Religion und Säkularität in Europa – ein gezähmter Widerspruch?

Petra Bahr

Vortrag auf der Tagung „Zukunft der europäischen Kulturpolitik“ in der Evangelischen Akademie zu Loccum

1. Generiert Religion Freiheit oder Bürgerkrieg? Arbeit am Widerspruch

Im März diesen Jahres stürmen radikale orthodoxe Christen ein Theater in Athen, um die Uraufführung eines Stückes zu stoppen, dessen Protagonist Jesus ist. Die wütende Menge will Regisseur und Schauspieler lynchen, es kommt zu heftigen Ausschreitungen mit der Polizei. In Deutschland ist dieser Vorfall dem Feuilleton nur eine kleine Meldung wert. Die Leitartikel beschäftigen sich mit dem, was als „Karikaturenstreit“ in die Geschichte eingehen wird: Nach dem Abdruck islamfeindlicher Karikaturen in einer dänischen Zeitung kommt es nicht nur zu immer gewalttätigeren Protesten muslimischer Gruppen in der ganzen Welt, es kommt auch überall in Europa zu einer heftigen Debatte um die Grenzen der Pressefreiheit. Sind die Empfindlichkeitsschwellen wieder gestiegen, wenn es um die Verletzung religiöser Gefühle gilt? Braucht es Taburegelungen, freiwillige Selbstbeschränkung von Künsten und Medien oder im Gegenteil die offensive Verteidigung der hart erkämpften Freiheitsrechte, die auch religiöse Gemeinschaften zu akzeptieren haben?

Die Debatte hat sich, den  Gesetzen medialer Öffentlichkeit folgend, gerade erschöpft, da diskutieren die europäischen Gesellschaften in unterschiedlicher Heftigkeit die Frage, ob die Comicserie „Popetown“ verboten werden soll, bevor der angeschlagene Musiksender MTV sie ausstrahlen darf. Führende Vertreter der katholischen Kirche, aber auch die angelikanische Kirche und konservative protestantische Religionsgemeinschaften rufen empört „Blasphemie“ und fordern einheitliche europäische Regelungen zum Schutz christlicher Symbole. In Deutschland wird die Verschärfung des sogenannten „Blasphemieparagraphen“ (StG § 166) verlangt. Nach der Ausstrahlung der ersten Folge versiegt der Streit zwar im Sande, die Initiative zur rechtlichen Verschärfung der Religionsbeleidigung ist aber nicht vom Tisch. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es vergleichbare Initiativen. Es wundert deshalb nicht, wenn der Europarat im April diesen Jahres eine große kulturpolitischen Anhörung durchführt, zu der sowohl Religionsvertreter als auch Künstler und ihre Organisationen geladen sind. Das Feuilleton läßt auch diese Debatte nicht aus. Filmemacher, Karikaturisten, Kulturkritiker, Medienexperten und Religionskundler aller Couleur schreiben und reden über die Darstellung des Religiösen in Medien und Künsten, als hätten sie in den letzten zwanzig Jahren nichts anderes gemacht. Noch vor zehn Jahren jedoch hätten all diese Vorfälle dieses Maß der Erregung niemals erzeugt, soviel ist sicher. Religion hat sich zurückgemeldet im öffentlichen Raum. Wie auch immer die Ereignisse der letzten Monate einzuschätzen sind, wieviel religionspolitische Instrumentalisierung man auch da und dort unterstellen mag, wie abwegig im Rückblick so manche Aufregung sein mag, als Verdichtung von Phänomenen sind die Vorfälle ernstzunehmen. Ihre Interpretation beginnt gerade erst, die Einschätzungen gehen weit auseinander. Eines ist jedenfalls sicher: die glatte These vom allmählichen Verschwinden der Religion im Prozeß der Modernisierung hat sich als falsch erwiesen. Einmal abgesehen davon, dass im Weltmaßstab die religiöse Lage in Europa geradezu als Sonderfall bewertet werden muß, weil das Maß der religiösen Bindungen auch in den modernen Gesellschaften eher zugenommen hat – die USA sind das aus europäischer Perspektive frappierende Beispiel – gilt auch für Europa, dass Religion keineswegs im Verschwinden begriffen ist. Länder wie Polen und Irland sind in den letzten Jahrzehnten seltsam unberührt von Entkirchlichungsprozessen gewesen. In vielen postkommunistischen Ländern gibt es eine Neubelebung der traditionellen Religionsformen und eine Zuwendung zu neuen protestantischen Gruppen, die meist aus den USA als Missionsbewegungen kommen. Allerdings ist der Prozeß des „deestablishment“ der Kirchen in vielen europäischen Ländern weit vorangeschritten, nicht zuletzt nach drastischen Veränderungen der relgionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, etwa in Skandinavien mit der Abschaffung der protestantischen Staatskirchen. Auch Ostdeutschland hat nach dem Wegfall staatlicher Religionsrepression nicht an alte religiöse Traditionen anknüpfen können. Zwei totalitäre Systeme mit eigenem Weltdeutungsanspruch und rigider antichristlicher Politik haben hier nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das familiale und individuelle Gedächtnis religiöser Traditionen ausgemerzt. Auch von flächendeckender Desakralisierung sollte man besser nicht sprechen, geht diese Unterstellung doch von so etwas wie einem allgemein konstatierbaren Wendepunkt in Sachen Religion aus. Blickt man jedoch auf den gesamten europäischen Raum, so hat Religion sich mit Macht zurückgemeldet als sichtbares Phänomen im öffentlichen Raum. Als medial inszeniertes Spektakel bleiben Papsttod und Papstwahl im Gedächtnis. Bemerkenswert ist dabei weniger der große Pilgerstrom gläubiger Katholiken nach Rom, sondern die öffentlich bekannte Faszination vieler Intellektueller und Kulturschaffender, die in den letzten Jahrzehnten eher durch mehr oder weniger affekthafte Religionskritik aufgefallen sind. Religion ist wieder Thema, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen und mit durchaus disparaten Gründen, die nicht zu schnell aufeinander bezogen werden sollten.

Der soziologisch nachweisbaren Sehnsucht nach Spiritualität und geprägten Rückzugsräumen, in denen der Kampf um Selbstbehauptung sistiert wird, entspricht eine sehr kontrovers ausgetragene Debatte um die Grundlagen der freiheitlich demokratischen Gesellschaften, die selbst an dem laizistischen Frankreich nicht vorbeigeht. Die Kontroverse, die über Fragen der Religion in verschiedenen europäischen Gesellschaften ausgetragen wird, entspringt nicht nur der Einsicht, dass Religion nicht verschwindet, was Korrekturen in den Modernekonzepten zur Folge hat. Die Kontroverse wird letztlich in die Religion selbst verlegt, weil Religion als hochgradig ambivalentes Phänomen in den Blick gerät. Ihre lebensstabilisierenden, normgenerierenden und kontingenzminimierenden Aspekte werden kontrastiert durch ihr Potential zu Gewalt und zur Selbstabschließung. Ihre kulturprägenden Kräfte erhält so in der öffentlichen Analyse einen kulturzerstörenden Antagonisten.

Die positiven Erwartungen an die öffentliche Seite der Religion werden in Deutschland als Streit um das Theorem des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde ausgetragen: Lebt der freiheitlich-demokratische Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann? Und wenn ja, speisen sich diese Voraussetzungen aus der Religion, ja, wie gegen Böckenförde kurzgeschlossen wird, aus dem Christentum? Hier werden in hohem Maße Fragen kultureller Tiefengrammatik relevant. Wie sehr sind Grundvorstellungen des Christentums in säkular übersetzter Form eingegangen in unsere Verfassungs- und Lebensordnungen, etwa die Sakralität der Person oder die religionsoffene Abschluß und Grenzfigur des Grundgesetzes, der unbedingte Schutz der Menschenwürde? Und was läßt sich von diesem geschichtlichen Prozeß aussagen? Ist gar, wie neulich der Politikwissenschaftler Herfried Münkler behauptete, das Grundgesetz – und auch eine zukünftige europäische Verfassung so etwas wie ein verbindlicher Tugendkatalog und damit eine von starken Überzeugungen geprägte Zivilreligion diesseits des Rechtes, die den schnöden Verfassungspatriotismus eines Jürgen Habermas ersetzt? Oder ist schon dieser Gedanke gefährlich, weil er letztlich staatliche Macht und religiöse Bindung identifiziert?

Nicht immer geht mit der neuen Sichtbarkeit der Religion auch ein geregelter Öffentlichkeitsanspruch einher. Die religionspolitische und kulturelle Integration des Islam, dessen uralte Beheimatung in Europa zu den verleugneten oder vergessenen Großerzählungen der europäischen Kulturgeschichte gehört ist als Religion der Migrantengemeinschaften die vermutlich größte Herausforderung der europäischen Gesellschaften. Es sind dabei nicht nur die wachsenden Zahlen der Muslime sondern vor allem die andere, bis in die alltäglichen Lebensvollzüge relevante Religionskultur, die die westlichen Gesellschaften provoziert. Das erkennt man an der zunehmenden Zahl der Streitfälle, die nicht nur vor den nationalen, sondern auch vor europäischen Gerichten ausgetragen werden: Verstößt das Schächten gegen den Tierschutz? Darf eine Lehrerin in der Schule Kopftuch tragen? Darf eine Schülerin mit der Burka den Unterricht besuchen? Ist getrennter Sportunterricht ein Gebot der Religionsfreiheit? Müssen Arbeitgeber Räume für die täglichen Gebetsrituale schaffen?

Tritt man einen Schritt zurück vor der Heftigkeit der ausgetragenen Debatten, so wird deutlich, dass in der Interpretation des Phänomens Religion in Europa zwei große Gründungsmythen miteinander streiten, die als solche eher latent bleiben: Der eine Gründungsmythos setzt ganz auf die Idee der Säkularisierung, hier gefaßt als Trennung einer religiösen und einer weltlich-politischen Sphäre, die humanitätsstiftend war. Dieser Gründungsmythos hat jedoch sehr unterschiedliche Varianten ausgeprägt. In der einen Variante liegt das Besondere der europäischen Geschichte darin, die religiösen Grundkräfte zu weltlichen Antrieben modifiziert zu haben. Max Webers These vom Ursprung des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus ist ein herausragendes Bespiel dafür. Die Gegenentwürfe, die die gleiche These auf den Katholizismus bzw. die religiösen Orden oder auf das Judentum beziehen, sprechen eher für als gegen die Macht dieser Vorstellung. Das religionskulturelle Erbe ist in dieser Perspektive gerade in der Verweltlichung der Religion zu sehen. In der anderen Variante gilt das Trennungsregime eher dem Autonomiegdanken der einen oder der anderen Sphäre, je nach Ausprägung wird so entweder die Religion vor politischen Ansprüchen oder der Staat von religiösen Ansprüchen befreit. Die Trennung von Staat und Religion ist so für die einen die Geburt der Religionsfreiheit, für die anderen die Möglichkeit der Freiheit von Religion. Bis in die Rechtskonzepte lassen sich diese Modelle identifizieren: Frankreich legt wert auf die letztere Interpretation, Deutschland auf die erstere. So kommt es, dass die Vorstellungen, was sich mit der Säkularität etwa der Verfassung verbindet, in Europa so unterschiedlich sind, weil unter dem Säkularisierungsprozess etwas sehr anderes verstanden wird. Religionspolitik der Gegenwart ist in hohem Maße von der Produktion von Geschichtsbildern geprägt. Diese Unterschiede sind keineswegs rein theoretischer Natur, sie bestimmen bis heute die vielen Missverständnisse in den Debatten um den Gottesbezug in der Präambel einer möglichen europäischen Verfassung. Es wäre deshalb hilfreich gewesen, wenn man sich im politischen Streit gegenseitig aufgeklärt hätte über die latenten Grundverständnisse und Bedeutungsgeschichten, die man voraussetzt. Nur so kann man erklären, wieso in dem einen Verfassungskonzept die Weltanschauungsneutralität des Staates zu einer prinzipiellen Religionsoffenheit mit stattlicher Förderung wie dem Körperschaftsstatus, dem Religionsunterricht in öffentlichen Schulen usw. kommt, während im anderen Konzept Religion ausschließlich in der privaten Sphäre eine Rolle spielt – oder sollte man sagen: spielte? Auch laizistische Staaten sind ja augenblicklich durch den Islam mit einer ins Öffentliche drängenden Religionskultur konfrontiert. Eine dritte Version dieser Gründungsfigur hat sich in den postkommunistischen Staaten herausgebildet. Unter der staatlich verordneten Repression der freien Religionsausübung kommt Religion zum Rückzugsraum vor den Zumutungen der Weltanschauungsdiktaturen wie zum Motor von Freiheitsbewegungen werden. In unterschiedlicher Weise gilt das etwa für die Solidarocs-Bewegung in Polen, die ohne den Katholizismus nicht zu erklären wäre oder für die christlichen Gemeinden im Osten, die nicht nur Rückzugsort, sondern auch Widerstandsort gegen das Regime werden konnten. Christen wurden hier zu Vorboten freiheitlich-demokratischer Leitvorstellungen und zu entscheidenden Akteuren der friedlichen Umstürze. Diese Freiheitserfahrungen, die sich an die Religionskultur binden, finden in den gegenwärtigen europäischen Debatten viel zu wenig Aufmerksamkeit.


2. Europa – christliches Abendland oder Raum des Kulturaustausches? Ein Angebot zur Ermäßigung des vermuteten Widerspruchs

Im Streit um die religionspolitische und kulturelle Zukunft Europas stritt ein Leitbegriff auf die Bühne der Öffentlichkeit, der lange in den Archiven zu verstauben schien. Europa müsse sich darauf besinnen, dass es „christliches Abendland“ sei, diese Forderung ist längst nicht mehr nur Teil konsersativer Politikrhetorik. In der anhaltend drängenden Frage nach dem, was unglücklich als europäische Leitkultur rangiert und in Wahrheit wohl die fällige Debatte um das kulturelle Selbstverständnis angesichts einer sich dramatisch verändernden Weltlage ist, fehlt der Verweis in keinem Beitrag, und sei es, um den Begriff zu perhorreszieren. Jüngst hat der jüdische Europarechtler Josef Weiler, der in Florenz und New York lehrt, den Europäern vorgeworfen, sie seien „christophob“ und reagierten mit unverständlichem Selbsthaß auf ihre religiösen Traditionen und versuchten beinahe zwanghaft, den Verweis auf das Christentum zu vermeiden. Sicher hat der Provokateur etwas Wahres getroffen. Die möglicherweise ungesunde Vorsicht oder mangelnde Souveränität im Umgang mit christlichen Traditionen und Überzeugungen in der Öffentlichkeit haben vermutlich ihre Ursache in mindestens einer anderen Gründungsfigur, die ursächlich mit der Geschichte Europas verbunden ist: Das christliche Abendland war der geopolitische Raum verheerender religiöser Bürgerkriege und rabiater religiöser Intoleranz. Die Heraufkunft des modernen Staates als ultimative Befriedungsinstanz der Religionskonflikte- diese These gehört vielleicht zu den stabilsten Großerzählungen Europas. Dazu kommt ein tief verwurzelter Antijudaismus, der seit dem 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland mit menschenverachtenden Formen des Rassenhasses einen Pakt einging. Diese schreckliche religiöse Spur führt bis zur Shoah, auch wenn der Zivilisationsbruch in der Mitte Europas viele andere Wurzeln hat. Der zivilitätsstiftenden Kraft der Religion begegnet so immer eine unmenschliche Fratze. Vielleicht ist von hier aus auch die radikalisiernde Dynamik zu verstehen, wenn in Europa über die Rolle der Religion gestritten wird. Der, der auf diese religiöse Blutspur verweist, hat immer ein schlagendes Argument. Die Spannung zwischen beiden Momenten kann natürlich nicht ermäßigt werden, die Europäer stehen jedoch, das ist das Argument von Jo Weiler, in der Gefahr, vor diesem Erbe nach wie vor eine Monopolstellung einzuräumen.

Die Inflation dieser Bezugnahme auf das abendländische Erbe sollte allerdings auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verweis auf die Kategorie des Abendlandes nicht unschuldig sein kann. Über einen Zeitraum von zweihundert Jahren war die Rede vom christlichen Abendland schlicht ein politischer Kampfbegriff, mit dem sich eine konservative Utopie verknüpfte. Die Bilder dieser Utopie mögen sich zwischen dem Dichter Novalis und dem Staatsrechtler Carl Schmitt in vielem unterscheiden, eine Leitvorstellung verbindet sie mit britischen oder französischen Abendlandidealisten: die Vorstellung eines utopischen Imperiums, ausgezeichnet durch eine starke Ordnung, die auf äußere Einheit und innere Einheitlichkeit drängt und sich über Abgrenzung bestimmt. Seine kulturelle Grammatik ist lateinisch, romanisch und katholisch, auch wenn Teile des konservativen Protestantismus sich dieser Leitvorstellung anschließen. Oft ist das, was sich mit dem Abendländischen verbindet, antihumanistisch, antidemokratisch, antiamerikanisch und oft genug antisemitisch. Das christliche Abendland wurde im 19. und 20. Jahrhundert vor allem da beschworen, wo man den Zumutungen der Moderne Einhalt gebieten will. Kriegerische Eskalationen und apokalyptische Weltbilder gehören zu diesem Abendlandkonzept ebenso wie die Ausgrenzung des Fremden und ein kulturelles Überlegenheitsgefühl. Wer heute Europa in den Horizont des Abendlandes und seiner Werte stellen will, der sollte sich der Resonanz bewußt sein, die dieser Begriff evoziert. Wer Europa mit dem christlichen Abendland identifiziert, der ist deshalb in besonderer Weise auskunftspflichtig im größer werdenden Europa nicht nur kyrillische Buchstaben, sondern auch ostkirchliche Traditionen eine Rolle spielen werden. Deshalb ist an dieser Stelle vehement an eine Selbstverständlichkeit zu erinnern: die kulturelle Gestalt kann ebensowenig wie seine politische Form ausschließlich aus christlichen Wurzeln erklärt werden. Es ist vielmehr gerade die Pointe einer Genealogie des Europäischen, dass es sich mehreren Quellen verdankt. Rom, Athen und Jerusalem mögen für die mächtigsten geistigen Strömungen stehen: Dem Griechen verdanken die Europäer den Geist der Philosophie, den Aufbruch der Wissenschaft und die Offenheit für Künste – ein Erbe übrigens, das zu wesentlichen Teilen dem mitteralterlichen Islam zu verdanken ist. Den Römern verdankt Europa die Stiftung der Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende  doch selbst diese markanten Symbole lassen viele Einflüsse unterbelichtet. Man kann vermuten, dass die kontroversen Dynamiken in Sachen Religion eher ein allgemeines Phänomen sind, das sich auch auf andere Bereiche erstreckt. Europa verdankt sich dem hoch dynamischen Umgang mit gezähmten und zu immer wieder zu bändigenden Widersprüchen.

Deshalb ist es auch als christliches Abendland, wenn man genauer hinsieht, in Raum des steten Kulturaustausches. Die durchlässigen Grenzen wurden dabei zu jeder Zeit als Bedrohung und als Chance begriffen. So lösen etwa die Türken vor Wien apokalyptische Ängste aus, während gleichzeitig die christliche Mystik, das zeigt die neuere Forschung, in ihrem Kern durch die islamische Mystik beeinflußt ist. Ähnlich kompliziert ist das Verhältnis von Judentum und Christentum. Neben der jahrtausendelangen Ausgrenzungsgeschichte gibt es eine Gegenerzählung unentdeckte wechselseitige Beeinflussungen, der immer noch zu wenig Aufmerksamkeit verliehen wird. Das christliche Abendland als Raum des regen Kulturaustausches zu rekonstruieren, ist wohl eine der größeren kulturellen Aufgaben, wenn gilt, dass Geschichte Zukunft schafft.

Diese Beispiele sollen nur als Hinweis genommen werden, dass die Kategorie des christlichen Abendlands dann für die Bewährung in den religionspolitischen Herausforderungen der Gegenwart hilfreich sein kann, wenn die scheinbar antagonistischen Gegenentwürfe des Verhältnisses der Europäer zur Religion – Religion als belligerante Gefährdung und Religion als zivilitätsstiftende Kraft – in ein bleibendes Spannungsverhältnis gesetzt werden, anstatt die gegenläufigen Dynamiken einseitig aufzulösen. Das Agonale, das in diesen Dynamiken kennzeichnend ist, hat ja nicht nur ein tragisches, sondern auch ein produktives Moment. Nur, wenn wir beides in den Blick nehmen, wird es gelingen, die Frage nach der Bedeutung der Religion um die Frage nach der angemessenen Gestalt der Religion in Europa zu ergänzen.

Nur wenn diese Frage ernsthaft in den Mittelpunkt rückt, kann auch die Frage nach der Rolle der Religion im zukünftigen Europa angemessen beantwortet werden. Welche Formen der Partizipation in der Öffentlichkeit brauchen wir, damit die Religionen ihre humanisierende Kraft entfalten können? Welche politischen Rahmenbedingungen setzt diese Teilhabe voraus? Wie kann das kulturelle Erbe, auch das Erbe des religionskulturell so fruchtbaren Austausches, im künftigen Europa als echtes Vermächtnis und nicht als musealisierte Erinnerung, an die nächste Generation weitergegeben werden? Welche Orte brauchen wir, damit die unterschiedlichen religionskulturellen Prägungen in konkreten Geschichten gegenseitig erzählbar werden? Wie können religiöse Identitäten geschaffen und geschützt werden, ohne das Abgrenzungskämpfe die Folge sind? Wie können in Zukunft Symbolkämpfe um Kopftuch und Bilderverbot so ausgetragen werden, dass sowohl der Religionsfreiheit als auch der Freiheit zur Religionskritik Rechnung getragen wird? Wieviel Aufklärung über Religion brauchen wir, ohne dass die Macht des Religiösen selbst weltanschaulich hochgerüstet bestritten würde und so die Aufklärung selbst unter der Hand zum traurigen Religionsersatz wird? Es gilt, die Widersprüche nicht als hinlänglich gezähmte, sondern als ständig neu zu zähmende anzuerkennen, allerdings nicht in dem Sinne, dass man den Stachel der Religion selber ziehe. Religion ist ohne Kritik an der Welt nicht zu haben. Im „gezähmten Widerspruch“ liegt folgerichtig kein Webfehler Europas, hier baut sich vielmehr ein energetisches Spannungsfeld auf, das aufzulösen die Europäer um viele Dimensionen ärmer machte. Denn im Bild der Zähmung bleibt schön unbestimmt, wer eigentlich wen im Zaum hält. Hier liegt indes der heilsame Witz dieses spannungsreichen Verhältnisses: Die Religion sorgt dafür, dass Staat, Politik und Bürokratie, aber auch Wirtschaft und Wissenschaft selbst nicht religiös werden. Sie verzichtet allerdings ihrerseits auf politische Herrschaftsansprüche und erkennt die Säkularität der anderen Sphären an. Beides zusammen ist die Bedingung für Freiheit und Kultur als „Bedeutung im Werden“.