Predigt über Matthäus 26, 17—41 und EG 84 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin in der „Fastenpredigtreihe“

Robert Leicht

Ich bin’s, ich sollte büßen

Blicken wir ein Jahr zurück! Da sorgte der Film von Mel Gibson über die Passion des Jesus von Nazareth für Aufregung. Ein gewaltiger Leinwand-Schinken – ein Leinwand-Epos der nackten Gewalt. Aber ein Gewaltschinken ohne theologischen Tiefgang: Gewalt pur! Jener Film zeigte wohl die Grausamkeit des Kreuzestodes, brachte aber keinen theologischen Sinn in den Justizmord zu Jerusalem.

Ganz anders das Predigt-Lied unseres Passions-Gottesdienstes. Da fließt gewissermaßen der Sinn über. Da kommen zwar auch die Leitworte des Leidens vor – Schläge, Hohn, Spott, Elend, Martern…Aber das brutale Leiden wird von uns wahrgenommen, fast möchte man sagen: nur noch wahrgenommen durch die Selbst-Reflexion einer frommen Seele, durch die Sinndichtung und -stiftung des Paul Gerhardt – geboren 1607 im sächsischen Gräfenhainichen, 1657 Pfarrer drüben in St. Nikolai, hier mitten in Berlin. Die fromme Seele des Liedsängers stellt sich vor das Kreuz, sie stellt sich zwischen das Kreuz und uns, sie verdeckt und entdeckt zugleich das Kreuz für uns. Sie steht gewissermaßen an unserer Stelle vor dem Kreuz  - doppelt: ohne uns und für uns.

Aber Hand aufs Herz: Haben wir es mit dieser Sinndichtung nicht recht schwer?

Ich, ich und meine Sünden,
die sich wie Körnlein finden
des Sandes an dem Meer,
die haben dir erregt das Elend, das dich schläget,
und deiner schweren Martern Heer.

In unseren moralisch schwärzesten Augenblicken und in den hellsten Stunden unserer Selbsterkenntnis mag unsere Gottferne, mag die Todesschwärze eines am Sinnverlust verhungerten Lebens uns so nahe kommen. Aber selbst wenn im alten Testament ein Bock für die Sünden derer sterben soll, die ihn in die Wüste schicken, selbst dann kommt doch erst die Sünde – und dann der Sündenbock.
Hier aber ist die Reihenfolge auf den Kopf gestellt: Jesus von Nazareth hat längst für unsere Sünden gelitten, bevor wir auch nur eine von ihnen begehen konnten, bevor wir auch nur einen ersten Schnaufer getan haben. Wie kann das zugehen? 
 
In der Passionszeit fragen wir uns das. An Weihnachten waren wir da noch unbedenklicher. Da haben wir – übrigens ebenfalls mit Paul Gerhardt – brav und naiv gesungen:

Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.

Aber im Grunde ist das doch dasselbe: Hier wie dort ist Gott uns immer voraus. Weshalb sollte er ausgerechnet dann hinter dem Geschehen her hinken – wenn wir uns von ihm entfernen? Obwohl er doch gerade dann hinter uns her ist:

Denn so steht es geschrieben beim Propheten Hesekiel 34:12 :

Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.

Die nacheilende und eben genau darin immer schon vorauseilende Gnade Gottes bringt unsere eigene menschliche und weltliche Zeiten- und Reihenfolge radikal durcheinander – so durcheinander, dass selbst die stellvertretende Übernahme unserer Schuld noch unserer Schuld vorauseilt. Das eben ist die vorauseilende Gnade Gottes, jene von Augustinus schon beschworene gratia praeveniens.  Und das ist der Unterschied: Wenn wir Menschen und Staatsmänner – zum Beispiel mit militärischen Mitteln – präventiv tätig werden wollen, dann wollen wir mit Gewalt der Gewalt wehren. Gottes Prävention kommt nicht mit Gewalt daher – sondern mit Gnade und Geduld, wie es denn auch in unserem Lied heißt: „und leidest alles mit Geduld.“  Wie sollen, wie könnten wir das verstehen?

*
Just unser Predigt-Lied hat Johann Sebastian Bach in sehr bezeichnender Weise in seine Matthäus-Passion eingeflochten, auch in jenen Abschnitt, den wir als Lesung gehört haben – zwei seiner Strophen lässt er als Choralsatz singen, die 11. Strophe, die wir nach der Predigt singen werden, zitiert er indirekt in der Tenor-Arie: „Geduld“ – da haben wir übrigens wieder das leitende Wort, das Leidens-Wort – denn Geduld und Leiden, patientia und passio haben ja eine geistige Wurzel: „Geduld, Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen…“

Schauen wir also auf die Passionsgeschichte nach Matthäus. Wir setzen, wie die Lesung vor der Predigt, ein bei den Vorbereitungen zum letzten Mahl:

LUO Matthew 26:17 Aber am ersten Tag der süßen Brote traten die Jünger zu Jesus und sprachen zu ihm: Wo willst du, dass wir dir bereiten das Osterlamm zu essen?

Dieser Jüngerfrage unmittelbar voraus ging der Verrat des Judas:

LUO Matthew 26:14 Da ging hin der Zwölf einer, mit Namen Judas Ischariot, zu den Hohenpriestern 15 und sprach: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Und sie boten ihm dreißig Silberlinge. 16 Und von dem an suchte er Gelegenheit, dass er ihn verriete.

Diese Verratsgeschichte überschattet nun die ganze Abendmahlsszene. Auf all den Gemälden der Kunstgeschichte finden wir dieses eine finstere, abgewandte, in doppelter Weise: verräterische Gesicht – leider auch mit üblen antisemitischen Zügen, als ob es nicht die ersten Judenchristen waren, die in  diesem Drama ihre eigene, paradoxe Heilsgeschichte erkannten.

Doch das Drama des großen, scheinbar einzigen Verrates darf nicht die vielen anderen Geschichten des Verrates verdecken, die in diesem Abschnitt des Matthäus-Evangeliums sich in beklemmender Weise häufen – und eben in diese Verratsgeschichte hinein hat Johann Sebastian Bach unser Predigtlied von Paul Gerhardt in theologisch höchst bezeichnender Weise komponiert.

Im Garten Gethsemane haben Petrus und die „zween Söhne Zebedäi“ nichts Besseres zu tun, als drei Mail hintereinander einzuschlafen, während ihr Meister Blut und Wasser schwitzt und angstvoll betet:

Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!

Und nach dem dritten Mal hören wir die letzten Worte, die Jesus auf freiem Fuße spricht:

LUO Matthew 26:45 …Ach wollt ihr nur schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, dass des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. 46 Stehet auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!

Vorher schon hatten wir den großsprecherischen Schwur des Petrus gehört, mit dem dieser Jesu harte Ankündigung beantwortet:

LUO Matthew 26:34 …Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

Was sagt da unser Kirchenfels?

LUO Matthew 26:35 …Und wenn ich mit dir sterben müsste, so will ich dich nicht verleugnen.

Wir wissen ja, was daraus wurde. Aber bevor wir nun wiederum die Linie zwischen Petrus und den übrigen Jüngern allzu scharf ziehen – und diesmal nun nicht etwa verlogen antisemitisch, wie zwischen Judas und den übrigen, sondern vielleicht verborgen antikatholisch – , bevor wir dazu neigen, sollten wir nicht vergessen, was die Jünger allesamt zusammen mit dem Petrus versprochen hatten, denn nach Petri großen Worten heißt es ausdrücklich:

LUO Matthew 26:35 …Desgleichen sagten auch alle Jünger.

Nun aber das stärkste Stück! Zu Beginn des Abendmahls sagt Jesus unvermittelt zu seinen Jüngern:

LUO Matthew 26:21 … Einer unter euch wird mich verraten.

Nun hören wir genau hin! Die Jünger sagen nicht etwa: Aber das ist doch völlig unmöglich! Einer von uns? Ausgeschlossen! – Sie fragen auch nicht etwa: Wer?– Wer denn?
Sondern – und eigentlich müsste uns dabei der Atem stocken –

LUO Matthew 26:22 … sie … hoben an, ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: HERR, bin ich's?


Mit anderen Worten: Jeder unter ihnen hielt es durchaus für möglich, dass er selber der Verräter sein könnte – ja, dass sie möglicherweise allesamt zum Verrat fähig wären. Sehr verräterisch!

Johann Sebastian Bach indessen wartet in seiner Matthäus-Passion nicht erst die Antwort Jesu auf diese Frage ab, sondern er lässt die Gemeinde, er lässt alle Zuhörer mit Paul Gerhardt und der vierten Strophe unseres Predigtliedes ebenso antworten – wie wir nun alle mit einstimmen:

„Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen
gebunden in der Höll;
die Geißeln und die Bande
und was du ausgestanden,
das hat verdienet meine Seel.“


Ich bin’s, ich sollte büßen… Übrigens, in seiner anderen, in der Johannes-Passion setzt Johann Sebastian Bach den vorhergehenden Vers („Ich, ich und meine Sünden“) in ganz ähnlicher Absicht ein – die zweite Strophe („Wer hat dich so geschlagen…?“) sogar an derselben dramaturgischen Stelle; fast könnte man sagen, dieses Lied sei Bachs eigentliches Passionslied…

Aber nun: In seiner Zuspitzung des Gerhardtschen Liedes stellt uns Johann Sebastian Bach auf eine ganz bemerkenswerten Weise in die Nachfolge – zwar nicht sogleich Jesu, aber doch in die Nachfolge der Jünger. Ich, ich… Du, Sie, wir alle werden nämlich mit den Jüngern identifiziert – und zwar nicht etwa mit frommen, starken, überlegenen, heiligen Jüngern, sondern mit Jüngern in ihrer schwächsten, schwärzesten Stunde. Wir werden in diesem Passionsgeschehen (und durch dieses Lied) in eine Reihe gestellt mit den Jüngern, die es – jeder für sich – durchaus für möglich halten, sie selber könnten es sein, die den Herrn anschwärzen wie der mieseste IM; von denen der vermeintlich Felsenfesteste trotz seines Schwurs, er werde lieber sterben, alsbald seinen Herrn jämmerlich verleugnet; und von denen dreie, Petrus und die Zebedäus-Söhne, sich gleich drei Mal hintereinander im Garten Gethsemane seelenruhig, ja: seelenstumpf aufs Ohr hauen, während ihr Meister verzweifelt aufs Angesicht fällt und betet.

Das ist uns also eine schöne Nachfolgegesellschaft – auf die da später die christliche Kirche aufgebaut werden wird. Mit solchen Leuten fing das an? Was will man mit solchen Leuten schon anfangen?
Eine schöne Gesellschaft, in die wir da gestellt werden! Aber ist es nicht genau die richtige Gesellschaft, in die wir auch gehören?
Ja durchaus, und zwar aus zwei Gründen:

Zunächst kennen wir die Geschichten des kleinen und großen Verrats aus unseren eigenen Lebensläufen, aus unserem Alltag doch nur zu gut. Das fängt an beim klatschsüchtigen Nachreden über andere vor Dritten. Stellen wir uns doch nur für einen Tag vor, wir redeten miteinander über Abwesende nur so, als stünden sie dabei. Wie sehr würden sich unsere Gespräche verändern – und vor allem: verkürzen! Das Verraten und Verleugnen setzt sich fort im Vorbeigehen an vormaligen Freunden, die vom Misserfolg oder von ihren eigenen Fehlern eingeholt oder die aus einem politischen oder sonstigen Amt abgewählt wurden.Und es wird zum vollen Verrat im feigen Ausweichen und Schweigen, wenn einer zu Unrecht verfolgt wird, dem wir doch beistehen sollten.

Gestern wurde in der Gedenkstätte Sachsenhausen eine Stele enthüllt - zur Erinnerung an Friedrich Weißler, den ersten Märtyrer des Protestantismus und ersten ermordeten Richter im Dritten Reich. Ein doppelter Märtyrer – und dies wiederum doppelt: als Jude und als Christ. Weißler war dem Recht treu geblieben - und wurde von seinen Kollegen im Stich gelassen; er war seinem Herrn treu geblieben – und wurde von seiner Kirche aus dem Dienst gedrängt, wohlgemerkt: von der Bekennenden Kirche! Wie der jüdisch-protestantische Pfarrer Hans Ehrenberg in Bochum. Mit jedem einzelnen Märtyrer erinnern wir uns peinlich der vielen Einzelnen (und unserer ganzen Kirche), die ihren Herrn und seine treuesten Knechte verleugnet haben.

Peinlich, nicht wahr, diese unsere Jüngerschaft? Freilich, mit genau solchen Jüngern verbrachte Jesus von Nazareth seine letzten Erdenstunden vor dem Karfreitag; mit just solchen Jüngern fing die Kirche nach Ostern an.

Diese Einsicht sollte uns instand setzen, den eigenen Verrat in aller Schärfe wenigstens zu sehen – und nicht nur vorschnell vor uns hin zu singen: „Ich, ich und meine Sünden…“  - oder „Ich bin’s, ich sollte büßen…“. Gerade dieser Blick auf die Jüngerschaft am Gründonnerstagabend und in der Nacht zum Karfreitag sollte uns von dem Zwang befreien, unser eigenes Verleugnen und Verraten heillos zu verdrängen. Und erst wenn wir dieses Versagen an uns selber frei erkennen und bekennen dürfen, werden wir nicht mehr in den billigen Trost ausweichen müssen, der so herrlich bescheiden und vermeintlich so wenig selbstgerecht daherkommt: Wer weiß, wie ich mich verhalten hätte – damals 1936, 1937, vor 1989…?

Es mag ja sein, dass wir es nicht wissen. Aber Jesus von Nazareth wusste es von Anfang an, – als er sich an Judas wandte und an Petrus:

LUO Matthew 26:34 …Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

Und nun ein Letztes! Ich weiß nicht, ob Sie diese Erfahrung kennen: Man hat irgendwo in seinem Leben fürchterlich gefehlt – aber ohne dass es jemand gemerkt hat. Normalerweise ist man ja froh, wenn man nicht erwischt wurde bei einer Missetat. Aber es gibt Übeltaten, die verfolgen einen gerade deshalb, weil sie niemand kennt – und weil man nicht wagt, mit irgendjemandem darüber zu reden.

Jesus von Nazareth wusste von dem Verrat und dem Verleugnen seiner Jünger – und zwar im Voraus. Er wusste von der drohenden Untreue – aber er drohte ihnen nicht mit dem Entzug seiner Treue. Dem vorauseilenden Opfer Jesu entspricht sein Vorauswissen von unserer Schuld. Und nur wegen dieses heilsamen Vorauswissens – das unserem Fehlen vorausgeht, wie der Schatten unserer Taten uns ewig folgen würde ohne Vergebung – , nur durch dieses Vorauswissens werden wir instand gesetzt, wenigstens hernach in unsere letzten Abgründe vollends hineinzuschauen.

Erst dann aber sind jene Strophen – „Ich, ich und meine Sünden“ und „Ich bin’s, ich sollte büßen“ – davor bewahrt, nur als Ausdruck barocker Jesus-Schwärmerei in den Gesangbüchern zu stehen. Dann stehen – dann erst ver-stehen wir – sie als realistische Beschreibung unserer Lage, vom Jünger am Gründonnerstag über den Verrat an Friedrich Weißler und Hans Ehrenberg, vom Verleugnen in beiden deutschen Diktaturen, das wir über allem tapferen und zaghaften Bekennen nie vergessen dürfen –  bis zu all dem, was uns selber betrifft und noch betreffen wird.

Amen.