Predigt im Einführungsgottesdienst, Herrenhäuser Kirche, Hannover (Ps. 96,1)

Petra Bahr

„Singet dem Herrn ein neues Lied!“ (Ps. 96,1)

Ein hochdekorierter Greis, der seinen Abgang zu lange herausgezögert hat. So wollte man das Christentum verabschieden – aus der Kultur. Mit einer großen Schau von Christusbildern. „Seeing salvation“ hieß die Milleniumsausstellung der National Galerie in London. Ein tiefer Blick in das Bildergedächtnis des christlichen Abendlandes sollte es werden,  vielleicht auch eine melancholischer Geste gegenüber seinem Bedeutungsverlust. Es kam anders. Die alten Gesten und Gestalten der gemalten Christologie übersprangen den Graben der Zeit und krallten sich fest an der Gegenwart. Und die Besucher ließen sich ergreifen. Das Museum verwandelte sich in einen Andachtsraum. Die Kunstkritik blieb einigermaßen ratlos, als die Frage nach der Gegenwart des Christlichen aufbrach. „Seeking salvation“ spottete ein Feuilletonist in Anspielung auf den Ausstellungstitel. Eine Gottsucher-bande in den Hallen des distanzierten Kunstgenusses, das überforderte die, die klare Verhältnisse mochten zwischen Religion und Kultur.

Sechs Jahre später ist die Welt eine andere geworden. Die religiöse Frage hat sich nicht verflüchtigt, sie hat sich mit Nachdruck zurückgemeldet in der Mitte unserer Kultur. Gott steht wieder am Horizont des Möglichen, und wo er für tot erklärt wird, da herrschen Gespenster. Eine Grauzone zwischen den Gottesvergessenen und den Gottesversessenen tut sich auf in der Welt. Wer füllt eigentlich diesen prekären Raum zwischen Neugier und Berührungsangst? Und welche Sprache trägt den Zweifel, der ein erster Ausdruck des Glaubens werden könnte?

„Singet dem Herrn ein neues Lied“ Der Psalmist ist nicht gerade bescheiden. Ganz im Gegenteil: mit einer energische Aufforderung richtet er sich heute an uns. Kulturelle Konflikte, metaphysische Obdachlosigkeit, eine prekäre Situation in Kirche und der Gesellschaft und der Psalmist empfiehlt uns – ein Lied? Keine religionspolitischen Strategien, keine theologischen Tricks, kein Kirchenkulturmanagement, er verweist schlicht auf die Macht der Klänge, des Worte und der Bilder. „Singet dem Herrn ein neues Lied“.

Ist das nicht weltblind und naiv – eine fahrlässige Verschwendung der Kräfte in Zeiten knapper Ressourcen?

Der Psalmist kennt sich aus mit verwüsteten Seelen, mit wunden Herzen und irre-geführtem Verstand. Er kennt den Zustand kollektiver Verunsicherung, in denen man  so gerne hoffen können würde und es doch nicht kann, „Singet dem Herrn ein neues Lied“, das ist ein religiöser und ein ästhetischer Imperativ, mit großem Ernst vorgetragen. Der Imperativ nimmt seinen Ausgang in der sinnlichen Bedürftigkeit des Menschen. Der christliche Glaube ist angewiesen auf die kulturellen Medien der Sinne. Hören, tasten, schmecken, riechen und sehen – das ist dem christlichen Glauben nicht äußerlich. In ihm verbinden sich Kunst und Religion aufs Engste. Denn Gott hat sich an die Ausdruckskraft des Menschen gebunden. Und der Psalter ist die elementarste Form des Verhältnisses von Religion und Kultur.

Die Nähe Gottes soll dem Menschen durch das Innenohr unter die Haut kriechen, sie soll in seine Magengrube fallen, seine Hände feucht werden lassen und seine Einbildungskraft erhitzen.

Seine Zuwendung schmeckt wie ein guter Bordeaux und seine Ferne tut weh wie ein Nagelbettzündung. Das ist Psalmentheologie. Der Psalmist empfiehlt als Hilfe zum Glauben nicht die belehrende Überredung, sondern die kunstfertige Verführung. Ein Orpheus der Theologie, hat die Renaissance gesagt. Und Orpheus war eine entschlossene musikalische Geste allemal das bessere Argument. „Singet dem Herrn ein neues Lied“ – wie ein Leitmotiv zieht sich diese Strophe durch den gesamten Psalter. Dies neue Lied kommt nicht nur hymnisch daher wie der Psalm 96.

Für Martin Luther ist der Psalter ein Exerzitium der Affekte. Hier erst begegnet der Mensch dem Abgrund seiner Seele. Hier sieht er seinen wildesten Leidenschaften ins Auge, seinen düstersten Stimmungen, seinen dubiosesten Phantasien, seinem stärksten Gotteszorn. Hier wird mit Inbrunst gejohlt und gestöhnt und gewütet, schamlos in den Ohren Gottes und der Welt. Singet dem Herrn ein neues Lied, die Aufforderung meint nicht nur Harmonie, fröhliches Füßewippen und Viervierteltakt. Das neue Lied verträgt einen Zwölftöner, die Lyrik von Paul Celan und den Soul von Jocelyn B. Smith.

Der Psalmist weiß, dass es Dämonen gibt, die nur vor der Musik erschrecken. Er kennt die Unruhe, die sich erst beim Singen verflüchtigt, er kennt den Kampf an den Rändern der Sprache, an den Bruchkanten der Metaphern und an den Fugen zwischen den Akkorden.

Singet dem Herrn ein neues Lied? Noch ein anderer Vorbehalt scheint angebracht. Die Lust am Neuen ist uns nur allzu oft vergangen, gehört es doch zu den gefährlicheren Ideologien der Moderne, dass das Neue immer auch das Bessere ist. Hauptsache neu! Auch wenn es der Retrolook von gestern ist.

Der innovationsfreudige Psalmist hat vermutlich einen Sinn für theologische Kulturkritik, da, wo sie angebracht ist und nicht als Ausrede vorgeschoben wird. Denn allzu oft kommt das Neue als verkleidete Vergesslichkeit daher.

An neue Formen aber kann streng genommen nur der sich wagen, der im Alten zuhause ist. Deshalb braucht der lebendige Glaube zum Neuen auch die Erinnerung.

Wer ausschließlich im Neuen lebt, ist wie ein Mensch, dem nur sein Kurzzeitgedächtnis geblieben ist: Eine bedauernswerte Existenz ohne Vergangenheit, ohne Identität, ohne Zukunft. Wer so zum Hier und Heute verdammt ist, dem fehlt der Sinn für das Zeitgenössische. Auch der Umgang mit dem Neuen braucht Urteilsschärfe und Kriterien, denen es sich verdankt.

Der Psalter, als das Gebetsbuch Jesu Christi auch das Gebetsbuch der Christenheit, zeigt uns, wie erst lebendige Tradition das Neue freisetzt. Der Psalter lebt von der Wiederholung. Immer wieder, Jahrhundert für Jahrhundert, Jahr für Jahr, Tag für Tag: Singet dem Herrn ein neues Lied. Die Wiederholung ist die gutartige Wiederkehr des Gleichen, die Vertrautheit schafft in den elementaren Verunsicherungen des Lebens. Aus dem „Immer-wieder“  wird so das „Immer-wieder-neu“. Ohne die Überforderung, ständig eigene Wort zu finden für das, was an den Grenzen der Sprache wohnt. Achten wir auf diese Zeiten und Rhythmen der Widerholung. In ihnen liegt das Geheimnis der Erneuerung.

Kein anderer Teil der Bibel wurde öfter übersetzt oder nachgedichtet als das Buch der Psalmen. Kein anderer Teil der Bibel hat so viele zu eigenen Psalmdichtungen verführt. Das Neue begegnet uns hier in Gestalt der erhellenden Variation.

Auch in der Abweichung liegt ein eigentümlicher Respekt vor dem Alten. Hier findet das Überlieferte über einen Umweg  seinen Weg in eine andere Zeit, in einen anderen Umstand, in eine andere Biographie. Ein evangelisches Spiel mit der Tradition. Der christliche Glaube gibt der Kultur  ihr religiöses Gedächtnis nicht, damit sie eine ehrwürdige Vergangenheit konserviert. Das religiöse Gedächtnis will sprudelnde Quelle für Zukünftiges werden. Wir lassen uns fallen in den alten Sätzen, weil unsere eigenen Erfahrungen in ihnen aufgehoben sind. Wir hören das tröstliche Stimmengewirr der Kirche Jesu Christi durch die Zeiten, wenn wir heute mit eigener Stimme die alten Worte in Schwingung versetzen. Wir feiern in alten Kirchen, weil sich in ihnen ein neuer Horizont des Lebens öffnet. Bliebe das Alte nur alt, und glänzte die Patina noch so schön, so gehörte es tatsächlich ins Museum.

Die kühnsten Variationen der eigenen Tradition finden sich allerdings meistens nicht in Wurfweite zur Kirchenmauer. Wer sie finden will, muss sich ins Offene wagen.

Den Hinweis gibt zum Schluss ein Zitat:

„Es ist Zeit für religiöse Neugier. Es ist Zeit, religiös produktiv zu werden. Das Christentum ist nicht nur passiv erfahrene Offenbarung, es ist auch aktive Kulturarbeit. Die Bibel muss zu allen Zeiten weitergeschrieben werden. Erzählungen und Rituale, Fernsehspiele und Philosophien, Bilder und Filme müssen um sie herum entstehen. Alle großen Kulturleistungen sind Apokryphen zur Bibel, alle großen Dichter Propheten und Evangelisten, die das Wort Gottes in die Sprache der Zeit übersetzen.“

Ein unverschämter Gedanke, der keinem Theologen eingefallen ist. Hermann Kurzke, der Thomas-Mann-Forscher und Essayist, verblüffte mit diesem Gedanken vor kurzem seine eigene Zunft.

Und wir sollten nicht vorschnell Beifall nicken. Ertragen wir sei denn, die wilden Theologien, die unordentlichen Lektüren und die fremden Bilder?

Hören wir auf die unbekannten Propheten, auf die fremden Evangelisten?

Sind wir vorbereitet auf einen Bilderstreit um Anmut und Würde des Menschen oder weichen wir zurück auf vertraute Klischees? Investieren wir in eine Sprachschule des Glaubens oder begnügen wir uns mit den stockfleckigen Gewohnheitssätzen?

Wer sich neuen Formen anvertraut, geht ein Risiko ein. Er betritt ungesichertes Terrain und kann nicht nur mit Zustimmung rechnen. Er braucht Einbildungskraft und Urteilsschärfe. Neue Lieder konkurrieren mit alten Hörgewohnheiten, neue Bilder zerstören die Aura alter Ikonen.

Doch unsere Welt braucht sie, die frechen Glaubenszeichen. Sie braucht waghalsige Gelingensbilder und aufrüttelnde Kompositionen der Zuversicht.
 
Das Risiko tragen im Letzten nicht wir. Gott selbst vollzieht das riskante Manöver und bindet sich an die Ausdruckskraft seiner Menschenkinder. Also richten wir unsere Rücken auf, räuspern unser Zögern fort und singen dem Herrn ein neues Lied.

Amen