Predigt im Eröffnungsgottesdienst des Kirchentages

Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann

Bühne am Opernplatz

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Du bist gefragt


Liebe Gemeinde,

willkommen zum 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag! Wir haben uns auf Sie alle gefreut als gastgebende Landeskirche, als gastgebende Stadt und Region. Ich freue mich, dass wir ein Fest des Glaubens miteinander feiern können, das brauchen wir, das stärkt uns, das tut gut.

Unser Predigttext für den Eröffnungsgottesdienst nimmt die Losung in ihrem Kontext auf. Als wir in den vergangenen Monaten immer wieder über die Kirchentagslosung nachgedacht haben, sind mir drei Punkte ans Herz gewachsen: das Fragen, die Kinder und die Verantwortung. Und das sind doch drei schöne Punkte zum Gliedern einer Predigt!

Kommen wir zunächst zum Fragen. Die Dynamik unseres Textes wird in Gang gesetzt durch die jüngere Generation. Sie fragt die ältere – wohl in einem öffentlichen oder vielleicht auch familiären Ritual. „Warum lebt ihr so?“ Und die Älteren antworten, indem sie verweisen auf Gott, der sie befreit hat aus Ägypten, auf Gott, der dem Volk Israel die Tora, Gebote und Weisungen auf den Weg gegeben hat. Das sind Gebote, die für Recht stehen und Gerechtigkeit, dafür, dass die Fremden zu schützen sind und Leben insgesamt. Dafür, dass Gott unser Gott sein will und wir Gott lieben sollen von ganzem Herzen. Fromme Juden, denen dieser Text sehr am Herzen liegt, konnten so antworten.

Wenn bei uns die Jungen fragen, dann geht es scheinbar immer eher im negativen Unterton um die Verantwortung der Eltern- und Großelterngeneration, ja um Schuld. Die Achtundsechziger etwa mit jener berühmten Frage: „Wie konntet ihr das zulassen?“ Und diese Frage war ja auch wichtig, sie treibt uns auch heute um, wenn wir 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Bilder sehen von Auschwitz, von Treblinka, oder auch die Bilder aus Stalingrad. Was habt ihr getan, warum gab es so wenig Widerstand gegen diese menschenverachtende Ideologie? Wie konntet ihr christliche Lieder singen und nicht schreien, als die Juden deportiert wurden? Wann immer das ganz eigene Schicksal eines Menschen, der jener Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten ausgeliefert war, vor unser Herz kommt, wird dieses Grauen bis heute lebendig.

Doch wo ist mit Blick auf Christinnen und Christen heute diese Frage, wie das Judentum sie offenbar kennt: Warum betet ihr? Warum ist euch der Gottesdienst so wichtig? Warum handelt ihr so konsequent im Einsatz für die Obdachlosen, die ohne Arbeit, die Flüchtlinge? Könnte es sein, dass uns als Christinnen und Christen in diesem Land gar nicht abzuspüren ist, dass wir bewusst im Glauben leben und aus dem Glauben handeln? Merkt noch jemand, dass uns ein besonderer Geist bestimmt, dass wir in unserem Glauben an Gott Halt finden im Leben und im Sterben? Oder wie Xavier Naidoo singt: „Alles was zählt ist die Verbindung zu dir und es wäre mein Ende, wenn ich diese Verbindung verlier’!“ Ist das spürbar an uns, dass hier unsere Priorität liegt, dass wir die Verbindung zu Gott nicht verlieren dürfen? Oder sind wir verzagt geworden? Nichts ist trostloser als unfrohe, leicht deprimierte Christenmenschen! Wir haben doch Hoffnung, die uns lebendig und fröhlich macht. Jesus hat uns den Weg zu Gott eröffnet. Wir können uns dem Gott anvertrauen, der schon Israel aus der Sklaverei geführt hat. Begeben wir uns doch nun nicht freiwillig in neue Sklaverei etwa von Geld und Konsum oder auch von „Die Welt ist schlecht, aber ich kann gar nichts tun!“ Glauben hat mit Freiheit zu tun! Das haben die Alten erfahren, die im Text erzählen. Das können wir erfahren, wenn wir uns auf den Glauben einlassen. Freiheit von all den Diktaten der Anerkennung, der Leistungskultur, des Schönseinwollens, der Verlogenheit des schönen Scheins von Geld und Welt.

Und die Kinder als Thema? Ach wie niedlich werden sie oft dargestellt, besonders als Werbeträger. Nicht so ganz ernst zu nehmen, aber gut zum Streicheln und doch anstrengend. Ja, Kinder schenken auch Glück, Lachen, Heiterkeit. Aber Kinder decken auch auf, manchmal erbarmungslos, manchmal überraschend, wo wir schon völlig abgeklärt sind. Ich denke an einen kleinen Jungen, dem ich das Altarbild in einer Kirche erklärt habe, weil er so fragend guckte. Als sein Blick auf Jesus am Kreuz fiel, sagte er spontan: „Boah, was ist dem denn passiert?“. Er hatte offenbar noch nie von der Geschichte gehört und ehrlich mitgelitten, wie wir das oft gar nicht mehr können. Kreuzigung, dass ist für uns Alltag geworden, eine Formel fast. Er hat empathein, das Mitfühlen und Mitleiden ganz authentisch gezeigt und wahrgenommen.

Kinder sind neugierig und können bohrend fragen, ja, ihre Fragen können uns auch in die Enge treiben. Aber es ist traurig, wenn wir ihnen nicht antworten, uns nicht darauf einlassen, unsere eigenen Fragen nicht auch mit ihnen besprechen. Wenn Eltern sagen: „Das mit der Religion, das hat Zeit, das kannst du einmal selber entscheiden.“, dann haben sie aufgehört, zu erzählen von den Erfahrungen mit Gott und dem Glauben. Das Judentum lebt von der Erzählkette: als sei ich selbst bei der Befreiung aus Ägypten dabei gewesen. Aber auch das Christentum ist doch eine Erzählreligion. Seit 2000 Jahren erzählen wir von Jesus, der Gottes Sohn war, der die Sanftmütigen selig gepriesen hat und die Friedfertigen und die reinen Herzens sind. Der am Kreuz starb, aber der nicht im Tod blieb, sondern gezeigt hat, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern ein Schritt auf Gott hin, zu einem neuen Leben in Ewigkeit. Wenn wir das unseren Kindern nicht mehr weitererzählen, brechen wir die Kette des Glaubens ab, dann sind wir arm geworden an Glauben und Hoffnung.

Vielleicht erklärt sich daraus die seelische Vertrocknung, ja die Depression in unserem Land. Ob unser Land deshalb die Lust an Kindern und damit die Hoffnung auf Zukunft verliert? Du liebe Zeit, ich habe doch meine Kinder nicht gekriegt, weil ich an meine Rente gedacht habe! Aus Liebe, aus Lust am Leben habe ich vier Kinder bekommen. Oder sind es wirklich die berühmt-berüchtigten ökonomischen Faktoren, die uns heute regieren? Mehr als jeder vierte junge Mann in unserem Land will keine Kinder, weil er den Wunsch hat, den aktuellen Lebensstandard zu halten. Und bei Günther Jauch sagt einer auf die Frage, was er macht, wenn er 60 000 Euro gewinnt: dann überrede ich meine Frau zu noch einem Kind. Das Kind als ökonomischer Faktor – das ist wahrhaftig ein Trauerspiel. Und damit will ich nicht missachten, wie schwer es für viele Familien ist, Kinder großzuziehen. Nein, es lässt sich nicht ignorieren, dass Kinder in unserem Land ein Armutsrisiko sind.

Wie können wir in dieser Lage Mut zu Kindern machen? Wie können wir auch die einbeziehen und nicht ausgrenzen, die aus den unterschiedlichsten Gründen keine Kinder haben? Wie können wir den 130 000 Frauen jedes Jahr in unserem Land, die ein Kind erwarten, aber sich für eine Abtreibung entscheiden, sagen: doch, es wird einen Weg geben für dich und dein Kind! Diesen Frauen geht es doch nicht um 50 Euro im Monat! Da geht es um ein Land und sein Lebensgefühl! Da geht es um Solidarität, um Netzwerke, um Zeit, um Ermutigung: du bist nicht allein, wir lassen dich und das Kind nicht hängen. Zeigt nicht mit dem Finger auf die Frauen – drei Finger zeigen auf euch zurück! Da sind wir alle miteinander gefragt. Wer nur Mobilität und Geld als Wert kennt, wem Egomanie und der DAX zum Götzen werden, in dessen Welt haben Kinder wahrhaftig keinen Platz. Ja, Kinder machen Dreck, fordern Zeit, sie können tierisch nerven! Aber es ist wunderbar, mit Kindern leben zu dürfen, als Eltern und Großeltern, aber auch als Paten, als Freundinnen und Freunde, als Nachbarinnen und Nachbarn. Mensch, Deutschland, sieh das doch endlich!

Doch: schönreden dürfen wir Kindheit nicht. In einer bewegenden Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum hier in Hannover sind zurzeit Bilder des österreichischen Künstlers Gottfried Helnwein zu sehen. Eins zeigt ein Mädchen mit frechem Gesicht und Blindenband um den Arm, das die Zunge herausstreckt. Erst habe ich gelächelt. Wer den Blick länger verharren lässt, sieht, dass dem Mädchen Blut zwischen den Beinen herunterläuft. Es wurde ganz offensichtlich missbraucht, ihm wurde Gewalt angetan.... Ja, Kinder sind verletzbar.

Kindheit kann grausam sein, wenn Kinder ausgeliefert sind. Ich denke an sexuellen Missbrauch, eine unglaubliche Form von Folter an Menschen, die lebenslang an dem Trauma leiden werden. Ich denke an Kindersoldaten in Togo, im Kongo, im Sudan. Zerstörte Leben, brutal geopfert für idiotische Machtkämpfe, in denen Zerstörung das oberste Gebot ist, in denen es keine Ziele mehr gibt. Ich denke an Kinder in Indien, die schuften schon mit fünf Jahren um ein paar Münzen zu verdienen, damit ihre Familie überleben kann. Ich denke an die 12-jährigen Judith Wischnajatskaja, die im Juli 1942 in ihrem letzten Brief schrieb: “Lieber Vater! Vor dem Tod nehme ich Abschied von Dir. Wir möchten so gerne leben, doch man lässt uns nicht, wir werden umkommen. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebendig in die Grube geworfen.“

Kommen wir damit zur Verantwortung. Wenn unsere Kinder uns fragen, nicht erst morgen, schon heute, was sagen wir? Haben wir Verantwortung übernommen für uns und für die junge Generation, dass sie Glauben haben und voller Hoffnung leben dürfen? Können wir als ältere Generation, ob nun Eltern oder nicht, wagen, wie das jüdische Volk im Text zu sagen: ja, wir erleben den Gott Israels auch als unseren Befreier. Wir haben den Weg der Freiheit durch Jesus Christus kennen gelernt?

Liebe Gemeinde, ich wünsche mir das. Ich hoffe, dass dieser Kirchentag dazu beiträgt, klar zu machen: Wir mischen uns ein! Wir sind verwurzelt in unserem Glauben, wir leben und praktizieren diesen Glauben, wir schämen uns nicht dafür, Christin oder Christ zu sein. Nein, genau da finden wir Halt! Aber genau da beginnt auch unser Engagement für die anderen. Für die Flüchtlinge, die in unser Land kommen, weil sie Freiheit und Zukunft suchen, aber die dann abgeschoben werden. Ich denke an manche herzzerreißende Situation hier bei uns in Niedersachsen. Da wird über die Notwendigkeit von Zuwanderung gesprochen, aber junge Leute, die hier aufgewachsen, oft auch hier geboren sind, werden abgeschoben in eine Fremde, die nach Recht und Gesetz ihre Heimat sein soll. Sie sprechen nur deutsch, sie sind hier zur Schule gegangen, manche hat eine Ausbildung, mancher einen Arbeitsplatz, aber sie müssen gehen. Das ist für mich himmelschreiendes Unrecht, auch wenn staatliche Gesetze sagen, es sei Recht. Da, liebe anwesende Politikerinnen und Politiker, bitte ich Sie auch um Verständnis, wenn Christinnen und Christen sagen: wir können nicht nur Ja und Amen sagen, so sehr wir dieses Land lieben und respektieren als unsere Heimat. Es ist die Liebe zu unserem Land und nicht ein Ärgernis, wenn eine Art „protestantische Bürgerrechtsbewegung“ auf Missstände hinweist mit Blick auf die Flüchtlinge in unserem Land. Mit Blick darauf, dass Tausende im Mittelmeer vor den Inseln, auf denen wir Urlaub machen, ertrinken, weil sie in Europa auf Recht und Freiheit hoffen. Mit Blick auf Globalisierung, die doch keine Frage allein der Wirtschaft ist, sondern eine Frage des Miteinanders von Menschen, der sozialen Gerechtigkeit für alle, auch für die Näherin in Südkorea und auch für den Jungen in Liberia, der als lebende Minensuchmaschine losgeschickt wird.

Ich wünsche mir, dass dieser Kirchentag unseren Blick weitet über unsere Grenzen hinweg und auch auf andere Religionen. Ja, der Islam ist ein besonderes Thema in diesen Zeiten und auch beim Kirchentag. Es ist gut und wichtig, in einen ehrlichen und offenen Dialog zu kommen. Da müssen wir auch streitbar sein, wagen zu sagen: Mann und Frau sind von Gott gleichermaßen zum Ebenbild geschaffen. Gewalt gegen Frauen, Zwangsheiraten und Unterdrückung sind mit unserem Glauben nicht vereinbar. Wir wollen für die Menschenrechte jedes und jeder Einzelnen eintreten, wir schätzen die Religionsfreiheit. Und wir bitten euch, für die Religionsfreiheit der Menschen christlichen Glaubens in den mehrheitlich islamischen Ländern einzutreten. Nur wenn wir bei aller Fremdheit und Verschiedenheit einander respektieren, können wir verhindern, dass aus dem clash of cultures ein clash of religions wird oder auch gemacht wird.

Aber vergessen wir bei diesen aktuellen Fragen nicht, wie verbunden wir unseren jüdischen Schwestern und Brüdern sind. In unserem Land wurde die perfide Idee ausgebrütet, das Volk Israel für immer auszulöschen. Das zieht auch die nachgeborenen Generationen in Verantwortung, wir sind Teil dieser Geschichte. Mit Jüdinnen und Juden teilen wir unseren Predigttext. Es gilt, Respekt zu wahren vor der anderen Perspektive. Auch Respekt vor dem verheißenen Land, das der Text benennt, statt von Deutschland aus gute Ratschläge für Israel zu erteilen.

Wie gut, dass uns die Losung zu Fragen ermutigt! Wo nichts mehr gefragt wird, ist jedes Gespräch zu Ende, jede Spannung erloschen, jede Beziehung tot. Wie gut, dass uns diese Losung zusammenbringt, um zu reden und zu feiern. Unseren Glauben werden wir stärken hier auf dem Kirchentag. Das tut gut. Denn wenn wir nicht wissen, was wir glauben, wie wollen wir anderen Halt und Orientierung geben? Als Menschen verschiedener Generationen, Konfessionen, Nationen und Religionen werden wir in den kommenden Tagen miteinander reden, um Antworten des Glaubens ringen und feiern. Als Christinnen und Christen werden wir nach Wegen suchen, wie wir Verantwortung übernehmen können in unserem Land und unserer Welt. So schließe ich mit einem: Herzlich willkommen in Hannover! Gebe Gott diesem Kirchentag reichen Segen.

Amen