Orientierungsgewinne - Die religiöse Grammatik kultureller Bildung

Petra Bahr (Politik und Kultur, September 2006)

„Bildung ist das, was bleibt, wenn einer alles vergessen hat“. Mit diesem Aphorismus teilt der Philosoph Hans Blumenberg jeder Vorstellung eine Absage, die mit Bildung einen Kanon des Wissenswerten verbindet, eine Technik der Weltbewältigung oder gar eine arbeitsmarktfähige Ausbildung. Der Satz, so könnte man auf den ersten Blick meinen, steht für eine Tradition, die als typisch deutsche längst höchst zweideutig geworden ist: jene schicksalshaften Geistversessenheit des 19. Jahrhunderts, die jeder Orientierung an Ökonomie, Technik, Politik und pragmatischem Alltagswissen zugunsten höherer Kulturbildung eine Absage erteilt. Rembrandt sollte der Erzieher der Deutschen sein, um einmal ein prominentes Buch aus dem Kaiserreich zu zitieren. Bildung, das war ein lange in Synonym für kulturelle und für religiöse Bildung: für die Einsicht in die antiken Mythen und in die Literatur der Klassik, für Geschichte und für die Bildtraditionen der christlichen Legenden in der Bearbeitung zeitgenössischer Malerei.

Vor dem Hintergrund der in der Form oft antieuropäischer, sicher antidemokratischer und oft bornierter Bildungtraditionen versteht sich vielleicht die Kehrtwende, die die gegenwärtige Bildungsdebatte eine Jahrhundertwende später macht. Das 19. Jahrhundert haben wir gründlich abgestreift. Kultur muß sich nun vor allem rechnen und „Bildung“ zielt in Großem und Ganzen auf die geschickte Nutzung von kreativen Kompetenzen zur Vermehrung der Gewinne auf globalisierten Arbeitsmärkten. Selbst kulturelle und religiöse Bildung, beides prominente Leitworte öffentlicher Sonntagsreden, sollen vor allem zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen dienen: die kulturelle Bildung soll die Kreativität fördern und zukünftige Eliten mit der nötigen Lust zur Innovation ausstatten – kein Wunder, dass zeitgenössische Kunst nun von den Banken gsammelt und ausgestellt wird. Auch religiöse Bildung wird augenblicklich vor allem als Medizin gegen die Religionskonflikte einer multireligiösen Gesellschaft angepriesen. Islamkunde und Werteunterricht scheint vor diesem Hintergrund wichtiger als die gründliche Einführung in die christliche Religion.

Gegenüber dieser Art der fahrlässigen Verkürzung des Bildungsverständnisses scheint es an der Zeit, einmal wieder auf ältere Bildungsdebatten zurückzukommen: nicht, um ins Überkommene zu fliehen, sondern um das Unabgegoltene des alten Bildungsbegriffs hervorzuheben. „Bildung ist das, was bleibt, wenn einer alles vergessen hat“ – das scheint auf den zweiten Blick auch den Forderungen nach festen Kanonizes zu widersprechen. Als könne man Bildung loslösen von Kompetenzen und Kenntnissen, die man zusammengenommen als „Lesefähigkeit“ beschreiben kann. Wenn das so wäre, liefe Blumenberg Aphorismus ins Leere. Er wäre schlicht unzeitgenäß. Der grassierende Analphabetismus ist oft genug beklagt, kleine bürgerschaftliche Initiativen und große institutionelle Programme dagegen werden in letzter Zeit wenigstens gewagt: von der Leseförderung bis zur Museumspädagogik, von Simon Rattles Initiative „Rhythm is it“ bis zu Malworkshops für Kinder, die nicht nur Lust auf den Umgang mit Farbe machen sonder auch einen Sinn für die Bildgehalte vermitteln, die die abendländische Künste geprägt haben. So kommt es, dass im Foyer des Museums biblische Geschichten erzählt werden.

Ja, wir brauchen die Diskussion um Kanonizes, sowohl in der Kultur als auch in der Religion, wir brauchen Minimalstandards dessen, was man kennen und wissen sollte, um in unserer Gesellschaft mehr als nur zurecht zu kommen. Da hilft es, wenn man die theoretische Unendlichkeit des Streits um den Kanon manchmal einfach pragmatisch sistiert und sich mit vorläufigen Kanonizes zufrieden gibt.

Doch Blumenberg zielt auf eine andere Pointe. Und hier kommen Kultur und Religion aus systematischen Gründen eng zusammen: Bildung, das ist vor allem „Lebenswissen“, ein Wissen, das zum Leben hilft, weil es Orientierung bietet, weil es einen Horizont der Wertigkeiten aufscheinen läßt, an dem das eigene Leben sich ausrichten kann. Deshalb konnte man im 19. Jahrhundert Religion und Kultur fast synonym gebrauchen. Selbstverständlich muß man immer wieder daran erinnern, dass Religion sich in kulturellen Ausdrucksformen nicht erschöpft – und dass kulturelle Ausdrucksformen sich von religiösen Ansprüchen emanzipiert haben. Insofern gilt eine klare Absage an die zivilreligiöse Leitkultur des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem über Abgrenzung definiert hat. Wenn man sich allerdings das vor Augen führt, was im weitesten Sinne mit „Kultur“ gemeint ist, dann wird deutlich, dass unsere Kultur die Spur der Religion gar nicht los werden kann, entsteht sie doch zu einem erheblichen Maße  aus dem Ringen mit den Gelingensbildern, Ansprüchen, Geschichten und Grundvorstellungen des Christentums. Das Christentums ist ja selbst noch in den Künsten des 20. Jahrhunderts präsent, oft wie ein Schatten, den man nicht loswerden will, immer wieder aber auch als Herausforderung, als Stoff der Auseinandersetzung. Ja selbst noch in den polemischen Gegenentwürfen, die mit christentumskritischer Verve antreten, ist die Religion auf eigentümliche Weise präsent. Das gilt nicht nur für die Archive, Museen, Bibliotheken und Kirchen, wo Hunderte von Variationen auf die Geschichten vom Verloren Sohn, von der Passion des Gottessohnes oder von Maria-Magdalena-Deutungen die Räume bevölkern. Wer den Sinn für diese Geschichten indes verliert, verliert den Schlüssel zu riesigen Räumen engagierter künstlerischer Lebensdeutung und schneidet sich von einer wichtigen Ressource unserer Kultur ab. Das gilt auch für die Gegenwartskultur. Das mag man auf Gerhard Richter verweisen oder auf den neusten Erlösungsentwurf aus Hollywood.

Der Zusammenhang von religiöser und kultureller Bildung liegt deshalb auf zwei Ebenen: zum einen ist da das Reich der Inhalte, der Semantik und der Bilder. Hier braucht kulturelle Lesefähigkeit schlicht ein inniges Verhältnis zu den christlichen Traditionen, zu den biblischen Geschichten, den Legendenbüchern und den eigensinnigen Forschreibungen und Auslegungen, die oft gerade dann aufregend sind, wenn sie nicht nur kirchliche Konsense wiederholen, sondern eigenwillige Entwürfe bieten und so auch die Kirche zu neuem Nachdenken veranlassen. Künstler haben sich stets einen eigenen Reim auf das Christentum – etwa auf biblische Geschichten - gemacht. Die ständige Kontroverse der Deutungen ist für die kulturelle Entwicklung sehr produktiv gewesen, auch wenn die Kirchen sich immer wieder schwer getan haben, künstlerische Positionen als theologische Herausforderung zu nehmen. Diese Deutungen ernst zu nehmen heißt übrigens auch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich manche dieser Kontroversen im Rückblick als Schauergeschichten lesen, die es zu kritisieren gilt. In jedem Falle aber ist es diese Dimension unserer Kultur, die man den Kindern der Eingewanderten nicht vorenthalten sollte, wenn man von ihnen verlangt, sich in den Horizont unserer kulturellen Güter und Werte einzufügen. Kulturelle Bildung ist ein Schlüssel zur Integration in ein eine Kultur, die den konsequent säkularen Ansprüche von Politik und Recht mit religiöser Prägung der Kultur verbindet.

Wichtiger noch als die Lesefähigkeit, die das Christliche als Grammatik der kulturellen Sprachen bis in die Gegenwart zu identifizieren in der Lage ist, ist die Dimension, um die es Hans Blumenberg in seinem Aphorismus um die Bildung im Kern geht. Kulturelle Bildung, die bleibt, wenn einer alles vergessen hat, reicht an eine Dimension des Menschen, die mit Wissen, Sozialisation und Kompetenzerwerb nur wenig zu tun hat. Dieser Aspekt der Bildung ist berührt eine Dimension des Menschseins, die der Romanist Ottmar Ette mit dem starken Wort des „Überlebenswissens“ ausgestattet hat. Der kritische Kommentar gegenüber den übertriebenen Ansprüchen der sogenannten Lebenswissenschaften ist durchaus intendiert: Kulturelle Codes prägen unser Bild vom Menschen. Kulturelle Ausdrucksformen prägen unser Verhältnis zu uns selbst, sie sind nicht nur ästhetische Gesten und Spielformen mit der Wirklichkeit, sondern mittelbar auch ethische und  - unter Umständen – religiöse Wegweiser. Damit soll der Anspruch der Kultur keineswegs ins Maßlose gesteigert werden, als übernähme etwa die Vernissage am Sonntagvormittag auch die Funktion des Gottesdienstes. Es ist etwas andere gemeint. Tief in die kulturellen Ausdruckskräfte sind Fragen nach dem guten und richtigen Leben eingelassen, Fragen nach Sinn und Unsinn, nach Leid und Glück und nach einer Dimension, die höher ist als alle Vernunft. Die Offenheit der Deutungen, die mit der Kultur der Moderne in Verbindung gebracht wird und die gegen jede Vereindeutigung und Normierung künstlerischer Positionen angeführt wird, unterstützt die Nachhaltigkeit des Fragens eher ,als dass sie sie dementiert. Diese Tiefendimension führt ja auch dazu, dass die gegenwärtigen Selbstverständigungsdebatten, die unter dem Hilfswort der Leitkultur firmieren, so engagiert und kontrovers geführt werden. Hier geht es um was. Es geht hier nicht um das Konzept eines imaginären Museums all dessen, was uns wichtig ist, von den Texten über die Bilder bis zu den Ritualen, auf die wir uns neuerdings wieder besinnen. Mit der Frage nach Kultur geht um nicht weniger als um zukunftstaugliches „Überlebenswissen“, das unser Zusammenleben und unser Verhältnis zu uns Selbst prägen. Deshalb trifft der Vorwurf des Konservativen nur insofern, als der enge Zusammenhang von Religion und Kultur für Bildungskonzepte bedeutet, die kulturellen Formen der Vergangenheit zu achten. Er trifft aber nicht, wenn mit ihm Zukunftsverweigerung verbunden wird. Das Gegenteil ist der Fall: weil der enge Zusammenhang von Religion und Kultur – und auch produktive Spannungszustände sind eine Form des Verhältnisses – in der Vergangenheit äußerst fruchtbar war, lohnt es sich, auch in Zukunft kulturelle Bildung nicht ohne ihre religiöse Tiefendimension zum Thema zu machen. Kulturpolitisch gibt das Raum für neue kreative Bündnispartnerschaften, die für diese Verbindung definierte zivilgesellschaftliche Orte und Konzepte schaffen, um Bildungsformen fördern, die noch Folgen zeitigen, „wenn einer alles vergessen hat.“