Sollt’ ich meinem Gott nicht singen? - Beitrag zum Psalmendialog, Katholikentag-Teil 2

Robert Leicht

Wir hatten uns vorhin ein wenig gewundert über die in den Psalmen mitunter auftauchenden Verfluchungen - und hatten diese Ausbrüche des leidenschaftlichen Hasses wider die Gottlosen dann als die "Risiken und Nebenwirkungen" jener leidenschaftlichen Gottesliebe diagnostiziert, einer leidenschaftlichen Gottesliebe, die uns in unserer modernen Skepsis und profilarmen Toleranz weithin verflacht, abgekühlt, wenn nicht gar erkaltet ist. Verstehen wir sie noch - wünschen wir sie uns noch?
Was wir da als Hass und Verfluchung gelesen haben, dass könnten wir ja auch als Ausdruck der Selbstgerechtigkeit interpretieren. Wer so genau weiß, wer die anderen sind, wer die Gottlosen sind - ist der nicht schon im Ansatz selbstgerecht?

Oft genug wussten Christen sehr genau, wer die anderen sind oft sogar im eigenen christlichen Pferch: Das sind typische Katholiken, sündigen fröhlich und beichten schnell, so sehen verkniffene, sündenbewusste Protestanten aus. Und so erst die Juden! Und die Muslime -  sind das denn etwa alles islamistische Fundamentalisten. Wenn man das wenigstens an den Kopftüchern erkennen könnte…

Wir haben gesehen, dass Hass und Angst gegenüber den Gottlosen (und den real-existierenden Verfolgern) in den Psalmen zuerst auf die Leidenschaft der Gottesliebe verweisen. Und ähnlich verweist das, was uns in den Psalmen auf eine bedenkliche  Selbstgerechtigkeit der Psalmisten verweisen könnte, zuerst auf die Gerechtigkeit Gottes. Mitunter können einem solche Verweise auf die Gerechtigkeit dann fast wie ein kleines juristisches Kolleg vorkommen. Etwa in dem  Psalm 111 (110 nach der Zählung der Vulgata), den wir soeben vernommen haben:

Psalm 111:3 Was er ordnet, das ist löblich und herrlich; und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich. 4 Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige HERR. 5 Er gibt Speise denen, die ihn fürchten; er gedenkt ewiglich an seinen Bund. 6 Er lässt verkündigen seine gewaltigen Taten seinem Volk, dass er ihnen gebe das Erbe der Heiden. 7 Die Werke seiner Hände sind Wahrheit und Recht; alle seine Gebote sind rechtschaffen. 8 Sie werden erhalten immer und ewiglich und geschehen treulich und redlich. 9 Er sendet eine Erlösung seinem Volk; er verheißt, dass sein Bund ewiglich bleiben soll.

Gerechtigkeit, Bund, Erbe, Recht, Gebote, Bund - alles Begriffe aus dem Rechtsleben. Bund zum Beispiel - dazu würden wir Juristen heute eher sagen: Vertrag. Nur in dem Begriff "Bundesrepublik" kommt noch zum Vorschein, dass damit noch etwas mehr gemeint sein kann. Wir sagen ja deshalb auch nicht "Vertragsrepublik Deutschland". Und wir sprechen vom "Ehebund", wenn wir die richtige Ehe meinen - hingegen vom "Ehevertrag", wenn wir schon bei der Eheschließung an deren Auflösung, mindestens deren mögliche Auflösung denken.

Die immerhin mögliche Selbstgerechtigkeit der Psalmisten verweist also auf eine ganz andere Gerechtigkeit Gottes, als sie sich in unserem Rechtsdenken und in unserer Rechtssprache ausdrücken lässt. Die kritische Frage ist nur, ob nicht unser menschliches Denken über Gerechtigkeit, Gesetz und Vertrag zugleich unsere Vorstellungen über Gott, Kirche und Glauben auf gefährliche Weise kontaminiert hat. Ich habe noch als Kind die Kirche und die Glaubenslehre als etwas kennengelernt, was überwiegend mit Verboten zu tun  hatte: Du sollst nicht, Du darfst nicht, wenn Du das tust, kommst Du in die Hölle, Todsünde, lässliche Sünde usw. usf. (Sie sehen also, ich habe - obschon Protestant - zunächst nur katholischen Religionsunterricht genossen, in einer - das gab es damals noch! - staatlichen Konfessionsschule in Südwürttemberg-Hohenzollern. Und aus dem Beichtspiegel meiner katholischen Kameraden habe ich erst ahnungs- und neidvoll erfahren, was man alles sündigen, auf welch' vielseitige Weise man in die Hölle kommen konnte - damals natürlich. Heute ist das wohl nicht mehr so einfach.)

Jedenfalls: Der Glaubensweg war so dicht mit Verboten ausgesteckt wie heute der Weg zur Arbeit mit Verkehrsschildern: Überholen verboten, Vorfahrt achten, Stop! Typisch deutsch, typisch preußisch, typisch Mensch! Mein Fahrrad ist mit einem Nabendynamo ausgestattet, folglich brennt das Licht immer, wenn ich fahre. Und fast jedes Mal, wenn ich zur Arbeit radle, fährt mich irgendein Passant selbstgerecht an: "Heh, Ihr Licht brennt!"

Welches Missverständnis, Gottes Gerechtigkeit und die Gebote Gottes so zu verstehen! Oder etwa vorschnell vom Judentum als einer "Gesetzesreligion" zu sprechen. Die Psalmen meinen und besingen das anders. Lassen wir Christen, wenn das geht (und mit Verzicht auf Selbstgerechtigkeit geht das ja!) einmal für einen Augenblick die Lehraussage des Paulus zurückstehen, dass wir durch die Erfüllung der Gesetze, also durch des Gesetzes Werke niemals selig werden und vor Gott gerecht werden können - und selbst zwischen uns Lutheranern und Ihnen, den Katholiken, gab es da in jüngster Zeit ja noch das eine oder andere dogmatische Hühnchen zu rupfen. Der  fromme Jude glaubt an die Möglichkeit (und also Pflicht!), Gottes Gebote getreulich zu erfüllen. (Das hat das Trienter Konzil schließlich auch noch so gehalten.)Aber das soll - und darf! - uns nicht dazu verleiten, den Charakter dieser Gebote falsch zu verstehen. Gottes Gebote sind eben etwas anderes als preußische oder bayerische Gesetze - und die Gerechtigkeit Gottes ist etwas anderes als selbst das hochwohllöbliche Kammergericht in Berlin.
Über unsere Gesetze, deren Gewerk und Gewürge, stöhnen wir - der Psalmist aber gerät über die Gerechtigkeit Gottes schwärmerisch ins Singen, wir haben es eben singen gehört:

Psalm 111:1 Halleluja! Ich danke dem HERRN von ganzem Herzen im Rat der Frommen und in der Gemeinde. 2 Gross sind die Werke des HERRN; wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran. 3 Was er ordnet, das ist löblich und herrlich; und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich.


Gesetzeserfüllung als Lusterlebnis - dass soll uns erst einmal ein staatlicher Gesetzgeber nachmachen; oder: vormachen! Und Gottes Gerechtigkeit? Menschliche Gerechtigkeit muss nur zu oft verurteilen - und hat dann oft genug hin-gerichtet. Gottes Gerechtigkeit richtet uns nicht hin, sondern her. Gott als Richter ist ein Her-Richter. Er will uns her-richten - nicht etwa seine Selbst-Gerechtigkeit an uns derart austoben, wie wir das oft untereinander tun, sondern er selbst will uns gerecht machen - und zwar in einem derart umfassenden Sinne, dass das hebräische Wort für Gerechtigkeit, die Sedaqah, schon in der griechischen Sprache des Plato und des Aristoteles mit dem Wort "Gerechtigkeit" allein nicht mehr auszudrücken ist, sondern um das neue Wort "Barmherzigkeit" erweitert werden muss; deshalb haben wir in der Bergpredigt ja auch gleich zwei Seligpreisungen, eine auf die Gerechtigkeit, eine weitere auf die Barmherzigkeit. In der lateinischen  Sprache und im römischen Recht verengt sich das auf den Begriff der "iustitia" - und dann erst bei uns!

Wie geht das alles zu?

Fangen wir noch einmal an bei dem Wörtlein "Bund"! Gott - der Gott Israels und der Gott Jesu Christi - schließt einen Bund mit seinen  Geschöpfen. Und zwar nicht nur einen Mietvertrag oder Ehevertrag. Er wählt die Menschen nicht nur als Vertrags- und Geschäftspartner, sondern er macht sie Bündnispartnern, ja zu: Bundesgenossen. Gott bindet sich selbst - und er bindet sich an sie; und das obwohl die Menschen es an gleicher Treue so oft - und immer öfter - fehlen lassen: immer wieder, immer wieder aufs Neue. Da soll der Psalmist nicht singen - und wir nicht mit ihm?
Das ist uns also ein selbst-gebundener - und nicht etwa ein selbst-gerechter - Gott, der uns in den Psalmen, in der Bibel der Juden wie in der Bibel der Christen begegnet. Wir Europäer im Allgemeinen und wie Deutschen im Besonderen haben bis ins 20. Jahrhundert hinein gebraucht, um von einem Staat freizukommen, der als Obrigkeitsstaat sein Glieder als Untertanen betrachtet und ihnen ohne Ansehen der Person Gesetze auferlegt. Gott, in den Psalmen immer wieder jubelnd besungen, hat seine Geschöpfe von Anfang an als Bundesgenossen erwählt; seine Gesetze sind Geschenke, ihre Annahme und Erfüllung ist reine Lust (und Befreiung von Last, auch von der Last der Sünde) - als fürsorgliche Anleitung zu einem gelingenden Leben. Und  auch dieses: Geschenke gibt man nicht ohne Ansehen der Person, sondern im Gegenteil höchstpersönlich: Für Dich gegeben - das stärke und bewahre Dich zum ewigen Leben!

Da fragen wir uns mit dem Paul Gerhardt zu Recht: "Sollt ich meinem Gott nicht singen, sollt ich ihm nicht dankbar sein?"

Und so singt der Psalmist in dem Lied, das wir - als Psalm 137 (Vulgata) - sogleich hören werden:
Psalm 138:1 Ich danke dir von ganzem Herzen; vor den Göttern will ich dir lobsingen.

Hier will ich noch einen Augenblick innehalten: "vor den Göttern" - klingt das nicht ein wenig irritierend, da wir doch nur von einem Gott reden und beten? Die lateinische Übersetzung weicht dem Textproblem aus und schreibt, anders als auch die englische und die französische Übersetzung:

in conspectu angelorum - im Angesicht der Engel. Eine Reverenz vor der theologisch-dogmatischen "correctness"!

Das an dieser Stelle stehende hebräische Wort - ein Plural! - ist wieder, wie so oft, wie auch die Gerechtigkeit Gottes, von einer so umfassenden, pluralen Bedeutung, dass man es mit mehreren Begriffen umschreiben müsste - etwa so: Gesetzgeber, Richter, Göttliche, Engel - aber eben auch: Gott, Gottheit, Gottgleicher, Gottestat - der wahre Gott, also im intensivst möglichen  Sinne: Gott!

Sei's drum - es gibt für uns wie für den Psalmisten nur einen Grund zu singen, und wir hören nun diesen Gesang im Chor sogleich - und beten zuvor mit:

Psalm 138:1 Ich danke dir von ganzem Herzen; vor den "Engeln" will ich dir lobsingen. 2 Ich will anbeten zu deinem heiligen Tempel und deinem Namen danken für deine Güte und Treue; denn du hast deinen Namen über alles herrlich gemacht durch dein Wort. 3 Wenn ich dich anrufe, so erhörst du mich und gibst meiner Seele große Kraft. 4 Es danken dir, HERR, alle Könige auf Erden, dass sie hören das Wort deines Mundes, 5 und singen auf den Wegen des HERRN, dass die Ehre des HERRN groß sei.


Amen.