Bibelarbeit auf dem 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag in der Marktkirche zu Hannover (5. Mose 6, 1-25 )

Robert Leicht

Schade, dass Sie wahrscheinlich alle inzwischen Tempo- (oder um jede Schleichwerbung zu unterlassen: Zellstoff-) Taschentücher benutzen – und dass Sie deshalb, wie wir im Schwäbischen sagen, kein richtiges Sacktuch mehr bei sich haben. Aber Sie haben doch wohl noch die Redensart in Erinnerung: „Oh, das darf ich aber nicht vergessen. Da muss ich mir einen Knoten ins Taschentuch machen!“ – Dann aber zog man irgendwann später das Sacktuch aus der Tasche, entdeckte verwundert den Knoten und fragte sich ratlos: „Woran – noch einmal – sollte mich dieser Knoten erinnern? Da war doch irgendetwas!“ Um Gottes willen: Was war das noch, woran ich mich erinnern wollte, was ich nicht vergessen durfte? – Vielleicht Gott selber?

Genau damit aber hat es der Bibeltext zu tun, den wir uns in dieser Morgenstunde erschließen wollen – mit Gottesvergessenheit, Gottesverwechslung und mit Gotteserinnerung.

Hören wir den Text zunächst zur Gänze – und halten wir doch bitte den Text im Kirchentagsprogramm auf Seite 28 immer wieder bereit. Wir klammern dabei aber die Verse 1 – 3 ein; sie gehören – als Abrundung – noch zum vorigen Kapitel, in welchem dem Volk Israel (und uns) die Zehn Gebote nochmals eingeschärft werden. Wir setzen also ein erst beim Vers 4:


4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.
5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
10 Wenn dich nun der HERR, dein Gott, in das Land bringen wird, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, es dir zu geben - große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, 11 und Häuser voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast -, und wenn du nun ißt und satt wirst, 12 so hüte dich, daß du nicht den HERRN vergißt, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat, 13 sondern du sollst den HERRN, deinen Gott, fürchten und ihm dienen und bei seinem Namen schwören.
14 Und du sollst nicht andern Göttern nachfolgen, den Göttern der Völker, die um euch her sind 15 - denn der HERR, dein Gott, ist ein eifernder Gott in deiner Mitte -, daß nicht der Zorn des HERRN, deines Gottes, über dich entbrenne und dich vertilge von der Erde. 16 Ihr sollt den HERRN, euren Gott, nicht versuchen, wie ihr ihn versucht habt in Massa, 17 sondern sollt halten die Gebote des HERRN, eures Gottes, seine Vermahnungen und seine Rechte, die er dir geboten hat, 18 daß du tust, was recht und gut ist vor den Augen des HERRN, auf daß dir's wohlgehe und du hineinkommest und einnehmest das gute Land, von dem der HERR deinen Vätern geschworen hat, 19 daß er verjagen wolle alle deine Feinde vor dir, wie der HERR es zugesagt hat.
20 Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, 21 so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; 22 und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen 23 und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte. 24 Und der HERR hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, daß wir den HERRN, unsern Gott, fürchten, auf daß es uns wohlgehe unser Leben lang, so wie es heute ist. 25 Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, daß wir alle diese Gebote tun und halten vor dem HERRN, unserm Gott, wie er uns geboten hat.


Wenn Sie, wie ich, aufgewachsen sind in einer katholisch-ländlichen Umgebung, dann kennen Sie das gewiss noch von unseren katholischen Schwestern und Brüdern, von ihren katholischen Klassenkameraden und deren Familien – jene Zeichen der Gotteserinnerung: Zu Dreikönig wurden die Buchstaben C+M+B auf den Querpfosten der Tür am Hauseingang geschrieben, rechtzeitig vor dem Palmsonntag schwärmte die Jugend aus, um die ersten Zweige mit Weidenkätzchen zu sammeln, die dann zu Palmbuscheln gebunden, am Palmsonntag mit Weihwasser besprengt und neben dem Haueingang festgesteckt wurden – bis zum nächsten Jahr. Und natürlich der Rosenkranz, jene Gebetskette aus einem Kreuz und 59 Perlen, die jeweils einen Gebetsabschnitt bezeichnen – zuerst das Glaubensbekenntnis, dann das Vater unser, darauf drei Ave Maria und anschließend die 5 mal 11 weiteren Perlen. (Solche Gebetsketten sehen wir dann und wann auch durch die Hand von Muslimen gleiten – manchmal auch in der Tagesschau, während sie – als arabische Potentaten – mit ihren Besuchern aus unserem Westen Unterredungen pflegen.)

Irgendwie erinnern mich diese Zeichen aus meiner Kindheit, wenn das nicht zu respektlos klingt, an jenen Knoten im Taschentuch, an jenes Merkzeichen: Du wolltest Dich doch an etwas erinnern! Was war das noch?

Und diese Merkzeichen aus meiner katholisch umgebenen Kindheit auf der schwäbischen Alb – sie fallen mir wieder ein, wenn ich dem Text unserer heutigen Bibelarbeit begegne, der solche einprägsamen Erinnerungshilfen geradezu zum Gebot macht – obwohl uns die ganz fachkundigen Exegeten auch noch andere Deutungen anbieten; aber sei’s drum:

6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen …8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Diese Verse bestimmen nämlich einen Teil der äußerlich sichtbaren Spiritualität frommer Juden:  

…sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein…

Deshalb bindet sich der fromme Jude beim Morgengebet eine Gebetskapsel (hebr.: Tefillin genannt) mit einem Lederriemen an die Stirn. Diese Tefillin enthalten vier Abschnitte aus der Tora.

…8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand…

Deshalb bindet sich der fromme Jude eine solche Gebetskapsel auch an den linken Arm, dem Herzen gegenüber.

9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Deshalb finden wir am Türpfosten einer jüdischen Wohnung (und aller wichtigen Räume in ihr – Badezimmer, Vorräume und Stallungen ausgenommen) jene Kapsel – „Mesusa“ genannt – in  der sich eine Abschrift eben jener Verse 4-9 unseres Bibeltextes befindet.
Auf der Rückseite des zusammengerollten Pergamentsstreifens steht geschrieben „Schaddaj“ – aber die drei Konsonantenzeichen können auch gelesen werden als die Abkürzung dreier hebräischer Worte: „Er beschütze die Türen Israels.“

Im Rückblick könnte man fast meinen, diese „Mesusa“ weise geradezu auf den erwähnten, in katholischen Regionen gepflegten Brauch voraus, demzufolge am Dreikönigstag (sprich: am Epiphaniasfest, dem 6. Januar) über dem Hauseingang die drei Buchstaben C+M+B neuerlich angeschrieben werden – und die man liest als Abkürzung entweder der Namen der drei Könige (Caspar, Melchior und Balthasar) oder lieber die drei Konsonanten als Abkürzung des Satzes: „Christus mansionem benedicat“ – Christus segne dieses Haus.

Von der Bitte „Er beschütze die Türen Israels“ bis zu dem Gebet „Christus segne dieses Haus“ spannt sich unsere ganze jüdisch-christliche Glaubensgeschichte – bleiben wir dessen eingedenk: auch in einem Land, in dem Christen Juden verfolgt oder deren Verfolgung nur zögernd widerstanden haben, in einem Land, in dem Deutsche diese Gebetsbitte („Er beschützte die Türen Israels“) so schändlich und brutal verachtet haben.
Auch die evangelische Kirche hat sich in jenen Zeiten nicht an die Mahnung gehalten von Vers 25 gehalten,
…dass wir alle diese Gebote tun und halten vor dem HERRN, unserm Gott, wie er uns geboten hat.


Der jüdisch-christliche Pfarrer Hans Ehrenberg wurde 1937 von seiner Landeskirche aus dem Pfarramt gedrängt. Der erste Justititar der Bekennenden Kirche, der jüdisch-christliche Jurist Friedrich Weissler, wurde von den ach so tapferen Männern der Bekennenden Kirche wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Weissler wurde von den Nazis in Sachsenhausen ermordet, Ehrenberg konnte nur deshalb aus den Misshandlungen in Sachsenhausen befreit werden, weil Bischof Bell von Chichester seine Ausreise nach England zu erwirken vermochte. 

Es gab allerdings auch Ausnahmen – wenngleich viel zu wenige: Über den badischen evangelischen Pfarrer Hermann Maas wird berichtet, er habe 1933 am Eingang zu seiner Heidelberger Wohnung eine Mesusa befestigt und diese während der gesamten Nazi-Zeit dort sichtbar belassen, damit jeder Jude und jede Jüdin sehen konnte, dass hier Hilfe und Zuflucht zu finden sei.

Es ist offenbar weder selbstverständlich, dass wir immerzu an Gott und an seine Gebote denken – noch viel weniger, dass wir uns immer dieser Erinnerung gemäß verhalten. Lassen Sie uns nun in Erinnerung an Hermann Maas, Hans Ehrenberg und Friedrich Weissler, vor allem an Gott und seine Gebote singen:

Lied 83, 1-3 (Wohl denen, die da wandeln…)


Es ist also offenbar nicht selbstverständlich, die Biel rechnet auch keineswegs damit: dass wir immerzu an Gott denken. Wir müssen uns seiner vielmehr immer wieder bewusst erinnern – ihn also aus unserer Vergessenheit hervorholen.
Und dazu brauchen wir tagtäglich, wie unser Text es geradezu anordnet, einen Anstoß – dazu müssen wir immer wieder angestoßen werden: Da war doch noch was! Dazu brauchen wir auch handfest spürbare Merkzeichen: Woran denn wollte ich mich noch einmal erinnern?

Eines allerdings imponiert auf besondere Weise an den in unserem Text empfohlenen jüdischen Erinnerungszeichen: Sie stellen keine rein bildhaften, symbolischen Amulette dar, keine leere Zeichen, die – wie der frühlingshafte Weidenkätzchen-Buschel – an der Grenze zum heidnischen Naturglauben siedeln. Sondern sie geben allein Worte der Tora weiter und wieder. „Sola scriptura“ – „Solo verbo“ - „Allein die Schrift, allein das Wort!“ – so möchte man diese heilsame Anordnung, gut lutherisch, kommentieren.

Das geradezu blasphemische Gegenteil finden Sie - zum Beispiel: falls Sie etwa mit der Lufthansa angereist sein sollten, im Bordshop-Katalog, sonst aber – in vielen Schmuckkatalogen: Ein serienmäßig-edel gestaltetes Kreuz, an der Kette zu tragen. Darauf steht freilich nicht der Name des Gekreuzigten gut sichtbar zu lesen, sondern der Name des Herstellers, nicht „Jesus“, sondern „Joop“. Und das ist nun wirklich keine Schleichwerbung.


Gott also kann durchaus vergessen werden. Er lässt sich geradezu vergessen, von uns aus, gar von sich aus – eine ganze Weile lang, auch dies eine Folge der Freiheit der Kinder Gottes, von ihm selber gewährt. Gott drängt sich nicht permanent und penetrant auf, wie die Werbung von Joop oder anderen Firmen. Gott möchte – und muss – erinnert werden. Da war doch noch was…

Diese Erfahrung ist aber uralt – wie unser Bibeltext es zeigt. Zunächst klammern wir zwei wichtige spätere Einschübe aus – und vergegenwärtigen uns den Grundtext dieses Abschnitts. Daher lesen wir – wenn Sie mögen, verfolgen Sie das bitte anhand des Textes – so, dass wir Vers 5 überschlagen und von Vers 9 unmittelbar zu Vers 20 übergehen:

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.

6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

20 Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, 21 so sollst du deinem Sohn sagen … und dann folgen nähere Ausführungen.

Nun erkennen wir zweierlei:

Zum einen: Die Mahnung, sich selber immer wieder an Gott zu erinnern (auch mit jenen spürbaren Gedächtnisstützen), geht unmittelbar über in die Anleitung, dass und wie diese Gotteserinnerung weiterzugeben ist an die nächste Generation.

Und zum anderen: Die Gefahr des Traditionsabrisses, des Abbruchs der Glaubensüberlieferung ist beileibe kein modernes Phänomen. Selbst in der überschaulichen halbnomadischen Stammes-Gesellschaft des Volkes Israel ist diese Gefahr bereits gegenwärtig – vor allem am Anfang der neuartig monotheistischen Zuspitzung des Glaubens. Da braucht es nicht erst das Fernsehen, kein Internet, kein Ausbrechen der Jugendlichen aus dem Familienverband, kein Auseinanderfallen in (sowie der) Kleinfamilien: Dass die Traditionskette abreißen kann, gehört zu ihr als Gefahr von Anfang an – wie auch die Chance, dass sie halten könnte. (Übrigens: Auch das gehört dazu – dass mit einem Mal eine vergessene Tradition wieder lebendig werden kann, zum Beispiel in den Wiedereintrittsstellen der Kirchen oder – viel allgemeiner und blasser – in den Gesprächen über die Wiederkehr der Religion.)


Manches mag uns heute an dem Traditionsabriss dennoch bedrohlicher und leerer vorkommen – in unserer technisch-naturwissenschaftlich-wirtschaftlich-säkular geprägten Zeit. Manches mag uns daran radikaler zugespitzt vorkommen als früher– etwa im Osten Deutschlands, in dem auf die 12 Jahre der heidnischen Nazidiktatur noch einmal 44 Jahre der atheistischen SED-Diktatur folgten. (Aber war die Welt, waren die Kirchen wirklich besser dran, näher am Evangelium, als die Kirchen voll waren, viel zu sagen und zu herrschen hatten?)

Es soll also in ostdeutschen Kirchen vorgekommen sein, dass Besucher den Küster fragten, was diese merkwürdige Figur zu bedeuten habe, die da mit ausgestreckten Armen über dem Kirchenschiff hänge – überhaupt, was dieses Plus-Zeichen überall solle. Da gibt es also nichts zu verharmlosen, an diesem Traditionsverlust, an dieser Gottesvergessenheit. Aber doch auch keine unhistorische Hysterie bitte – sondern die Auf- und Annahme dieser Gefahr als einer der Grundkonstanten der Glaubensgeschichte. Und sehr wohl ein feines Gespür dafür, wie wichtig die Verankerung unseres Glaubens auch im kulturellen Gedächtnis ist, damit wir immer wieder darauf gestoßen werden: Da war doch noch was… Oder: Woran will mich das erinnern?

Gott drängt sich also nicht selber penetrant auf, er will von uns erinnert werden. Aber nicht einfach so – als abstrakte Figur und Autorität. Denn was soll der alte Israelit seinem Sohn, was sollen wir unseren Kindern sagen? Dieses:

Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; 22 und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen 23 und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte.
 
Diese Sätze erinnern uns nicht nur an das erste der Zehn Gebote, die dem Volk Israel gerade noch einmal im vorausgehenden Kapitel des 5. Mose-Buches eingeschärft worden waren.
Unser Text ist darüberhinaus eine Art katechetischer, ein sozusagen „amtlicher“ Kommentar des ersten Gebotes, also lautend:

LUT Deuteronomy 5:6 Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. 7 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Eigentlich schade, dass dieses Gebot in Luthers Kleinem Katechismus verkürzt wurde auf die Worte:
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Verloren geht dabei leicht, dass Gott sich nicht einfach so, als distanzierte Autorität in Erinnerung bringt, sondern dass das Volk Israel seinen Gott zuerst erfährt aus dessen befreiendem Heilshandeln, als Befreiung aus der Knechtschaft – sozusagen ein erstes Kapitel der Befreiungs-Theologie. Und aus dieser exklusiven Befreiungserfahrung, aus dieser liebevollen Zuwendung folgt dann, als befreiter Dank, die exklusive Antwort: Kein anderer Gott als dieser. Oder mit unseren Begriffen ausgedrückt: Das Evangelium geht dem Gesetz vor. Das Evangelium von der Befreiung aus den Händen des Pharao geht dem Gesetz „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“ nicht nur voraus, sondern begründet überhaupt erst seinen Sinn. Und nun könnte man weiter formulieren: Die Einhaltung dieses Gesetzes geht dem noch ausstehenden Einzug ins gelobte Land vor – und als Bedingung voraus. Freilich – und das wäre bei anderer Gelegenheit näher zu untersuchen: Es könnte auch sein, dass das Volk Israel in solchen Texten bereits rückblickend den Verlust seines Landes und seiner Souveränität als Folge der Schuld und der Missachtung der Gebote Gottes reflektiert.

Für uns heutige Leser ist dieser Unterschied freilich von begrenzter Bedeutung. Es bleibt dabei: Erst handelt Gott an uns (das ist, lutherisch gesprochen, seine gratia praeveniens, seine immerzu vorauseilende Gnade) – alles, was uns bleibt, ist die dankbare Antwort. Erst der Indikativ, dann der Imperativ – erst der Zuspruch, dann der Anspruch:

Erst dieses:

LUT Deuteronomy 5:6 Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. 7 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.


Daraufhin jenes:

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, 0deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.

Erst das einzigartige Gotteshandeln – dann die exklusive Beziehung zu diesem einzigen Gott!

Das kann man eigentlich nie vergessen – und muss sich doch immer wieder daran erinnern. Und wenn unser Kind ( oder Nachbar, oder Freund, oder Kollege) uns fragt, dann werden wir ihm eben nicht von der angsterregenden machtvollen Autorität eines unnahbaren Gottes amtlich Auskunft geben, sondern allein erzählen von der Erfahrungen der Befreiung und Bewahrung – und der Begleitung selbst in tiefster Not:

LUT Psalm 23:4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Wir werden also all das erzählen, was wir nun mit dem Lied 45 und seinen drei Strophen singen wollen:

Lied 45, 1-3 (Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen)


Nun wenden wir uns den beiden Erweiterungen zu, die unser Grundtext in zwei Stufen erfahren hat. Da haben wir es im ersten Fall – in den Versen 10 bis13 – zu tun mit der Gefahr der Gottesvergessenheit, im zweiten Fall – in den Versen 14 bis 19 – mit der Gefahr der Gottesverwechslung, auch mit der Verwechslung von Gott und Götzen.

Zum ersten Fall:

10 Wenn dich nun der HERR, dein Gott, in das Land bringen wird, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, es dir zu geben - große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, 11 und Häuser voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast -, und wenn du nun ißt und satt wirst, 12 so hüte dich, daß du nicht den HERRN vergißt, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat, 13 sondern du sollst den HERRN, deinen Gott, fürchten und ihm dienen und bei seinem Namen schwören.

Da scheint es zuzugehen wir im Schlaraffenland oder, wie der Schwabe sagen würde, auf einem gemähten Wies’le:

…große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, 11 und Häuser voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast…

Was ist wohl mit den Leuten geschehen, die alles das aufgebaut haben, diese schönen Städte, Häuser, Brunnen, Weinberge, Ölbäume? Wo sind sie geblieben? Vertrieben im Prozess der Landnahme – wie wir gleich noch erfahren werden! Das kann einem schon den Atem verschlagen, vor allem, wenn man die unserem Text unmittelbar folgenden Passagen liest:


LUT Deuteronomy 7:1 Wenn dich der HERR, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du, 2 und wenn sie der HERR, dein Gott, vor dir dahingibt, daß du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben 3 und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne.

Man bringt solches nur sehr gehemmt zur Sprache als Angehöriger eines Volkes, das selber die Juden zwischen 1933 und 1945 der Vernichtung preisgegeben hat – und als Nachkomme in einem Volk, das 1939 zu einem verbrecherischen Angriffskrieg– also: zu einer Landnahme ohne Rücksicht auf die dort lebenden Menschen aufgebrochen ist.
Aber diese hier dokumentierte Verknüpfung der Landverheißung an Israel mit der Vertreibung und Ausrottung der bisher dort lebenden Völker, mit der gnadenlosen Ausrufung des Heiligen Krieges gegen sie ( das ist gemeint mit der Formel „den Bann vollstrecken!“) – mit der Verweigerung jeder Integration und doppelten Staatsbürgerschaft: Dies alles ist doch mehr als beschwerlich zu lesen, zumal weil es in einen religiösen Kontext gerückt ist.


Doch immerhin sollte - und muss man – auch Folgendes wahrnehmen: So ist es über weite Strecken der Menschheitsgeschichte eben tatsächlich zugegangen, zwischen allen Völkern.  Wie war das denn zugegangen mit unserer Mission an den Sachsen und Slawen?  Oder mit der ganz missionslosen Landnahme nach der Parole „Volk ohne Raum“? Das Volk Israel allerdings beschönigt in seinen religiösen Urkunden davon nichts; da wird auch sonst nichts verschwiegen. Und Israel spricht in seinen Glaubensüberlieferungen auch über seine Schuld in einer Krassheit, die ihresgleichen sucht in den Selbstdarstellungen der anderen, keineswegs weniger harmlosen Völker. Wie aber war das in all unseren Gesprächen nach 1945: Niederlage oder Befreiung – wie lange hatte es gedauert, bis wir einsahen, dass es eine Folge der großen Schuld deutscher Politik war, dass die Befreiung nur au der Niederlage zu haben war? Wie schwer war es auch einigen Protestanten gefallen, die „Ostdenkschrift“ der EKD zu akzeptieren, als diese versuchte, die Greuel der Vertreibung der Deutschen auf dem Hintergrund vorausgegangener deutscher Verbrechen an unseren osteuropäischen Nachbarvölkern zu sehen; und auf dem Hintergrund eines immer möglichen Gerichtshandeln Gottes?

Vor allem aber, und damit zurück zum 5. Buch Mose,  haben diese Texte ihre Endgestalt erst angenommen, nachdem dies alles, das versprochene und genommene Land, bereits verspielt worden war – vor allem, selbstkritisch betrachtet, durch die Missachtung jenes ersten, ja im Grunde einzigen, jedenfalls einzigartigen Gebotes Gottes.


Ob nun, wie es im Text redaktionell angelegt zu sein scheint: im Vorausblick – oder doch eher aus der rückblickenden Erfahrung formuliert, nach dem neuerlichen Sündenfall also:

10 Wenn dich nun der HERR, dein Gott, in das Land bringen wird, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, es dir zu geben - 12 so hüte dich, dass du nicht den HERRN vergisst, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat, 13 sondern du sollst den HERRN, deinen Gott, fürchten und ihm dienen…

Vergesst Gott nicht! Erinnert Euch! Ach, wie haben sich doch so viele Menschen in Deutschland nach 1945 mit einem Mal an Gott erinnert, den ebenso viele, wenn nicht mehr, während der zwölf Jahre zuvor gründlich vergessen hatten – und mit ihm erst recht sein Volk Israel! Wir haben doch auch verboten, deren Töchter zu nehmen und ihnen unsere Söhne zu geben – „Rassenschande“ hieß das damals!
Doch als dann das Wirtschaftswunder aufblühte, geriet der gute Gott bei vielen wieder in Vergessenheit. Not lehrt beten, heißt es. Wohlstand aber lehrt offenbar – vergessen. Was aber war dann das Beten vorher, in der Not, wirklich wert? Gut, wir haben uns eingeredet, dass wir die Städte aus eigener Kraft wieder schön erbaut haben (na, so schön auch wieder nicht!), dass wir die Häuser mit eigenen Händen neu errichtet haben, die Brunnen gegraben, Obst-, Gemüse- und Getreide-Felder angelegt haben. Dass bisschen Marschall-Plan ist da über der unbestreitbaren eigenen Tüchtigkeit ebenso schnell vergessen wie die doch sehr angebrachte Frage: Haben wir es uns wirklich uns selber zu verdanken, hatten wir es überhaupt verdient, dass wir nach diesem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg, dass wir nach dem Holocaust überhaupt jemals zurückkehren durften in die Gemeinschaft der freien Völker und der westlichen Märkte? Wenigstens und zunächst in Westdeutschland?
Wollten wir es etwa wirklich vergessen, dass wir uns nicht selber aus der Knechtschaft befreit haben, die wir sehr wohl über uns selbst und über Europa verhängt hatten?

… hüte dich, dass du nicht den HERRN vergisst, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat…

Nun unser zweiter Einschub und Fall: die Gottesverwechslung:

14 Und du sollst nicht andern Göttern nachfolgen, den Göttern der Völker, die um euch her sind 15 - denn der HERR, dein Gott, ist ein eifernder Gott in deiner Mitte -, daß nicht der Zorn des HERRN, deines Gottes, über dich entbrenne und dich vertilge von der Erde. 16 Ihr sollt den HERRN, euren Gott, nicht versuchen, wie ihr ihn versucht habt in Massa, 17 sondern sollt halten die Gebote des HERRN, eures Gottes, seine Vermahnungen und seine Rechte, die er dir geboten hat, 18 daß du tust, was recht und gut ist vor den Augen des HERRN, auf daß dir's wohlgehe und du hineinkommest und einnehmest das gute Land, von dem der HERR deinen Vätern geschworen hat, 19 daß er verjagen wolle alle deine Feinde vor dir, wie der HERR es zugesagt hat.

Was zur Landnahme selber zu sagen war, ist bereits gesagt. Die Warnung aber, nicht etwa – nach dem Einkassieren der Gaben Gottes –  anschließend falschen Göttern nachzufolgen (dem Mehrwert, dem Bruttosozialprodukt, der Konsum-Maximierung) behält unabhängig davon ihr Recht. Allerdings, wie ist das, wenn Menschen in unser Land kommen? Sollen wir dann von ihnen verlangen, dass sie unserem Gott nachfolgen? Oder dass sie als Frauen unter allen Umständen alle ihre Kopftücher ablegen – auf christlichen, auf bischöflichen Befehl? Wären wir bereit, wenn wir anderswo hin wanderten, umstandslos den dortigen Gott anzunehmen?
Wir haben heute – in einer Zeit voller Religionsfreiheit, aber bitte: auf voller Gegenseitigkeit! – gewiss komplizierter zu leben in einer offeneren Welt. Aber die Toleranz, zu der wir Christenmenschen nun nach Jahrhunderten wohl endlich und endgültig gefunden haben (inzwischen ja längst auch zwischen Katholiken und Evangelischen, was ja vor fünfzig Jahren noch keine Selbstverständlichkeit gewesen war, auch denen gaben wir damals noch nicht unsere Töchter, nahmen nicht deren Söhne…)
– diese Toleranz darf keine Nebenwirkung einer verflachenden Gottesvergessenheit sein, die dann auch zu jeder Gottesverwechslung bereit ist. Man muss ja nicht unbedingt die deutsche Leitkultur beschwören und jeden Morgen auf „Multi-Kulti“ schimpfen. Kulturen können sich – auf der Grundlage einer unverbrüchlich geltenden freiheitlichen Verfassung – ruhig mehr oder weniger vermischen, wie es uns ja auch zwischen Bayern und Preußen, selbst zwischen Badenern und Württembergern zuweilen ganz gut gelungen ist. Auf der Grundlage einer treuen und unverbrüchlichen Gottesbeziehung wird auch Toleranz gegenüber anderen Religionen möglich, vielleicht erst dann. Also: Unter Multi-Kulti kann ich mir, mitunter: zur Not, noch etwas vorstellen – aber unter einem Multi-Gott nun wirklich: gar nichts. Denn wenn mir alle Götter gleich gültig sind, werden sie mir gleichgültig – und folglich gleich ungültig.


Wir kehren zurück zum ursprünglichen Spannungsbogen des ursprünglichen Grundtextes unserer Bibelarbeit, zu seinem Anfang und zu unserem Ende: Von der eigenen Erinnerung an Gott – zur Weitergabe an die kommenden Generationen!

20 Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen –

so sollen wir ja nicht den Wortlaut der Gebote heruntersagen, sondern ihren tieferen, ihren tiefsten Sinn zum Vorschein bringen, den Zusammenhang zwischen Gottes Geschenk und unserem Dank.

Wenn unsere Kinder uns morgen fragen – unsere Kollegen, Freunde und Nachbarn – dann werden wir ihnen nicht von einem fernen, gleichgültig verharrenden, gleichgültigen Allerweltsgott sagen. Sondern wir werden berichten:

Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand ….

Wir werden also den Indikativ deutlich vor den Imperativ stellen, den Zuspruch Gottes weit vor den Anspruch, der doch erst sein Echo ist. Wir werden also von einem uns – und unseren Kindern, Kollegen, Freunden, Nachbarn – aktiv und befreiend (man kann es auch ganz traditionell sagen, als es noch keine Freiheit für alle gab: erlösend) zugewandten Gott berichten – von dem einzigartigen Befreier, dem einzigen Erlöser. Wir werden sprechen, ja mitunter schwärmen – und selbst im Zweifel, in der Anfechtung immer weiter stammeln und stottern von jenem Gott, der uns aus aller erdenklichen Knechtschaft befreit hat (vor allem aus der Gefangenschaft in uns selbst, in unserem einzelnen Versagen, in unserem ganzen Ungenügen, also in unserer Sünde) – der uns aus der Knechtschaft befreit hat, indem schließlich sein Sohn Knechtsgestalt angenommen hat, indem Jesus von Nazareth sich mit uns gemein gemacht hat, mit den Verworfensten unter uns, also mit uns selber, mit dir und mit mir:


LUT Philippians 2:6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. 8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11 und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.


An einen Allerwelts-Gott kann man sich einfach nicht erinnern, denn man kann ihn nicht wahrnehmen. Aber den Gott Jakobs und Jesu, der ultimativ und konkret, befreiend und erlösend an uns handelt, den kann man erfahren. Und folglich kann man sich auch an ihn erinnern. Man muss es nur tun – immer wieder:

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. … 20 Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, 21 so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand…


Und zur Sicherheit – da wir Protestanten weder Gebetsriemen noch Rosenkränze benutzen: Zur Sicherheit schlagen wir zumindest, als letzte Reserve!, einfach einen Knoten in unser Sacktuch, damit wir uns – selbst am Rande der Gottesvergessenheit und noch im tiefsten Tal des Gotteszweifels – immer wieder wenigstens dieses eine fragen: 

Was war es denn, woran wir denken – woran wir uns erinnern wollten? Da war doch noch was! –
 

Ihr lieben Leute: Da war nicht nur was. Da ist noch was! Da kommt noch was!

Amen.