Bildung in der Informationsgesellschaft aus christlicher Sicht

Wolfgang Huber

Dresden

Vortrag vor dem Internationalen Forum für Kultur und Wirtschaft

Nachdem ich mich vor einem Vierteljahr hier in Dresden zu wirtschaftsethischen Fragen äußern konnte, freue ich mich sehr darüber, heute grundlegende Fragen unseres Bildungsverständnisses und unserer Bildungsverantwortung mit Ihnen zu besprechen.

Von „Bildungsethik“ zu sprechen, hat man sich noch nicht angewöhnt. Und doch gibt es kaum ein Thema von höherer ethischer Dringlichkeit als die Verantwortung für die Bildung – für die eigene Bildungsgeschichte, die ein ganzes Leben lang andauert, ebenso wie für die Bildungschancen der nachwachsenden Generation. Deshalb freue ich mich sehr darüber, vor dem Internationalen Form für Kultur und Wirtschaft zu diesem Thema zu sprechen, dazu in der eindrucksvollen Atmosphäre der Villa Tiberius. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung an den Ort – dieses Haus gab es damals freilich noch nicht – , von dem aus Napoleon 1813 den Einzug der habsburgischen Truppen nach Dresden verfolgte, um sich für die anschließende Schlacht um Dresden strategisch zu orientieren. Auch wenn wir ausschließlich friedliche Ziele im Sinn haben, kann dieser Ort ja vielleicht auch unserem strategischen Weitblick zu Gute kommen.

1. Bildung in der Informationsgesellschaft

Zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch "Lehren und Lernen - Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft" ausgehend vom gesellschaftlichen Wandel zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts drei große Umwälzungen beschrieb, welche die Bedingungen der Wirtschaftstätigkeit und das Funktionieren unserer Gesellschaft tiefgreifend und nachhaltig beeinflussen - und die sich auch auf die Bildungssysteme auswirken: die Herausbildung der Informationsgesellschaft, die wissenschaftlich-technische Zivilisation und die Globalisierung der Wirtschaft. Das Wissen und die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen wurden als entscheidende Kriterien für das erklärte hohe Ziel angesehen, die “Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Europäischer Rat 1995).

Das ist der Zusammenhang, in dem man heute über den Übergang von einer Industrie- beziehungsweise Dienstleistungsgesellschaft zur Informations- und Mediengesellschaft spricht. Angebot und Nachfrage im Bereich der Informationsprodukte und Informationsleistungen nehmen in ihr einen solchen Umfang an, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhang insgesamt prägen. Mediale Information wird zur Schlüsselressource für den Aufbau gesellschaftlicher Macht und die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Verursacht wird das durch die Quantensprünge in der Entwicklung von Kommunikationstechnologien und Kommunikationstechniken; durch sie wird die Bereitstellung von Informationen in beliebiger Quantität und die Übermittlung von Informationen in nahezu beliebiger Geschwindigkeit ermöglicht. Information wird zum wesentlichen Produktionsfaktor und damit ebenso zur Quelle von persönlichem Wohlstand wie von gesellschaftlicher Macht. Was das bedeutet, erleben wir auf anschauliche Weise in diesen Wahlkampfwochen.

Weithin tritt dabei die unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation als Quelle der Wirklichkeitserfahrung hinter die massenmediale Kommunikation zurück. Die medial vermittelte und die unmittelbar erlebte Wirklichkeit verschwimmen ineinander. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird in hohem Maß medial konstruiert. “Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien” (N. Luhmann).

Das birgt tiefgreifende ethische Fragen in sich. Die Frage nach der Sozialverträglichkeit und der internationalen Verträglichkeit solcher Entwicklungen ist noch kaum beantwortet. Die Anforderungen, die sich aus der quantitativen Vermehrung des Informations- und vor allem des Unterhaltungsangebots auf die Medienethik ergeben, sind noch kaum zureichend gestellt.

Das Leitbild der Informationsgesellschaft ist der flexible Mensch, ein beschleunigter elektronischer Nomade. Zu eigenen moralischen Überzeugungen hat er keine Zeit – weder was die Ausbildung noch was die Bewährung solcher Überzeugungen betrifft. Ebenso wenig Zeit hat er für die Erziehung der nächsten Generation. Auch den Umgang der Kinder mit den Medien überlässt er der Technik selbst. “Cybersitter” und “Net Nanny” sorgen “rührend” für das Wohl der Kinder: Sie werden als Software eingesetzt und filtern diejenigen Fernseh- oder Internetangebote heraus, die im Blick auf “Sex and Crime” für die kleinen Kinder schädlich sein könnten. Was übrig bleibt, ist eine vermeintlich ungefährliche elektronische Rundumversorgung. Eine persönliche Verantwortung für den Fernseh- oder Internetkonsum der Kinder wird dadurch überflüssig. Dass dieser Konsum dadurch vertretbar wird, kann man mit guten Gründen bezweifeln.

Es ist deshalb kein Wunder, dass sich im Medienzeitalter die Frage nach den Tugenden neu stellt, die notwendig sind, um inmitten der Fülle kommunikativer Angebote ein selbständiger Mensch zu bleiben, der zur Freiheit fähig ist und zwischen der Vielfalt der Angebote auszuwählen vermag. Und es ist auch kein Wunder, dass angesichts der Vervielfältigung von Optionen neu nach den Ligaturen gefragt wird, nach den Bindekräften, kraft deren in einer weithin virtuellen Welt unmittelbare menschliche Beziehungen entstehen und Bestand gewinnen können. Die eine dieser Fragen richtet sich darauf, wie menschliche Freiheit auf Dauer möglich ist; die andere Frage hat es damit zu tun, wie Menschen füreinander Verantwortung übernehmen können.

Diese Doppelfrage braucht nicht so gestellt zu werden, dass man sich in kulturpessimistischem Abscheu von der Entwicklung der Informationsgesellschaft abwendet. Sie kann vielmehr so gestellt werden, dass man sich auf diese Entwicklung einlässt, aber zu ihr ein eigenständiges Verhältnis gewinnt, weil der eigene Lebensentwurf sich aus anderen Quellen speist als denen, die in der Informationsgesellschaft gängige Münze sind.

2. Bildung und Globalisierung

Das Argument der Globalisierung gilt im Bildungsdiskurs als eines der stärksten Argumente dafür, dass Bildung zukunftsfähig werden soll - eben im globalen Horizont. Weithin wird eine Internationalisierung von Bildung gefordert, die den Herausforderungen der Globalisierung gerecht wird. Der Begriff Globalisierung bleibt dabei reichlich vage. Gelegentlich wird daran erinnert, dass es sich ursprünglich um einen religiösen Begriff handele - als Ganzes sei die Welt Schöpfung Gottes, sie werde theologisch als der "ganze bewohnte Erdkreis" (Ökumene) und als die "eine Welt" angesprochen, und damit verbinde sich die Hoffnung auf weltweite Verständigung, Gerechtigkeit und Kooperation. Im der heutigen Debatte wird aber weniger an solche Aspekte von Globalisierung gedacht als vielmehr an eine globale Ökonomie, an den internationalen Wettbewerb sowie an die Standortsicherung, zu der sich jedes Land durch die Globalisierung herausgefordert sieht. Das Idealbild globalisierungsgerechter Bildung zielt so gesehen auf die Verbindung von Technologie, Ökonomie und internationaler Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit zur Verständigung in mindestens zwei Fremdsprachen eingeschlossen.

Die damit geforderte Entgrenzung von Bildung bleibt freilich doppeldeutig: Sie soll die Menschen öffnen – über die angestammten nationalstaatlichen Zugehörigkeiten hinaus; zugleich geht sie einher mit einer weiteren Dynamisierung von Bildungsanforderungen, die nun unmittelbar in den grenzenlosen internationalen Wettbewerb eingerückt werden. Sie löst in der Gegenbewegung eine ungestillte Sehnsucht nach Beheimatung aus, die sich häufig mit einer regressiven Abwehr des Fremden, mit „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (W. Heitmeyer) und blankem Nationalismus verbindet.

Die Notwendigkeiten und die Chancen des lebenslangen Lernens als Antwort auf die Globalisierung werden in vielen bildungspolitischen Programmschriften beschrieben. Niemand wird die positiven Möglichkeiten lebenslangen Lernens bestreiten. "Lebenslanges Lernen" trägt zur beruflichen und allgemein-menschlichen Bildung und Reife des Menschen bei. Mit dem Akzent auf die Bildung der Person folgt das christliche Verständnis allerdings einem umfassenderen Verständnis "lebenslangen Lernens". Lernen darf nicht zum Selbstzweck werden. Die Aufforderung zum "Lebenslangen Lernen" ist darum ambivalent. Zwar sind wir Menschen nie "fertig", und es ist ein Geschenk, wenn Menschen bis ins hohe Alter geistig beweglich bleiben, immer noch lernend verstehen. Aber wenn das "Lebenslange Lernen" zu einem Diktat der lebenslänglichen Anpassung an sich ständig verändernde wirtschaftliche Erfordernisse und Ziele verengt wird, müssen wir widerstehen. Wir Menschen sind mehr, als wir gelernt haben und jemals lernen können.

Bildung ist darum mehr als Wissen und Lernen. Sie fragt nach dem Selbstverständnis und dem Weltverständnis des Menschen. Die religiöse Dimension darin darf nicht ausgeblendet werden.

3. Bildung und Transzendenz

Die Frage nach Transzendenz und ihrer Bedeutung für zukunftsfähige Bildung wird jedoch weithin vergessen oder verdrängt. Für die meisten Expertisen und Stellungnahmen zum Bildungsverständnis heute scheint es kaum ein Thema zu geben, das ferner liegt als das von Glaube, Religion und Transzendenz. Religion wird vor allem mit Tradition assoziiert – und damit mit einer Vergangenheit, an die man bei der Suche nach zukunftsfähiger Bildung nicht zu denken brauche. Insofern folgt der Bildungsdiskurs implizit einem naiven Modernisierungsdenken, für das die Vergangenheit nicht mit zu bewahrender Tradition und Erinnerung verbunden ist, sondern einfach überholt erscheint. Mit einem solchen Modernisierungsdenken verbindet sich ferner vielfach noch immer die Annahme eines umgreifenden und irreversiblen Säkularisierungsprozesses, aufgrund dessen mit einem immer deutlicheren Verblassen von Religion zu rechnen sei, am Ende vielleicht sogar überhaupt mit dem Verschwinden von Religion zumindest in der aufgeklärten Öffentlichkeit.

Gerade in Deutschland und in Teilen Europas wird an einem solchen Säkularisierungsverständnis festgehalten, obwohl es in der internationalen religionssoziologischen Diskussion längst überwunden ist. Religionssoziologen wie Peter L. Berger sprechen inzwischen mit Nachdruck von einer "Entsäkularisierung" ("desecularization"), der Philosoph Jürgen Habermas nennt unsere Epoche "post-säkular". In vielen Regionen der Erde erleben wir derzeit einen Trend zur Religion. Schon darum gehört Religion zur allgemeinen Bildung: nicht nur deshalb, weil sie für die geschichtliche Entwicklung unserer Kultur eine prägende Bedeutung hat, sondern zugleich, weil für den Umgang mit den großen gesellschaftlichen Zukunftsfragen wie auch für die Beantwortung persönlicher Existenzfragen auf ihr Potential nicht verzichtet werden kann. Ich halte es deshalb für einen Ausdruck überholten Denkens, wenn in den Schulen Berlins ein für alle verbindlicher Werteunterricht eingeführt werden soll, der auf die religiöse Dimension verzichtet und den Aspekt positiver Religionsfreiheit ignoriert. Und umgekehrt halte ich es im Ansatz für begrüßenswert, dass die sächsische Schulgesetzgebung diesem Aspekt programmatisch Raum gegeben hat.

Unter dem gerade erörterten Blickwinkel ist die Frage nach Gott geradezu als Schlüssel zukunftsfähiger Bildung anzusprechen – nicht so, dass es zum Gottesglauben bildungstheoretisch keine Alternativen gäbe, wohl aber so, dass die mit der Gottesfrage verbundenen Themen für ganzheitliche Bildung unausweichlich sind. Bildung zielt auf eine gottoffene Humanität. Evangelisches Bildungsverständnis versteht den Menschen als ein Beziehungswesen. Sein Menschsein verwirklicht sich in den Beziehungen, in denen sich seine Existenz vollzieht: in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung zu den Mitmenschen und zur Mitwelt, in der Beziehung zu sich selbst. Gerade um dieser Beziehungen willen darf Bildung nicht auf das äußere Erlernen der Beherrschung von Mitteln beschränkt werden. Zu ihr gehört zugleich die Einübung in diese Beziehungen: eine Erziehung zur Wahrheit und damit zur Offenheit für die Gottesfrage, eine Erziehung zu Gerechtigkeit und Erbarmen und damit zu einer Kultur der Anerkennung im Miteinander der Menschen, eine Bildung für eine offene Zukunft, zu der die Sensibilität für die Bewahrung der Natur und für die Lebenschancen einer nächsten Generation gehört, und schließlich eine Bildung zur Kultur, nämlich zu einer perspektivenreichen Selbstthematisierung, die Ausbildung einer eigenen Identität mit einer respektvollen Wahrnehmung des Fremden verbindet.

Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang folgende Beobachtung, die auch durch die große Online-Untersuchung „Perspektive Deutschland“ von diesem Sommer bestätigt wird: Religiös gebildete und gebundene Jugendliche zwischen 14 und 29 Jahren leben einen deutlich anderen Lebensentwurf als religiös indifferente Jugendliche. Die Bereitschaft, sich so zu bilden, dass verantwortliches Leben möglich ist, die Zukunftszuversicht und von ihr aus auch die Bereitschaft, sich mit gegebenen Bedingungen konstruktiv auseinanderzusetzen, ebenso aber auch die Bereitschaft, Menschen in Not beizustehen und für andere Verantwortung zu übernehmen, sind bei religiös gebildeten und gebundenen jungen Menschen deutlich stärker ausgeprägt als bei religiös nicht gebundenen.

4. Bildung und Menschenbild

Eine Schwäche vieler Programme und Konzeptionen der Wissens- und Lerngesellschaft besteht darin, dass sie auf eine Explikation des zugrunde liegenden Verständnisses vom Menschen verzichten. Ohne eine zumindest ansatzweise versuchte Beantwortung der Frage, was den Menschen zum Menschen macht, fehlen aber auch ethische Maßstäbe, um die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf den einzelnen Menschen zu beurteilen. Was nützen die schönsten Bildungsprogramme, wenn sie der Situation des einzelnen Menschen nicht gerecht werden?

Unkritisch übernommene Menschenbilder stellen oft eine Versuchung dar, über Menschen zu verfügen – besonders dann, wenn sie im Mantel hehrer Werte und religiöser Überzeugungen daherkommen, für deren Durchsetzung im Extrem jedes Mittel recht ist. „Du sollst Dir kein Bildnis machen“, heißt es deshalb mahnend in den zehn Geboten. Nicht den Menschen auf ein Bild festzulegen, sondern ihn in seiner unantastbaren Würde zu achten, ist deshalb aus einer christlichen Perspektive entscheidend für den richtigen Zugang zur Menschenbild-Diskussion.

Daraus aber ergibt sich eine unbequeme Folgerung: Die ziel- und zweckgerichtete Optimierung eines flexiblen und mobilen Lebensmusters für die Menschen in der Zukunft beantwortet weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft die Frage nach einem sinnvollen Leben. Materielle Sicherheit und marktgerechtes Verhalten sind zwar notwendige Voraussetzungen beziehungsweise gesellschaftliche Integrationsmomente eines menschenwürdigen Daseins, aber noch nicht dieses selbst. Es gibt Qualitäten unserer Existenz, die nicht in geldwerter Zeit zu verrechnen sind und sich nicht wie die Beherrschung von Computer-Software erlernen lassen. Dazu gehören  Lebensgenuss und zweckfreie Kreativität, Selbstentfaltung und Sorge für andere, Freundschaft und Liebe, das Streben nach Wahrheit und jene innere Befriedigung, die aus religiösem Glauben oder philosophischer Einsicht erwächst. Ohne sie verarmt menschliches Leben. Es wird sinnleer und vielfach auch so empfunden. Menschen, die flexibel und mobil auf Außenanforderungen reagieren, sind zu hohen Anpassungsleistungen fähig, definieren sich aber nicht aus der ihnen geschenkten Würde, sondern aus dem eigenen Funktionieren. Die Umkehrung liegt nahe: Wer nicht funktioniert, verliert an Wert. Dass er eine Würde behält, die unantastbar ist, gerät in Vergessenheit.

Eine heute verbreitete Annahme ist die, das Leben sei – wenn man nur wolle – leicht zu meistern, die dazu notwendigen Potentiale seien in einem jeden Menschen vorhanden. Eine andere Annahme ist jene, die erreichten Stützen zur Wertgebung des eigenen Lebens wie Beruf, Partnerschaft, eigenes Haus, Wohlstand, Freizeit trügen ihren Sinn hinreichend in sich selbst.

Solchen unrealistischen Bildern gegenüber ist ein Bildungsansatz zu vertreten, der eine nüchterne Analyse der Wirklichkeit und der menschlichen Natur im Guten wie in den Abgründen des Bösen einschließt. Die Bibel spricht davon, dass der Mensch wenig niedriger gemacht ist als Gott (Psalm 8). Darin liegt ein großartiges Potential. Gleichzeitig zeigt das Bußgebet „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach“ (Psalm 6), dass sich der Mensch immer wieder schmerzlich seines Unvermögens bewusst wird. Diese "Maße des Menschlichen" müssen wir ehrlich und unverstellt wahrnehmen, in der Gesellschaft wie in Erziehung und Bildung. Sollten andere Bilder dazu tendieren, den Menschen unter gnadenlose Imperative eines vermeintlichen "Müssens" zu zwingen, hat der christliche Glaube im Namen der jedem Menschen zugewandten Gnade Gottes zu widersprechen.

5. Bildung und Werte

"Die evangelische Kirche versteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens." (Maße des Menschlichen, S. 66) Ohne eine Orientierung an Werten wird die sich immer schneller ändernde Lebenswirklichkeit mit ihrer Fülle stets neu verfügbaren Wissens zu einer Welt ohne Richtung und ohne Ziel - sie verliert ihr menschliches Maß. Welche Werte aber brauchen wir? Freundlichkeit, Treue, Pünktlichkeit, Humor, Kinder und Familie, Wahrhaftigkeit, Freiheit, Streitkultur, Gottesfürchtigkeit, Solidarität, Gerechtigkeit? Es gibt eine große Zahl unterschiedlicher Werte, aber sie sind in vielerlei Hinsicht subjektiv. Ihre Entstehung ist ein kommunikativer Vorgang. Immer wieder erfolgt ein Abgleich der eigenen Werte mit denen anderer. Entwicklungspsychologische Studien zeigen, wie wichtig dieser Vorgang für die Identitätsbildung gerade bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist. Gleichzeitig liegt darin ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial. Wer meine Werte infrage stellt, stellt mich infrage. Es ist wichtig, dieses Konfliktpotenzial konstruktiv und nicht destruktiv zu wenden.

Religiöse Orientierungen spielen bei der Ausbildung und der Kritik von Werten und Wertsystemen eine wichtige Rolle. Aber der Sinn von Religion ist mehr als nur Wertorientierung. Eine funktionale Einengung des Glaubens nur auf Wertevermittlung führt in die Irre. Das Vertrauen, dass der Sinn unseres Lebens nur durch Gottes Güte Bestand hat, stellt die Vorstellung, unser Leben sei schon in Ordnung, wenn wir es nur an den richtigen Werten orientieren, radikal in Frage. Dass die viel beschworenen gesellschaftlichen Werte nur von begrenztem Wert sind, ist der erste Beitrag des christlichen Glaubens zur Wertedebatte. Auf dieser Grundlage fordert er dann aber auch im Blick auf die Werte dazu auf: „Prüfet alles und das Gute behaltet.“ Dämonisierung und Ideologisierung sind ihm dann in gleicher Weise fremd. Dämonisierung erlebt man dort, wo eine ganze Generation pauschal des Werteverlusts geziehen wird – seit der Antike ist das übrigens immer die jeweils junge Generation. Dämonisierung liegt aber auch dort vor, wo ein schreckenerregendes Ereignis – sei es die Tötung von neun Babys oder eine im wahrsten Sinn des Wortes kannibalische Mordtat – als typisch für eine ganze Menschengruppe oder eine ganze Gesellschaft angesehen wird. Mit Ideologisierungen aber hat man es dann zu tun, wenn funktionale Anforderungen der Gesellschaft zu letzten Werten stilisiert werden und sich dann die vermeintlich zureichende Wertorientierung der Menschen in bloßer Anpassung erschöpft. Diese aus den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts allgemein bekannte ideologische Überhöhung von Anpassung ist als Gefahr auch in der Demokratie durchaus nicht gebannt.

Wertorientierung aus Glauben dagegen kann zu einer Freiheit verhelfen, die den Zwangscharakter derartiger Bindungen und Verpflichtungen überwindet.

6. Bildung und Ökonomie

Das Fehlen von Wertorientierung wird in der Wirtschaft inzwischen als ernsthafter Kostenfaktor diskutiert, weil Arbeits- und Produktionsausfälle unter anderem auf mangelnde (Persönlichkeits-)Voraussetzungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zurückgeführt werden. Die für bestimmte Arbeitsvollzüge erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind in eine weiterreichende Persönlichkeitsentwicklung eingebunden, die sich nicht zureichend mit ökonomischen Begriffen darstellen lässt. Die gewünschte engere Abstimmung zwischen Bildung und Ökonomie setzt für ihr Gelingen also einen umfassenden Bildungshorizont voraus.

Ökonomisch erforderliche Bildung braucht kulturelle Bildung, wertorientierte Bildung der Person und Stärkung der Einzelnen als Subjekte. Der Gegensatz von "Bildung" und "Ausbildung" ist fragwürdig. Aber er fordert dazu auf, die wirtschaftlich wünschbaren Leistungen in ein kriterienkräftigeres und weiter gespanntes Denken einzugliedern. In dessen Fluchtlinie bildet nicht die Frage nach dem erfolgreichen Leben, sondern die nach dem "guten Leben" das Zentrum. Vieles vom Notwendigen unterbleibt, wenn nur das Nützliche gesehen wird. "Würde" und "würdevolles Leben" sind keine lediglich überkommenen und deshalb vernachlässigbaren Kategorien, nur weil sie sich finanziell nicht eindeutig bilanzieren lassen. Unter diesem Gesichtspunkt reicht es freilich nicht, wenn die Wirtschaft nach der Bildung fragt, die sie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern voraussetzt, damit sie die erwarteten Leistungsstandards erfüllen. Sie muss sich auch fragen, was sie selbst zu solcher Bildung beiträgt. Es genügt ja auch nicht, wenn unter dem Titel „Kultur und Wirtschaft“ nur gefragt wird, was die Kultur für die Wirtschaft leisten kann. Auch in diesem Fall stellt sich die Frage ebenso umgekehrt. Welche Wertschätzung von Kultur zeigt sich, so kann man fragen, an unserem wirtschaftlichen Handeln? Oder: Welche Vorbildwirkung geht von wirtschaftlichen Verantwortungsträgern aus, die junge Menschen dazu ermutigt, grundlegende Wertorientierungen für sich selbst als wichtig anzuerkennen? Ich glaube, eine solche Umkehrung der Fragestellung enthält ein hohes Klärungspotential.

7. Bildung und Gerechtigkeit

Beteiligung und Befähigung sind Schlüsselelemente der sozialen Gerechtigkeit. Die individuellen Chancen zu aktiver Beteiligung zu erhöhen, ist deswegen eine Schlüsselaufgabe des sozialen Staats. Wenn wir als Christen darauf bestehen, dass das "Fördern" genauso wichtig genommen wird wie das "Fordern", dann tun wir dies aus der Überzeugung, dass in jedem als Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen Potentiale liegen, die darauf warten, fruchtbar gemacht zu werden. Die Befähigung dazu, von diesen Potentialen Gebrauch zu machen, ist die unabdingbare Voraussetzung für Selbstverantwortung; sie aber ist die Grundlage eines selbstbestimmten Lebens. Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle.

Studien wie PISA zeigen, dass es mit der Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit gerade im Bildungswesen schlecht bestellt ist. Es ist erschreckend, wie sehr in Deutschland der Schul- und Bildungserfolg immer noch von der Sozialschichtzugehörigkeit abhängt.

Nach einer im August veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung beurteilen zwei Drittel der befragten Hauptschüler ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt eher skeptisch. Sie sehen sich als Verlierer im Kampf um Lehrstellen und verlassen die Schule im Blick auf ihre Lebensperspektiven mit wenig Hoffnung, denn in Deutschland hat ein Ausbildungsabschluss für den erfolgreichen Start ins Berufsleben und den Verbleib im ersten Arbeitsmarkt große Bedeutung. Je geringer die formale Bildungsqualifikation, desto schlechter die Position auf dem Arbeitsmarkt. Darum ist es mehr als bedenklich, dass ca. 8 – 10 % aller Schulabgänger keinen Schulabschluss erhalten. Ungefähr 15 % aller Jugendlichen bleiben ohne Ausbildung – mit zunehmender Tendenz. Unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben gegenwärtig etwa 40 % keine Ausbildung. Die Gesamtzahl der Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung liegt mittlerweile bei weit über einer Million. Für die Zukunft unseres Landes und die gesellschaftliche Integration liegt in diesen Zahlen eine ungeheure Sprengkraft. Jugendliche, die von unserem Bildungs- und Beschäftigungssystem in seiner jetzigen Form nicht aufgefangen werden, brauchen dringend mehr Unterstützung. Dazu ist ein entschlossenes gesamtgesellschaftliches Handeln erforderlich.

Um fehlende Ausbildungsplätze wiederholt sich seit Jahren im Sommer ein Ritual aus Schuldzuweisungen, Absichtserklärungen, Appellen und kurzfristigen Aktionen. Vorbildliche Einzelinitiativen helfen dabei, eine aktuelle Notlage zu lindern, die jedoch nicht unerwartet kommt. Wie aber kann über solche für sich richtigen Schritte hinaus die Gesamtentwicklung verbessert werden? Von Seiten der Bildungspolitik wie von der Wirtschaft werden weiter reichende Antworten erwogen. Die Kirche unterstützt sie unter zwei Perspektiven, im Blick auf die zentrale Rolle des Bildungssystems und seiner Qualität und im Blick auf die Jugendlichen als Personen und ihren individuellen Weg im Bildungssystem. Uns liegt daran, dass die Unterschiede zwischen langsamer und schneller Lernenden, zwischen bildungsbegünstigten und bildungsbenachteiligten jungen Menschen und nicht zuletzt zwischen jungen Leuten mit unterschiedlichem ethnischen und religiösen Hintergrund stärker berücksichtigt werden.

Kurzum: In der Einsicht, dass wir in diesem Land eine neue Bildungsinitiative brauchen, sind Kirche und Wirtschaft sich gegenwärtig einig. Einigkeit erhoffe ich mir aber auch darin, dass damit Bildung in einem umfassenden Sinn gemeint ist, eine Bildung, die den ganzen Menschen meint, eine Bildung, die nicht nur auf die Nützlichkeit eines Menschen für die Informationsgesellschaft zielt, sondern auch auf seine Fähigkeit, sich im Leben zu orientieren, eine Bildung, die nicht nur seinen Wert im Auge hat, sondern auch seine Würde.