"Wird schon werden!"

Pastorin Petra Bahr, Kulturbeauftragte des Rates der EKD erinnert an Robert Gernhardt

Rückgabeantrag an Gott

Robert Gernhardt, der große deutsche Dichter, stellt einen "Rückgabeantrag" an Gott. Und weil er ein Sprachkünstler ist, hat er seinen Antrag in ein Gedicht gefaßt.

Tief in mir den Körper eines Knaben
den möchte ich jetzt wiederhaben.

- Und noch einmal einen draufmachen können, was?
Wann waren Sie überhaupt das letzte Mal Knabe?
Dreißig Jahre her? Vierzig Jahre her? Fünfzig Jahre her?
In diesem Zeitraum ist doch jede Zelle ihres Körpers verschlissen
und erneut worden, ist wieder veraltet und wieder abgestorben:
Wo soll ich denn den von Ihnen gewünschten Knabenkörper hernehmen, Sie Lustgreis?

Robert Gerhardt will seine Kindheit wieder. Den kraftstrotzenden Körper, die Neugier, den Spieltrieb, die Lust am Lernen. Dann und wann hat wohl jeder schon mal diesen Rückgabeantrag gestellt. Wo ist denn der forsche Junge, der nur rauswollte in die Welt? Wo ist das kesse Mädchen, das sich vor nichts fürchtete außer vor der Langeweile? Die Falten im Gesicht könnte man ja noch ertragen. Es sind die Falten auf der Seele, die uns fragen lassen: was ist eigentlich von mir geblieben nach all den Jahren? Gernhardts Gott antwortet milde, als hätte er diese Klage schon tausendmal gehört. Er siezt den Dichter wie der Beamte im Fundbüro. Denken Sie doch selber noch mal nach, wo Sie das Kind in sich verloren haben.

Aber Robert Gernhardt gibt keine Ruhe. Ungeduldig platzt es aus ihm raus:

Tief in mir die Seele eines Knaben,
die möchte ich jetzt wiederhaben.

Diesmal fällt die Antwort anders aus:

Und die Welt noch mal mit Kinderaugen sehen, stimmts?
Sie machen mir Spaß, Sie: Wieso wollen Sie denn etwas wiederhaben,
was Ihnen Zeit ihres Lebens nicht genommen worden ist, Sie Purzelchen?

Das ist die Antwort, die sogar einen Dichter verstummen lässt. Werdet wie die Kinder, hat Jesus mal gesagt. Das heißt nicht, dass wir nun alle kichern wie zehnjährige Gören oder mit Bällen gegen das Garagentor bolzen. Es heißt: Sich erinnern, wie man als Kind in die Welt geguckt hat. Neugierig und voller Zutrauen in eine Kraft, die größer ist als alle Vernunft. Wenn Sie heute in den Spiegel schauen, dann ziehen Sie mal eine Fratze wie zuletzt vor dreißig Jahren, Sie Purzelchen.



Alle Sünde kommt vom Vergleichen

Alle Sünde kommt vom Vergleichen. Das sagt man so. Robert Gernhardt hat über diese Sünde ein Gedicht gemacht:

Immer ist einer behender als du
Du kriechst
Er geht
Du gehst
Er läuft
Du läufst
Er fliegt

Einer immer noch behender.

Immer einer begabter als Du

Du liest
Er lernt
Du lernst
Er forscht
Du forschst
Er findet:

Einer immer noch begabter.

Immer einer noch berühmter als Du

Du stehst in der Zeitung
Er steht im Lexikon
Du stehst im Lexikon
Er steht in den Annalen
Du stehst in den Annalen
Er steht auf dem Sockel:

Einer immer noch berühmter.

Die Lust am Vergleich kennt jeder. Dafür braucht man kein Dichter sein. Man braucht nur die Vokabeln im Gedicht austauschen. Immer ist einer besser. Beim Backen einer Sachertorte. Beim Kirschkernspucken und beim Rotwein-blind-Erkennen. Beim Singen, beim sich Verlieben, beim Festefeiern und beim Karrieremachen. Die Lust am Vergleich treibt uns an wie damals die Jünger Jesu. Wer ist der beliebteste? Wer stellt die schlausten Fragen? Wer fängt mehr Fische und wer überzeugt mehr Menschen? Sich vergleichen, das gehört zum Menschsein dazu. Und doch wird diese Lust schnell zum Fluch. Ehrgeiz wird zu Neid. Sich vergleichen müssen, das quält. Das macht unruhig. Das macht unzufrieden. Manch einen führt das in die Lethargie. Die Ersten werden die Letzten sein, hat Jesus einmal gesagt. Ein ärgerlicher Satz, weil er die belohnen könnte, die die Hände in den Schoß legen, statt das Leben anzupacken. Der blanke Zynismus, wenn gemeint wäre: immer ist einer noch schlechter als Du. Immer ist einer dümmer, langsamer, ärmer als Du? Das wäre ein häßlicher Trost. Und einer auf Kosten der anderen. Nein, der Satz ist eine Korrektur an unserer Neigung, immer erster werden zu wollen. Weil in Gottes Perspektive andere Maße gelten. Gott schafft es, unser Leben als Unvergleichliches anzusehen. Gott mißt uns nicht an unseren Erfolgen. Das kann uns gelassener machen, wenn mal wieder gilt: immer einer besser als Du.



Ein altes Haus

Dichter sind dazu da, in den banalen Kleinigkeiten des Alltags Zeichen für Großes zu sehen. Das ist ihre Zauberei. Der Dichter Robert Gernhardt ist so ein Zauberer. Er hat Gedichte über Weingläser gemacht, über Gartenteiche, über Schuhe - und über ein Haus. Das klingt einfältig. Ist es aber nicht. Hören Sie selbst:

So ein altes Haus scheint ein Teil der Natur:
ich besitz es und besetz es
und bin doch nur
ein Glied in der Kette
von vielen Benutzern,
Besitzern, Bewahrern
Bewohnern, Verschmutzern,
die alle verwohnten,
verstarben, vergingen,
nicht zu bedenken,
nie zu besingen,
alle nur Gäste,
alle nur Drohnen,
gewohnt zu beerben
geschickt im Bewohnen -
aber:
Vor uns, den Erben,
erbauten Erbauer
Mauern aus Feldstein
in Maßen von Dauer
nicht immer lotrecht,
doch immer gerichtet,
nicht immer nach Vorschrift,
doch stets so gewichtet,
daß die Mauern nach all den
Jahrzehnten noch ragen,
die Wände noch schützen,
die Balken noch tragen-:
Erfahrne Erbauer!
Euch sollte ich kennen,
bedenken, besingen,
berühmen, benennen,
und weiß nichts von euch.
Ich weiß nur: Dies Haus
ging eins mit euch an
und geht nicht mit mir aus.

Robert Gernhardt braucht keinen Geschichtsprofessor, um zu verstehen was gemeint ist mit dem großen Wort "Generationenvertrag." Er braucht nur einen Hausbewohner, der sich umsieht und kurz innehält. Ja, wir werden in die Welt geboren wie Hausbewohner. Vor uns haben andere in den Zimmern gelebt. Und nach uns werden andere kommen. Wir haben die Räume tapeziert mit unseren Lieblingsmustern und Möbel aufgestellt, die dem Stil der Zeit entsprechen. Das, was die Alten übriggelassen haben, landet im Sperrmüll. Nur wenn wir renovieren, stoßen wir auf alte Tapetenschichten. So ist es auch im übertragenen Sinne: mit unserer Kultur. Wir hausen in den Gebäuden längst vergangener Zeit. Und sollten uns besinnen auf das, was uns überliefert ist. Das, was uns jetzt Schutz und Heimat gibt, haben wir nicht selbst geschaffen. Wir haben es erworben, gemietet oder ererbt. Erben verpflichtet.

Nur wer die Erinnerung pflegt, hat Zukunft, heißt ein jüdisches Sprichwort. Wer weiß, wo er herkommt, der wohnt nicht nur gelassen in der Gegenwart, weil er weiß, dass die Fundamente halten. Er kann auch der nächsten Generation ein Dach über dem Kopf geben.



Begegnung

Ein Gedicht von Robert Gernhardt

Was sagt man dem, ders nicht mehr packt?
Man kommt nicht weit mit "halt Dich steif",
man fährt nicht gut mit "Weiter so",
man scheitert mit "Das gibt sich".

Da sagt man doch am besten nichts.
Nicht "halb so schlimm" , nicht "Renkt sich ein",
nicht "da muß jeder mal durch"
schon gar nicht "Wird schon werden!"

Wenn jemand im Sterben liegt und zeitlebens ein Dichter war, dann findet er sogar noch Worte für das, was eigentlich keine Worte verträgt. Robert Gernhardt, der vor ein paar Wochen nach einer schweren Krankheit gestorben ist, hat noch auf dem Sterbelager ein Gedicht nach dem anderen geschrieben. Mit leichtem Ton und in fast fröhlichem Kinderreim umzingelt er immer wieder das Unerträgliche. Nichts läßt er durchgehen, Nicht das Unvermögen, nicht die Lächerlichkeit, nicht den Schrecken angesichts des Todes. Ein Leben geht zuende. Sein Leben geht zuende. Der Dichter hat Sprüche gesammelt zu denen wir greifen wie zu einem Geländer, wenn wir am Bett eines kranken Freundes sitzen, am Bett des Vaters, am Bett der Nachbarin. Jeder kennt dies "halb so schlimm", Hilfsvokabeln gegen die eigene Sprachlosigkeit.

Täuschungsversuche gegen die Realität. Wie ein Hohn auf die Lage des Kranken klingen sie. Es wird schon wieder? Nichts wird wieder gut. Nichts geht mehr. Nichts renkt sich wieder ein. Schonungslos reiht der sterbende Dichter all das auf, was so schrecklich gut gemeint ist. Und doch geht er beinahe gütig um mit den hilflosen Versuchen der Freunde, sich gegen die Wahrheit des Todes zu stemmen. "Da sagt man doch am besten nichts". Nichts mag einem Dichter so schwer fallen wie: nichts zu sagen. Auf den Tod reimt sich nichts. Gerne wüßte man, ob Robert Gernhardt auch eine dritte Strophe hätte dichten können. Darüber, was es bedeutet, wenn ein Freund einfach die Hand hält, stundenlang. Oder leise eine Psalm singt, weil die so geliehenen Wort nicht einknicken vor dem Tod, sondern trotzig aushalten, was nicht mehr zu verhindern ist. Da sagt man doch am besten nichts - dieser Satz kann viele Bedeutungen haben. Die Stille, die eintritt, kann Ausdruck der Verzweiflung, aber auch Ausdruck einer großen Hoffnung sein.



Siebenmal mein Körper

Siebenmal mein Körper. Ein Gedicht von Robert Gernhardt:

Mein Körper ist ein schutzlos Ding,
ein Glück das er mich hat.
Ich hülle ihn in Tuch und Garn
und mach ihn täglich satt.

Mein Körper hat es gut mit mir,
ich geb ihm Brot und Wein.
Er kriegt von beidem nie genug,
und nachher muß er spein.

Mein Körper hält sich nicht an mich,
er tut, was ich nicht darf.
ich wärme mich an Bild, Wort, Klang,
ihn machen Körper scharf.

Mein Körper macht nur,
was er will,
macht Schmutz, Schweiß, Haar und Horn.
Ich wasche und beschneide ihn
von hinten und von vorn.

Mein Körper ist voll Unvernunft,
ist gierig, faul und geil.
Tagtäglich geht er mehr kaputt,
ich mach ihn wieder heil.

Mein Körper kennt nicht Maß noch Dank,
er tut mir manchmal weh.
Ich bring ihn trotzdem übern Berg
und fahr ihn übern See.

Mein Körper ist so unsozial.
Ich rede, er bleibt stumm.
Ich leb ein Leben lang für ihn.
Er bringt mich langsam um.

Was für eine merkwürdige Beziehung, auf die sich Robert Gernhardt einen Reim macht. Als könnte man über seinen Körper reden wir über ein fremdes Wesen. Dabei tut der Dichter nur mit hinterhältigem Witz, was im christlichen Abendland von großen Denkern immer wieder gefordert wurde: den Körper möglichst von Geist des Menschen zu trennen. Achtet auf Eure Seele und auf eure Vernunft. Der Körper ist ein Instrument des Bösen. Das Fleisch ist der Anfang aller Verdammnis. Ein nachhaltiges Missverständnis - wie ich finde, für das sich in der Bibel kein Beleg finden läßt. Die Bibel spricht von Heil und Heilung. Dabei hat sie auch immer den Körper im Sinn. Als Geschöpfe Gottes sind wir eben keine Geister, die über der Erde schweben. Deshalb reicht ja auch die Menschenwürde bis zur körperlichen Unversehrtheit. Und Paulus, den die gelehrten Leibfeinde zu ihrem Chef erklärt haben, kann sogar vom Leib als Tempel sprechen. Von wegen: vergesst eure Körper. Wir sollten es machen wir Robert Gernhardt: einen lebendigen Dialog führen mit dem Leib, in dem wir nicht nur stecken, sondern der wir selber sind. Er soll nicht zu unserem Gott werden, wir sollen ihn aber auch nicht verteufeln. Eher schon sollen wir uns mit befreunden, mit all seinen Macken, seinen Falten, seiner Gebrechlichkeit und seinem Eigensinn.



Mein Hemd

Ein Gedicht von Robert Gernhardt

Beim Tomatenpflücken bleibt
mein Hemd an einer der Stangen
hängen und reißt.
Ritsch.

Beim Ausziehen bleibt
mein Blick am Etikett des Hemdes
hängen und liest: "Eterna".
Ratsch.

Eterna ist Latein und bedeutet "Ewigkeit". Keine Schleichwerbung, verehrter Herr Dichter. Nun, er hat ja recht, der Robert Gernhardt. Es gibt sie nämlich wirklich, die Marke "Eterna". Mit goldenem Schriftzug ziert sie das schwarze Etikett im Innern des Kragens. Das soll wohl meinen: unsere Hemden halten ewig. Tun sie offensichtlich nicht. Jedenfalls nicht das von Herrn Gernhardt. Ritsch, ratsch, und schon ist der Ärmel angerissen. Ein Hemd für die Ewigkeit? Von wegen. Das, was ewige Haltbarkeit versprach, kann der Gernhardt jetzt zum Schuheputzen nutzen.

Was für eine banale Situation. Jetzt wissen wir, dass der Herr Poet seine Tomaten selber pflückt. Das ist ja was. Der macht sich auch mal die Hände schmutzig im eigenen Garten. Und war dabei einmal unachtsam. Ritsch. Der ganze Alltag ist durchzogen von solch ärgerlichen kleinen Momenten. Das ist doch nicht der Rede wert, und schon gar kein kunstvolles Gedicht, oder? Spricht da mal wieder die Eitelkeit der Dichter? Ist sein Hemd denn was Besonderes? Bestimmt haben Sie es auch gemerkt: Der Dichter hat einen doppelten Boden in sein Gedicht eingebaut. Was so banal klingt, hat er nicht nur mit ganz schlichten Worten kunstvoll komponiert. Es bleibt auch noch was anderes hängen als das Hemd an der Tomatenstange. Bei uns bleibt was hängen. Wie bei jedem guten Gedicht. Der Eindruck nämlich, dass das kleine Erlebnis ein Gleichnis ist für etwas, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Als hätte der Dichter zwischen die Worte einen Sinn geschmuggelt, der unsichtbar bleibt und der doch unübersehbar ist. Der Dichter erzählt eine kleine Situation, die für mehr steht als für den Ärger über ein zerrissenes Hemd. Dafür, wie fragil doch all das ist, was wir stabil und unzerstörbar glauben. Ritschratsch, und schon ist ein Riß in unserem heilen Leben. Eine Ehe zerbricht oder eine Jugendfreundschaft. Ein Körper, eben noch kräftig und agil, wird schwach und gebrechlich. Ritsch-Ratsch - ein keiner Moment, und schon ist da nichts mehr zu flicken. Von wegen "für die Ewigkeit". Wenns uns gut geht, verdrängen wir das. Wir leben oft, als stünde auf dem Etikett in unserem Leben "Eterna"-Ewigkeit. Für den Dichter ist das Mißgeschick im Garten Anlaß, innezuhalten. "Exempla docent". Hat er sein Gedicht genannt. Das ist schon wieder Latein und bedeutet: die kleinen Dinge des Lebens lehren uns was. Sie dienen uns als Beispiel für das, was wichtig ist. Sie sind wie kleine Merkposten, winzige Momente, die die Dinge in anderem Licht erscheinen lassen. Und so die Banalität unseres Lebens durchbrechen. Wie ein Gedicht.