Predigt im Festgottesdienst anlässlich der Orgelweihe in der Potsdamer Friedenskirche

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen

I.
Ein Festtag führt uns zusammen. Nach einer langen Zeit des Planens und Wartens, des Bangens und Hoffens, des Bauens und Gestaltens nun dieses Fest: der Auftakt einer Woche, in der gefeiert wird. Hier in der Friedenskirche am Grünen Gitter kann die Einweihung der neuen Orgel begangen werden. Nun erklingt die Orgel wieder – und sie erklingt in neuem Klang. Eine Orgel ist ein Instrument zum Lobe Gottes – ad maiorem Dei gloriam.

Um dieser Aufgabe willen haben Menschen sich eingesetzt und nicht locker gelassen. Die Gemeinde hat Mut zur Zukunft bewiesen. Für die Förderung des musikalischen Gotteslobs auf Zukunft hin haben sich viele Menschen zusammengetan. Einzelne haben das Vorhaben in herausragender Weise finanziell gefördert. Andere haben ihr bescheideneres Scherflein beigesteuert. Viele haben ihre Fachkenntnis eingebracht, ehrenamtlich genauso wie beruflich. Mit dem nötigen langen Atem und mit ihren unterschiedlichen Gaben haben sie an der Wiederherstellung und Erneuerung der Orgel mitgewirkt. Der Erfolg lässt sich sehen und hören. Nicht nur ein neuer Klang, sondern ein neues Licht ist in diese Kirche kommen. Die Öffnung der Rosette nach Westen und den neuen Prospekt der Orgel empfinde ich als ein besonderes Geschenk. Der heutige Tag kann Sie, die Sie an dem Werk beteiligt waren, mit Stolz und uns alle mit Dankbarkeit erfüllen.

Sie alle, die Sie sich für dieses Vorhaben eingesetzt haben, hatten dabei nicht nur sich selbst und unsere Generation im Sinn. Sie hatten auch die nächste Generation im Blick. Auch für sie soll das Lob Gottes laut werden; auch sie soll sich an diesem Instrument freuen – zur Ehre Gottes. Einen Generationenvertrag ganz eigener Art feiern wir heute also. Ja, es gibt auch so etwas wie einen religiösen Generationenvertrag. Dieser Generationenvertrag gehört zu den wichtigen Aufgaben von Familien: Eltern geben ihren Kindern weiter, was sie trägt. Dieser Generationenvertrag bestimmt die Aufgabe der Kirche: Sie ist eine Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Evangeliums. Dieser Generationenvertrag bestimmt auch die Musik, die in der Kirche ertönt: Auf den ewigen Lobgesang der Engel soll die Antwort – heute und morgen. Dafür wurden hier in der Friedenskirche neue Voraussetzungen geschaffen.

Es ist wahr: Im vergangenen Jahrhundert wurde viel dazu getan, um diesen Generationenvertrag aufzulösen. Von Traditionsabbruch ist landauf, landab die Rede. Aber es ist kleinmütig, wenn wir einfach behaupten, der religiöse Generationenvertrag sei abgebrochen. Es liegt an uns, ihn zu erneuern. Zukunft kann neu eröffnet werden, wenn Menschen gemeinsam die anstehenden Herausforderungen erkennen, sie annehmen und auf sie antworten.

II.
Der dem heutigen Sonntag zugeordnete Text aus dem Alten Testament steht im Buch des Propheten Ezechiel im 18. Kapitel. Auch er handelt vom Vertrag zwischen den Generationen. Er handelt davon, wie sich das Verhalten der Eltern auf die Kinder auswirken kann. Hören wir die Worte Gottes, wie sie der Prophet seinem Volk verkündete:

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israel für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. Wenn sich der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, soll der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben. Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott, der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist, denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der Herr. Darum kehrt um, so werdet ihr leben.

Liebe Gemeinde, auf den griechischen Schriftsteller Äsop geht das Sprichtwort zurück, wenn jemandem die Trauben zu hoch hängen, sage er, sie seien sauer. Aus der Bibel aber stammt dass geflügelte Wort: Die Väter haben saure Trauben gegessen; und den Söhnen sind die Zähne stumpf geworden. Die zahnmedizinische Seite dieser Behauptung mag auf sich beruhen. Es ist eine besonders paradoxe Form, darauf hinzuweisen, dass sich erst in der nächsten Generation auswirkt, was in der vorhergehenden unbedacht getan wird.

An welches Beispiel für solche stumpfen Zähne haben Sie gedacht, als Sie die Warnung des Propheten hörten? Wie steht es mit unserem Generationenvertrag? Manche sagen, in unserer Gegenwart gerate er endgültig aus den Fugen. Das Diktat wirtschaftlicher Erfordernisse höhlt die kulturelle Substanz der Gesellschaft in einer Geschwindigkeit aus, die man schon als Windeseile bezeichnen kann. Die Verengung unserer Vorstellungen von Bildung oder die Auflösung der Sonntagskultur sind dafür zwei Beispiele. Unter dem Diktat der Globalisierung erodieren die Grundwerte von Solidarität und Gerechtigkeit. Wie viel dann von der Freiheit bleibt, ist fraglich. Unser Wohlfahrtsstaat, so wird auf der anderen Seite festgestellt, ist zu klobig geworden. Er gleicht einem überdimensionalen Pfeifenfeld, das die Aussicht in den Himmel verwehrt. Was haben wir falsch gemacht?

III.
Unlängst hat jemand eine Weichenstellung in Erinnerung gerufen, die beinahe 50 Jahre zurück liegt. Im Jahr 1957 regelte der Deutsche Bundestag das deutsche Rentenrecht neu. 413 der 456 damaligen Parlamentarier stimmten dafür. Parteiübergreifend wurde das Gesetz unterstützt. Ein heutiger Blick zurück kann also nicht in einem vordergründigen Sinn parteipolitisch gedeutet werden. Es geht um viel mehr.

Für die damalige Entscheidung gab es einen Vorschlag, der einen Generationenvertrag einführen wollte. Der Gedanke war in einfacher Form folgender: Die berufstätigen Familienglieder zahlen die Rente für die vorangehende Generation und erhalten gleichzeitig eine Kinderprämie für die Kinder, die sie versorgen und erziehen. Alleinstehende oder Kinderlose sollten dagegen für die Versorgung der Älteren zahlen und zugleich einen Ausgleich dafür leisten, dass sie nicht für die Erziehung von Kindern aufkommen mussten. Die Grundidee war beeindruckend. Die wertvolle Erziehungsarbeit sollte anerkannt und auch materiell gewürdigt worden. Ein System wäre entstanden, das vielleicht auch Verschiebungen in der Alterspyramide unserer Gesellschaft hätte überstehen können. Mehr Kinder würden automatisch zu einem höheren Rentenniveau und weniger Kinder zur dessen Reduzierung führen.  Doch man folgte diesem Vorschlag nicht. Die Adenauersche Rentenreform amputierte das Gesetz um die Dimension der Kinderprämie. Die stärkere Belastung von Kinderlosen und Alleinlebenden wurde gestrichen. Im Ergebnis lieferte das Gesetz den Ruheständlern eine lohnbezogene Rente; ermöglicht wurde das durch einen Generationenvertrag zwischen den Menschen in Erwerbsarbeit und denen im Ruhestand. Doch gestrichen wurde der Generationenvertrag mit der nächsten Generation, das deutliche Ja zu Kindern. Was aber bräuchten wir dringender als dies, wenn von einem Generationenvertrag auch weiter die Rede sein soll?

IV.
Liebe Gemeinde, der Prophet Ezechiel wird von Gott in erheblicher Weise in Anspruch genommen. Er trägt schwer an dem Auftrag Gottes. Er soll gegen die Ausblendung der Wirklichkeit und gegen die Sorglosigkeit angehen. Beliebt macht er sich nicht. Und doch kann er nicht schweigen. Er muss es seinen Zuhörern in die Seele brennen, dass Gott ihre Larmoyanz nicht mehr ertragen kann.

Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Mütter und Väter gehören mir so gut wie die Töchter und Söhne.

Es reicht nicht, auf frühere Fehler zu verweisen. Jede Generation steht neu in der Verantwortung. Diese Verantwortung erstreckt sich nicht nur auf die gegenwärtig Handelnden. Sie muss auch die nach uns Lebenden im Blick behalten.

Das Prophetenwort befreit aus der eingefrorenen Starre einer kollektiven Schicksalsgläubigkeit, die keinen Ausweg zulässt. Es müssen sich nur ein paar Menschen zusammentun und verbünden. Irgendwann kommt es dann zu der Idee, das mit Brettern vernagelte Fenster wieder zu öffnen. Das Gottesvolk soll nicht denken, dass das Handeln der Mütter und Väter alles ein für alle Mal festgelegt hat.  Der Verantwortungsspielraum der einzelnen Menschen klingt an. Ein Neuanfang ist möglich. Die Bibel erzählt von Begegnungen, in denen Menschen Gott als ihren Befreier erleben. Die euphorische Freude über die Rettung in höchster Not hat sich über die Jahrtausende hinweg in den alten Texten erhalten. Aber auch heute kann es geschehen, dass Menschen, Gruppen oder Völker aus der Wüste oder aus sumpfigem Morast herausfinden und den Weg der Freiheit gehen.

Liebe Festgemeinde, Propheten waren beunruhigende Zeitgenossen.  Sie lebten in gewisser Weise entrückt, ja sie galten in ihrer Wahrnehmung als ver-rückt. Die Propheten des Gottes Israel erkannte man daran, dass sie die Menschen in einer großen Treue zu den Wegweisungen Gottes zu einem Neubeginn ermutigten. Ich übertrage den Schluss des Predigttextes:

Kehrt um und fangt neu an, damit ihr wieder Mut zur Zukunft habt und diesen Mut an eure Kinder weiter gebt.  Geht weitsichtig um mit dem, was euch anvertraut ist, damit eure Gemeinschaft nicht in einer Falle der Schuld und der Schulden zugrunde geht. Verabschiedet euch von allen euren Übertretungen, die ihr begangen habt. Lasst euch ein neues Herz und einen neuen Geist schenken, denn warum wollt ihr sterben? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der Herr. Darum kehrt um, so werdet ihr leben.

Diese Orgel spielt für mich die Musik zu diesem prophetischen Ruf. Die Orgel ist ein Prachttor zum hellen Licht der Wahrheit, sie ist ein Instrument zum Lobe Gottes, sie nimmt uns mit auf den Weg der Erneuerung und der Umkehr. Sie erklingt zur höheren Ehre Gottes: Ad maiorem Dei gloriam. Wenn uns diese Ehre wieder wichtig wird, werden wir es auch an Verantwortung nicht fehlen lassen für die, die nach uns kommen.

Und deshalb: Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, ihm sei Ehre und Preis in Ewigkeit – und auch heute. Amen.