die Aufklärung beispielsweise bekennt sich dazu, dass der vernünftige Gebrauch der Freiheit dem gemeinsamen Leben mit anderen nicht entgegensteht. Gerade in ihrer Freiheit ist die einzelne Person auf ihr Zusammensein mit anderen angelegt. Deshalb hebt die Vorstellung von der Autonomie der freien und selbstbestimmten Person die Verantwortung für das gemeinsame Leben nicht auf, sondern begründet sie. In diesem Sinn erwächst die Verantwortung aus der Freiheit.

An drei aktuellen Debatten möchte ich dies abschließend verdeutlichen.

1. Die Entwicklungen in den Lebenswissenschaften

Ist schon alles Notwendige gesagt – so muss man beispielsweise fragen –  , wenn die Menschenwürde an die Fähigkeit zur Selbstachtung gebunden wird? Gewiss kann man in der Selbstachtung die herausragende Fähigkeit sehen, die den Menschen vom Tier unterscheidet; aber die Unbedingtheit der menschlichen Würde verlangt gerade, dass die Achtung, die wir einem anderen Menschen entgegenbringen, unabhängig davon ist, ob dieser andere zur Selbstachtung fähig ist und von dieser Fähigkeit Gebrauch macht. Zum Gedanken einer unbedingten Menschenwürde gehört eine Kultur der Anerkennung, die nicht bestimmte Entwicklungsstadien des menschlichen Lebens oder bestimmte Gruppen – Kranke oder Alte beispielsweise – von dieser Anerkennung ausschließt. 

Gerade mit Blick auf die Debatte um den Schutz menschlicher Embryonen und um neue Klonversuche ist festzuhalten: Die Menschenwürde gilt, so bald ein menschliches Lebewesen in den Horizont unserer Verantwortung tritt. Wenn ein Menschenkind im Mutterleib heranwächst, gilt es von dem Augenblick an, in dem sie sich dessen bewusst wird. Wenn wir menschliches Leben reproduktionstechnisch herstellen, gilt dies vom künstlich eingeleiteten
Vorgang der Befruchtung an. Wenn wir Menschen klonen, gilt es vom Vorgang des Klonens an.

„Wo das Interesse der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen so stark ist, dass man die Tötung menschlicher Embryonen zur Gewinnung solcher Stammzellen in Kauf nimmt, wird menschliches Leben instrumentalisiert, was ethisch nicht gerechtfertigt ist. Die Würde und das Lebensrecht des menschlichen Embryos, die ihm auch dann von Anfang an zukommen, wenn er außerhalb des Mutterleibs gezeugt wurde, werden damit bestimmten Forschungsinteressen untergeordnet und als weniger wert erachtet. Die Förderung solcher Forschung könnte überdies den Anreiz geben, in Zukunft bei der künstlichen Befruchtung mehr Embryonen bereitzustellen, als aus reproduktionsmedizinischen Gründen notwendig erscheint.“ (3)

Wirklicher Fortschritt zeigt sich nicht darin, dass der Mensch alles macht, was er machen kann. Wirklicher Fortschritt zeigt sich darin, dass er die Handlungsweisen auswählt, die er verantworten kann. Das Klonen gehört nicht zu diesen Handlungsweisen.

2. Das Zusammenleben mit Fremden

Die Gestaltung von Zuwanderung und Integration gehört gegenwärtig zu den Prüfsteinen für die ethische Tragfähigkeit unserer politischen Entwicklung. Aus dem Geist des Protestantismus heraus sind dabei insbesondere die humanitären Aspekte hervorzuheben. Die Unbedingtheit der Menschenwürde erweist sich daran, dass die Rechtsgemeinschaft sich nicht damit abfindet, wenn ein Mensch rechtlos gemacht wird. Die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zeigt uns, wohin ein Ausschlagen des „Weltkulturerbes“ der Menschenwürde führen kann. Rechtlosigkeit ist aber auch heute noch häufig politisch verursacht; deshalb stellt unsere Rechtsordnung politisch Verfolgte und Flüchtlinge unter besonderen Schutz. Die Frage nach den Standards eines gemeinsamen europäischen Asylrechts ist deshalb von erheblichem Gewicht.

Rechtlos werden Menschen aber auch, wenn sie von einzelnen oder Gruppen verächtlich gemacht werden und Gewalt erleiden, ohne ausreichenden Schutz zu finden. Der gemeinsame Widerstand gegen Denkweisen, die Minderheiten diskriminieren und Fremde ausgrenzen, die Gewalt verharmlosen oder selbst ausüben, ist deshalb eine wichtige Dimension einer europäischen Wertegemeinschaft.

3. Erweiterung und Vertiefung der EU

Die Europäische Union steht heute vor der doppelten Aufgabe der Erweiterung und Vertiefung zugleich. Die Forderung nach einer Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses aber nötigt dazu, nach der kulturellen und religiösen Verankerung dieses Prozesses zu fragen. Gewiss wird man sich eine solche Verankerung nur so vorstellen können, dass sie dem europäischen Pluralismus und damit auch der Verschiedenheit kultureller Ausprägungen und religiöser Orientierungen Rechnung trägt. Das romantische Bild einer religiösen Einheitskultur taugt nicht als Leitbild für die Zukunft. Doch der relativistische Werteverzicht, der sich häufig mit einem rein technokratischen Bild Europas verbindet, versagt erst recht vor der Aufgabe, eine Vertiefung der Zusammengehörigkeit in Europa zuwege zu bringen.

Eine Kultur der Anerkennung wie eine Balance zwischen Freiheit und Verantwortung sind auf eine Erneuerung der Kräfte angewiesen, die Europas Identität in der Geschichte auf je neue Weise geprägt haben: auf den Geist von Wissenschaft und Kunst, auf die Herrschaft des Rechts, auf die Quellen der Religion. Mir liegt der Gedanke fern, dass die Religion oder gar der Protestantismus allein für eine solche europäische Identität maßgeblich ist. Aber genauso fern liegt mir die Vorstellung, dass diese Identität ohne die Quellen der Religion, ohne das protestantische Profil auskommt. Auch für Europa gilt Tocquevilles Satz: “Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht.”

Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass Europa sich seiner religiösen und kulturellen Wurzeln erinnert und seine spirituellen und ethischen Quellen erneuert. Doch dass alle Zeichen dagegen stünden, stimmt nicht. Es liegt vielmehr an uns allen, dass Europa sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern sich zur Wertegemeinschaft entwickelt. Wir brauchen nicht dem Missverständnis Vorschub zu leisten, als drehe sich in Europa alles um das Kapital und seine Verzinsung. Es ist auch nicht unausweichlich, dass Europa einfach mit dem Euro gleichgesetzt wird.

Für die Arbeit an der religiösen und kulturellen Identität Europas ist es nicht zu spät. Wir müssen mit unserem Erbe –  ganz biblisch gesprochen –  wuchern, müssen diese Aufgabe  anpacken – so wie die Europa der griechischen Sage den Stier bei den Hörnern nahm. Ob die europäische Idee für unsere Breiten, wie manche sagen, die “letzte Utopie” sei – wer kann das wissen? Aber geschichtliche Gnade hat uns die Möglichkeit eröffnet, dass das größere Europa nicht Utopie bleibt, sondern Wirklichkeit wird.

Fussnoten:

(1) Räume der Begegnung – Religion und Kultur in evangelischer Perspektive, Gütersloh, 2002, Seite 69ff

(2) aaO, S. 71

(3) Appell der Vorsitzenden der DBK und des Rates der EKD vom 24.11.2003