Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung ‚Philipp Schönborn, Heiliges Land’

Wolfgang Huber

Museum für Fotografie, Berlin

Eine Ausstellung unter dem Titel ‚Heiliges Land’ ist ungewöhnlich. Jedenfalls dann, wenn sie wie diese nicht die Absicht hat, den unzähligen fotografischen Abbildungen israelischer und pälästinischer Landschaften in ihrer Schönheit und Geschundenheit weitere hinzuzufügen. Hier und heute geht es um anderes. Hier und heute  geht es nicht um eine geografische Ortsangabe, sondern um den inneren Grund dafür, dass wir immer noch und weiterhin vom Heiligen Land reden. 

Ausgangspunkt und Perspektive der hier um uns versammelten farbenprächtigen Arbeiten Philipp Schönborns ist immer wieder Jerusalem, ‚Mitte der Welt’, wie er eines seiner Bilder nennt (Katalog Nr. 117); die Stadt der Verheißung und der Gefahr, die Stadt, die Christen, Juden und Muslime gleichermaßen als ihre heilige Stadt ansehen.  Nirgends sonst auf der Welt leben Christen, Juden und Muslime so eng beieinander und bleiben sich doch oft schmerzlich  fremd und vieles schuldig.
 
Abraham wurde hier am legendären Berg Moria in dramatischer Weise von Gott auf die Probe gestellt, um schließlich die Bestätigung seiner Verheißung zu empfangen, die ihm und seinen Nachkommen Segen verheißt, der auch zum Segen werden soll für alle Völker auf Erden. Hier ist der Ort, an dem der König Salomo den Tempel errichtete. Hierher musste Jesus zu seinem Todesmartyrium pilgern, aus dem ein Triumph göttlichen Lebens erwuchs. Von diesem Berg aus stieg Mohammed nach einer muslimischen Überlieferung auf einem Pferd zum Himmel auf. Heiliges Land – voll von der Präsenz Gottes, lesbar für Juden, Christen und Muslime.

Vielleicht ist es eben gerade dies an den Bildern Schönborns, was sie so ungewöhnlich macht: sie erinnern an die inneren Bezüge von Judentum, Christentum und Islam jenseits aller Klischees. Sie geben dadurch zu denken, dass sie das Entdecken von Nähe zwischen den Religionen auf überraschende Weise nahe legen: Da ist diese ungewöhnlich eindrucksvolle Arbeit ‚Mitte der Welt’. Vier rechteckige Bildtafeln sind so zueinander geordnet,  dass sie ein griechisches Kreuz bilden; sie berühren sich jeweils an den vier Ecken, das Blau in den Bildflächen lässt uns an die vier Himmelsrichtungen denken. Außerdem erkennen wir rechtwinklig zueinandergestellt die Ecken der Jerusalemer Tempelmauer, die ein Geviert umschließt, das leer bleibt. Ein weißes Quadrat, lichte Mitte des Kreuzes, eindringlich geweiteter Raum, unbestimmt, ins Freie verweisend wie ein geöffnetes Fenster in eine andere Dimension. Durchbruch. Heraus aus Festlegungen, mit denen wir gegenseitig zu Tätern und Opfern werden. Will diese Arbeit gelesen sein als einladende Erinnerung an die den drei monotheistischen  Religionen gemeinsame Mitte – sozusagen als Verweis auf die gemeinsame Herkunft und gegenseitige Verpflichtung zu Achtung und Toleranz? Unübersehbar ist die Einladung, die gemeinsame Mitte im Auge, ja in allen Sinnen zu halten.

Auch die weit ausgreifende Arbeit ‚Abraham’, mit ihrem anziehenden Spiel der Farbe ‚Blau’  mag in eine ähnliche Richtung verweisen.  Auch hier begegnet uns wieder unübersehbar die zentral gesetzte ‚Leerstelle’, das weiße Quadrat. Die Beschreibung, die der Künstler selbst diesem Bild gibt, verdient es, hier zitiert zu werden: „“Gott können und sollen wir nicht darstellen und ohne Bild von Gott können und wollen wir nicht leben. Wir schauen hinauf zum Vater unser im Himmel, um seine Himmelsstimme zu hören, so wie Abraham, und versuchen, wie er ins Himmelreich zu kommen. Himmel und Himmelsblau wurden zu einem Symbol für Gott, für den Ort Gottes und für Sehnsucht nach Gott. In bewusster Einfalt sage ich mir: Gott ist Himmel und viel Himmel ist viel Gott. Also gehe ich an den tiefsten Punkt der Erde, das Tote Meer, um viel Himmel über mir zu haben. Dort setze ich mich mit der Kamera ins Wasser, um noch zwei Meter Himmel zu gewinnen und photographiere den Himmel nach Osten, Westen, Norden und Süden mit je vier Aufnahmen bis fast an den Horizont. Die Himmelsstelle senkrecht über mir bleibt aus Ehrfurcht unphotographiert. Die sechzehn Aufnahmen werden, so wie sie entstanden sind, an die Wand montiert. Das Zentrum dieses Himmelszeichens ist ein leuchtend weißes Quadrat, aus dem die Himmelsstimme zu Abraham und seinen Nachkommen spricht: DIR UND DEINEN NACHKOMMEN WERDE ICH GOTT SEIN. DURCH DICH SOLLEN ALLE VÖLKER DER ERDE SEGEN ERLANGEN.“

Philipp Schönborn will demnach anzeigen, dass die Mitte, Grund und Geheimnis der Welt, dass Gott selbst undarstellbar bleibt. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“ heißt es in einem eindrücklichen Adventslied, das Jochen Klepper angesichts tiefster Todesnot gedichtet hat.  Das Wissen um die Ferne, um die Nichtdarstellbarkeit Gottes in Farbe und Form bewahren die Kinder Abrahams als gemeinsames Erbe auf. Sie ehren ihn in ihrer Einzigkeit gerade darin, dass sie ihn nicht auf ein Bild festlegen, obwohl sie, wie Schönborn sagt, ein solches Bild brauchen. Das Bilderverbot vermag deshalb immer wieder ein Schlüssel zum Dialog, zum wechselseitigen Verstehen und Befragen sein.

Gleichwohl aber verbindet sich mit dem Namen Gottes immer wieder eine Anschauung, eine Darstellungsform, in der sich Gott und Leben miteinander verbinden. Dass Gott, der sich unseren Darstellungen entzieht, sich selbst darstellt, ist der Kern des christlichen Glaubens. Jesus Christus ist der Name für diese Selbstdarstellung Gottes. In ihr verschränken sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit miteinander – etwa wenn es im 1. Johannesbrief (4,16. 20) heißt: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. ... Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“ Gottesliebe und Liebe zum Nächsten werden hier reziprok thematisiert. Der Unsichtbarkeit Gottes steht die Sichtbarkeit des Nächsten gegenüber. Wie wir uns zum Nächsten, zum Andern stellen, gibt zu erkennen, wie wir es mit der Mitte des Lebens halten und ob wir längst  dabei sind, die bewahrende Mitte, das Gleichgewicht, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
 
Im Buch Exodus (33,20) begegnet uns die Szene zwischen Gott und Mose, in der Mose Gott bittet, ihn sei Antlitz sehen zu lassen. Mose erhält zur Antwort: “Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Allerdings kündigt Gott an, er wolle sich von hinten sehen lassen, nachdem seine Erscheinung bereits vorübergegangen ist. Der französische Philosoph Emanuel Lévinas hat diese biblische Szene so gedeutet, dass der unsichtbare Gott so etwas wie eine eigentümliche Spur hinterlässt, in der sich alle die bewegen, die nach seinem Bilde geschaffen sind.

Die doppelte Beziehung, in der Menschen stehen – die Beziehung zum unsichtbaren Gott, der sich nur von seiner Rückseite sehen lässt (Christen nennen diese abgewandte Seite Gottes das Kreuz), und die Beziehung zu dem sichtbaren Nächsten – ist in vielfältigen Hinsichten gefährdet und zerbrechlich. Auch von der Beziehung der drei monotheistischen Religionen zueinander gilt das. Dass sie sich alle drei auf Abraham beziehen, kann nicht bedeuten, dass wir unter dem beruhigenden Titel der „abrahamitischen Religionen“ blind  werden für das Konfliktpotential, das in ihrem Verhältnis enthalten ist. Philipp Schönborn hat ein waches Auge für dieses Konfliktpotential. Das Bild „Jerusalem“ lässt den Konflikt geradezu grell hervortreten. Ein Farbanschlag auf eine Brunnenanlage vor dem Damaskustor bildet den Anlass. Für Philipp Schönborn ist das Rot dieses Anschlags, die Farbe des Bluts, eine Flammenschrift an der Wand, ein Menetekel, das zeigt, wie gefährdet der Friede ist – gerade in der Heiligen Stadt, die sein Unterpfand sein sollte. Als Ruf zur Demut kann man die Mahnung verstehen, die daraus folgt.  Provokativ wird sie unter den Titel „ALLER HEILIGSTES“ gestellt. Nach der Art eines Kartenhauses sind Ecken der Tempelmauer, des Felsendoms, der goldenen Kuppel übereinander gebaut. Man weiß, wie labil ein Kartenhaus ist, man spürt, dass dieses Gebilde vom Einsturz bedroht ist. Auch das „ALLER HEILIGSTE“ ist menschengemacht, der Gewalt ausgesetzt, gegen den Zusammenbruch nicht gefeit. Wenn Gottes Unsichtbarkeit geleugnet und er den menschlichen Bemächtigungsversuchen ausgesetzt wird, ist der Friede gefährdet, der doch gerade in seinem Namen herrschen sollte.
 
Unser Verständnis für das Gespräch zwischen den einander fremd gewordenen Kindern Abrahams, für eine tragfähige soziale Ordnung, die auch das Fremde, Andersartige als Gabe und Aufgabe begreift,  bemisst sich daran, ob es uns gelingt, die von Gott gelegte Spur als verpflichtende Einladung für unseren eigenen Weg zum Anderen hin zu begreifen.  Davon wird abhängen, ob wir die Kraft finden, Frieden zu bewahren und einen gerechten Ausgleich der Interessen zu gestalten.

Es lohnt sich, der Botschaft der Bilder und leuchtenden Objekte Philipp Schönborns zu begegnen. Sie können sogar zu Andachtsbildern werden, die zu denken geben. Denn schließlich ist die Begegnung mit der Kunst ja ein oft mühevoller, aber immer aussichtsreicher Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden. Dass Kunst uns das dafür Nötige zu denken gibt, brauchen wir gerade heute. Dafür gebührt diesem Künstler, gebührt Philipp Schönborn ein besonderer Dank.