Abraham lacht - Leben im Gegenwind

Wolfgang Huber, Bibelarbeit beim Evangelischen Kirchentag Mecklenburg-Vorpommern

I.

In diesen Tagen habe ich eine Fahrradtour an der Oder entlang unternommen. Den größten Teil des Tages fuhren wir gegen kräftigen Wind. Eigentlich mussten wir dankbar dafür sein; denn wäre der Wind nicht gewesen, hätte es geregnet. Trotzdem stellte der Gegenwind uns auf eine harte Probe. Er stand uns ins Gesicht. Daran änderte sich merkwürdigerweise auch nichts, wenn die Straße eine Wendung nahm. Ein Glück nur, dass ich nicht allein war; denn wir fuhren zu zehnt. Wir konnten uns abwechseln; einer nach dem andern konnte die Führung übernehmen; die anderen fuhren im Windschatten. Gegenwind schweißt zusammen.

Doch wem erzähle ich das? Was ich vor einigen Tagen an der Oder erlebt habe, kennen viele von Ihnen genauso gut von Fahrten auf dem Ostseeküstenradweg, direkt entlang der Küste Mecklenburg-Vorpommerns. Eine solche Fahrt tut nicht nur den Augen, sondern auch der Seele gut. Eindrücke wirken unmittelbarer, Details der Landschaft und Gesichtszüge der Menschen lassen sich besser wahrnehmen. Man ist näher dran, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist.

Den Ostseeküstenradweg sollte man allerdings tunlichst von West nach Ost fahren. Denn das ist die vornehmliche Windrichtung; aller Voraussicht nach wird die Fahrt in dieser Richtung ein Genuss mit Rückenwind.

In umgekehrter Richtung, und wenn dazu eine steife Brise weht, kann einem das Lachen vergehen. Denn schnell stellt sich das Gefühl ein, kaum oder gar nicht vorwärts zu kommen, wenngleich man selbst mit aller Kraft in die Pedale tritt. Ein auch nur leichter Rückenwind hingegen beflügelt, schiebt voran, vermittelt eine befreiende Leichtigkeit.

Leben im Gegenwind – ist das nicht das Gegenteil von Situationen, die zum Lachen bringen? Nicht nur während einer Radtour, sondern als grundsätzliche Lebenserfahrung?

Wer meint, er könne sich rückhaltlos dem Gegenwind aussetzen, wird bald die Grenze seiner Kräfte spüren. Und wer sich im Gegenwind zu langsam bewegt, kommt bald gar nicht mehr voran. Rückenwind dagegen tut gut, wenigstens ein Windschutz ist nötig.

Im Südosten meiner Landeskirche wurde im Frühjahr dieses Jahres das 100. Jubiläum einer besonderen Sportart gefeiert. Denn im Jahr 1906, vor genau einhundert Jahren, wurden in Forst in der Lausitz zum ersten Mal Steher-Rennen durchgeführt; das Jubiläum in diesem Jahr wurde mit der Ausrichtung der Europameisterschaft begangen. Bei den Stehern fährt ein Motorradfahrer auf einem speziell konstruierten Motorrad aufrecht stehend voraus, unmittelbar hinter ihm rast ein Fahrradfahrer. In dieser besonderen Konstellation kann man erleben, zu welch faszinierender Geschwindigkeit ein Fahrradfahrer in der Lage ist; so zeigt diese selten gewordene Sportart, welche Leistung im Windschutz möglich ist. Das Risiko ist hoch: Wehe der Motorradfahrer beschleunigt zu schnell, wehe der Radfahrer kommt nach rechts oder links aus dem Windschatten oder verliert gar den Anschluss. Ohne Windschutz vermag er die Geschwindigkeit von 65 oder gar 70 km/h nur noch für wenige Augenblicke durchzuhalten.

Es gibt keinen Grund dazu, den Gegenwind zu beschönigen. Auch wer gegen die Richtung des Winds segeln will, weiß, dass er kreuzen muss. Er kann zwar hart am Wind segeln, direkt gegen den Wind dagegen geht es nicht. Aber nicht nur der Radsport oder das Segeln, sondern auch unser Alltag führt die Erfahrung mit sich, wie wichtig Windschutz oder Rückenwind sind. Aber man merkt es deutlicher, wenn man im Gegenwind unterwegs ist. Das, was uns hemmt, und der Widerstand, auf den wir stoßen, steht in der Regel unmittelbarer vor Augen, als das, was beflügelt und Windschutz bietet. Aber man darf sich von dieser Art der Wahrnehmung nicht täuschen lassen. Wir wären dem Gegenwind gar nicht gewachsen, wenn wir nicht so viel Rückenwind hätten. Wir hielten es im Gegenwind gar nicht aus, wenn wir nicht im Windschutz einer bergenden Gemeinschaft lebten. Wir würden erlahmen, wenn wir nicht immer wieder im Windschutz eines andern Zuflucht suchten.

Es gibt auch eine larmoyante Art, vom Gegenwind zu reden und dabei den Windschutz zu vergessen, in dem wir meistens unterwegs sind, und den Rückenwind zu leugnen, der uns in Fahrt bringt. Auch in unserer Kirche ist das so. Die Rede vom "Leben im Gegenwind" kann auch etwas Selbstgefälliges annehmen. Schaut her: wir fahren im Gegenwind. Wir sind es, die Grund zum Stöhnen haben. Dabei wäre es angezeigt, nach etwas anderem nicht nur Ausschau zu halten, sondern sodankbar dafür zu sein: nämlich für den Windschutz, den Gottes Wort unserem Glauben bietet, für die Gemeinschaft der Glaubenden, in der wir immer einen finden, in dessen Windschatten wir fahren können. Auf dem Weg sind wir alle durch den Rückenwind, den Gottes Geist uns verleiht, wenn er wie eine frische Brise durch Mutlosigkeit, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit hindurchgeht.

II.

Die biblischen Texte sind ein Windschutz. Wenn Gottes Geist sie in Anspruch nimmt, erzeugen sie den Rückenwind, den wir brauchen. Sie nehmen uns hinein in Gottes heilsame und befreiende Geschichte mit seinem Volk und dieser Welt. Hören wir deshalb an diesem Morgen auf den Beginn der biblischen Abrahamsgeschichte, darauf, wie Abraham von Gott in das Land geführt wird, das er ihm zeigen will. Ich lese aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 12, die Verse 1-9:

Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen. Und sie kamen in das Land, und Abram durchzog das Land bis an die Stätte bei Sichem, bis zur Eiche More; es wohnten aber zu der Zeit die Kanaaniter im Lande. Da erschien der Herr dem Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben. Und er baute dort einen Altar dem Herrn, der ihm erschienen war. Danach brach er von dort auf ins Gebirge östlich der Stadt Bethel und schlug sein Zelt auf, so dass er Bethel im Westen und Ai im Osten hatte, und baute dort dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an. Danach zog Abram weiter ins Südland.

III.

Von Abraham wird uns erzählt, der Leitfigur dieses Kirchentags. Und Abraham lachte. Mit diesem merkwürdigen Leitsatz wird Abraham zur Leitfigur unseres Zusammenseins. Bibelkennerinnen und Bibelkenner werden über dieses Leitwort erstaunt sein. Denn geläufig ist uns in der Regel nur, dass Sara, Abrahams Ehefrau, lachte. Sie hört, wie die drei Männer, die in Mamre bei ihr und ihrem Mann zu Besuch sind, ankündigen, dass sie zusammen mit Abraham übers Jahr einen Sohn haben soll. Sie ist hinter der Tür des Zelts verborgen, während die Gäste das sagen. Und dann heißt es: Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, so dass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun ich alt bin, soll ich noch der Liebe pflegen, und mein Herr ist auch alt! Doch die Gäste, in denen sich Gott selbst verbirgt, hören Saras Lachen im Hintergrund und erwidern es mit der Gegenfrage: Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Da merkt Sara den Ernst der Lage und sagt: Ich habe nicht gelacht. Doch sie erhält zur Antwort: Es ist nicht so, du hast gelacht.

Doch heute, liebe Kirchentagsbesucherinnen und Kirchentagsbesucher, ist gar nicht von Saras Lachen, sondern von dem Lachen Abrahams die Rede. Und Abraham lachte. Gottes Gewährung eines ewigen Bundes ist der Zusammenhang. Gott begegnet dem 99 Jahre alten Abraham und verheißt ihm seine unverbrüchliche Treue. Ich will meinen Bund zwischen mir und dir schließen und will dich über alle Maßen mehren. Der Namenswechsel von Abram zu Abraham gibt dieser Verheißung einen besonderen Nachdruck. Doch sonderbar bleibt es, wenn einem Mann mit 99 Jahren zahlreiche Nachkommenschaft verheißen wird. Der Bund, den Gott mit Abraham schließt, ist durchaus handfest gemeint. Und als diese große Verheißung konkreter wird und dem Abraham ein Sohn angekündigt wird, da heißt es: Und Abraham fiel auf sein Angesicht und lachte und sprach in seinem Herzen: Soll mir mit hundert Jahren ein Kind geboren werden, und soll Sara, neunzig Jahre alt, gebären? Abraham hat umso größere Verstehensschwierigkeiten, als er bereits einen Sohn hat, nämlich Ismael, der allerdings nicht von Sara, sondern von Hagar, einer Nebenfrau, um es freundlich auszudrücken, geboren worden war. Warum Gottes Bund sich nicht auf ihn gründet, sondern auf den noch gar nicht geborenen Isaak – leicht zu verstehen ist das nicht. Und Abraham lachte. Es ist eigentlich das Lachen des Unglaubens, von dem hier die Rede ist. Und das bei Abraham, in dem Juden wie Christen, ja auch Muslime ein Urbild des Glaubens sehen. Und Abraham lachte – das verweist uns darauf, dass auch Vorbilder des Glaubens in ihrem Glauben schwankend werden können. Gerade dadurch werden sie zu Vorbildern, weil ihnen der Zweifel nicht fremd ist. Umso leichter wird es, sich in einem solchen Vorbild wiederzufinden, weil der Zweifel sich als Lachen äußert.

Sie mögen die Deutung der Leitworte für diesen Kirchentag verwegen finden, aber mir drängt sie sich auf. Eine Kirche im Gegenwind werden wir dann, wenn wir den Rückenwind nicht mehr spüren, den Gottes Geist für uns entfachen will. Und wir spüren ihn nicht, wenn wir uns an Gottes Verheißungen nicht mehr halten können, weil wir über sie lachen. In Abrahams Fall allerdings blieb es glücklicherweise nicht beim Lachen. Er merkte, dass Gottes Verheißung Gestalt annahm. Isaak wurde geboren; und er wurde sogar gegen die nächste Versuchung bewahrt, gegen die Versuchung nämlich, ihn zum Opfer zu machen, zu einem Opfer, das vermeintlich sogar Gott geweiht war. Einmal lacht Abraham, das andere Mal folgt er blind. Was für ein Wunder, dass es beide Male gut ausgeht.

IV.

Doch damit haben wir schon weit vorgegriffen. Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir uns darauf besinnen, wie alles anfing. Alles beginnt mit Gottes Ruf, Gottes Verheißung, seinem Segen. Alles beginnt mit der Zusage an Abraham: Du sollst ein Segen sein. Das haben wir in dem Abschnitt aus 1. Mose 12 gehört, dem wir uns nun zuwenden wollen.

Gottes Segen begegnet in der Aufforderung zum Aufbruch. Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Die Abrahamsgeschichte ist in ihrem Kern eine Erzählung vom Auszug aus Bekanntem und vom Aufbruch in Neues. Ein solcher Aufbruch bedeutet, Vertrautes zurückzulassen. Die Dinge werden geschnürt und zusammengepackt, die auf dem kommenden Weg unbedingt nötig sind. In Abrahams Fall ist mit dem Auszug aus Ur in Chaldäa ein deutlicher Einschnitt markiert.

In Kapitel 11 des Ersten Buches Mose schließt die biblische Urgeschichte mit der Erzählung vom Turmbau zu Babel: Menschliche Hybris endet in einem Desaster. Das Bemühen der Menschen, sich selbst einen Namen zu machen, erfährt ein gnadenloses Gottesgericht. Die Geschichte vom Turmbau endet mit der Verwirrung der Sprachen und der Zerstreuung der Menschen in alle Länder. Dies lässt kaum einen hoffnungsvollen Ausblick zu, so scheint es. Die Urgeschichte bricht gleichsam wie mit einer schrillen Dissonanz ab: Ist das Verhältnis Gottes zu den Völkern nun endgültig zerbrochen, ist Gottes gnädige Geduld, die in der Urgeschichte immer wieder aufscheint, nun doch erschöpft?

Der Neuansatz in Kapitel 12 erfolgt umso überraschender: Und der Herr sprach zu Abram... Mit einem Mal verengt sich das universale Blickfeld, und alles Interesse ist auf einen einzelnen Menschen konzentriert. Gott wählt aus der Fülle der Völker einen Menschen aus. Ein überraschender Neuanfang: die Anrede und Berufung eines Einzelnen – mit universaler Perspektive, wie später deutlich wird.

Eine unerwartete Wende ist das. Die Menschheit vermag sich offenbar nicht wie Münchhausen selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ihrer Verstrickungen zu ziehen. Am Neubeginn stehen keine Appelle, vielleicht doch noch verbliebene letzte eigene gute Kräfte zu mobilisieren. Dieser Neueinsatz von Gottes Geschichte mit den Menschen geschieht durch Gottes Wort. Hier klingt das Wort und die Kraft des allerersten Beginns überhaupt auf: Gott spricht ein Wort der Schöpfung.

Abrahams Aufbruch erhält somit eine klare Orientierung: Vor allem Neuen, vor jedem Verlassen des Bekannten, vor jedem Schritt auch im Gegenwind steht das Hören auf Gott. Er spricht von Beginn an. Er ist am Anfang. Gott ist der Anfang.

Aber Gott, der der Anfang ist, setzt alles auf einen Menschen. Und er gibt die Hoffnung nicht auf, dass dieser Mensch von seiner Freiheit einen Gebrauch macht, der seiner Berufung entspricht. Der Mensch ist die große Utopie Gottes. Der Mensch selbst bleibt Gottes Gegenbild gegen Gewalt, Eigensucht und Sprachverwirrung, gegen den Brudermord, die Sintflut und den babylonischen Turm. Dieser eine Mensch ist Abraham. Aber in ihm ist ein ganzes Volk, ja sind alle Völker berufen, ein Gegenbild zu sein gegen jenen angeblichen Normalzustand, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf – und nicht ein Mensch – ist.

Das ist gemeint, wenn Abraham mit der Zusage auf den Weg geschickt wird: Du sollst ein Segen sein – und: In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Gott bindet seinen Segen an den Menschen: an Abraham und dann in unüberbietbarer Weise an Jesus Christus, seinen Sohn. Er bindet seinen Segen an die Gemeinschaft der Menschen: an das von ihm berufene Volk, an die von ihm berufene Kirche. Er bindet seinen Segen an die Freiheit des Menschen, der diesem Segen entsprechen, ihn aber auch verfehlen kann. Jede Frage danach, wo Gott war – in Auschwitz oder Treblinka, in New York oder in Baghdad, im Libanon oder im Kongo – verweist auf den zurück, den Gott zu seinem Ebenbild beruft, und auf die Gemeinschaft, in der wir als Gottes Ebenbilder leben sollen.

Wir halten fest: Abraham hört, er bricht auf, er wagt den Schritt in die Freiheit, so wird er zum Segen. Hören, Aufbruch, Freiheit, Segen: in diesen vier Schritten wollen wir seinen Weg noch einmal bedenken.

V.

Abraham hört. Der Anfang der Geschichte von der Berufung Abrahams zeigt uns, was am Anfang stehen soll, damit es zu einem wirklichen Aufbruch kommt: wir brauchen Zeiten und Orte des Hörens, bevor es ans Reden oder Handeln geht.

Wir brauchen diese Zeiten und Orte nicht nur, damit wir vernehmen, was Gottes Weisung ist und nicht einfach unseren eigenen Stimmen folgen. Wir brauchen das Hören vor allem deshalb, weil es die Art und Weise ist, wie die Gewissheit des Glaubens gestärkt wird. Die Gewissheit, dass wir uns weder heute noch morgen selbst überlassen sind. Die Gewissheit, dass Gottes Gnade und Treue jeden Morgen neu ist. Die Gewissheit, dass auch einschneidende Veränderungen nicht nur schmerzhaft, sondern zukunftsträchtig sind.

Von Franz von Sales stammt der Satz: Bete jeden Tag eine halbe Stunde, und wenn du sehr viel zu tun hast, dann bete eine ganze Stunde. Und auch von Martin Luther wird überliefert, dass er sich an Tagen, an denen viel zu tun anstand, besonders Raum zur Stille und zum Gebet nahm.

Die reformatorische Frage nach dem guten Baum, der allein gute Früchte bringt, gewinnt neue Aktualität. Die Väter und Mütter im Glauben haben immer wieder daran erinnert, dass bei einem guten Baum nicht zuerst die Früchte des Handelns und Tuns gefragt sind, sondern die Wurzeln des Hörens, des Einfindens, des Schweigens, Betens, Staunens und Singens. Nach meiner Überzeugung sollte es nicht länger als typisch protestantisch gelten, dass wir das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die geistige Tiefe in der Seele vernachlässigen. Vielmehr werden wir gerade aus solcher geistigen Tiefe und theologischen Klarheit, aus dem Miteinander von theologischem Profil und spiritueller Dichte heraus auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten zu Tiefe und Klarheit kommen.

Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester ist gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus. Deshalb freue ich mich über die Wiederkehr der Spiritualität und will gern an ihr Anteil haben.

Die protestantische Frömmigkeit hält einen Schatz von Formen zur Gestaltung von Räumen persönlichen und gemeinschaftlichen Hörens bereit: angefangen von den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine über die tägliche Bibellese bis hin zu Formen des gemeinsamen Bibelteilens. In einer Zeit, die von sich aus wenig Raum zum Hinhören und zur Stille lässt, ist es gut, wenn wir uns persönlich feste Zeiten und Orte für das Hören geben. Und es sollte nicht nur eine Formsache sein, dass wir jede gemeinsame Beratung in der Kirche mit dem Hören beginnen, damit, dass wir uns in den Windschatten von Gottes Wort stellen und uns für den Rückenwind seines Geistes öffnen. Dann entsteht der Raum dafür, dass Gott redet wie zu Abraham und damit dem Glauben Kraft und Ausrichtung gibt.

VI.

Abraham bricht auf. Christian Nürnberger macht zu Recht darauf aufmerksam: Gott sagt nicht: Versammle Gleichgesinnte in deiner Heimatstadt Ur und versuche, die Verhältnisse zu ändern, strebe nach politischer Macht, werde König und setze Reformen durch. ... Gott sagt, geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Abraham bricht auf.

Mit dem Land, der Sippe und der Familie verlässt Abraham alles, was das Leben bisher getragen und sozial abgesichert hat. Darüber hinaus wird aus Gottes Aufforderung zum Aufbruch nicht klar, wohin es denn eigentlich gehen soll. Abraham soll einfach losziehen – erst unterwegs wird er das Land gezeigt bekommen, das ihm Gott als neuen Lebensort geben will.

Vielen Menschen ist heute ein derart unsicherer Aufbruch in das Land ihrer Zukunft nicht unbekannt. Junge Menschen, die Generation Praktikum, haben oftmals eine qualifizierte Ausbildung abgeschlossen und finden dennoch bestenfalls eine befristete Arbeitsstelle. Oder sie versuchen über eine Aneinanderreihung von Praktika doch noch einen Einstieg in ein Arbeitsverhältnis zu finden.

Ich denke auch an die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren; ich denke an Wochenpendler genauso wie an jene, die der Arbeit wegen nach Westen gezogen sind. Nicht jeder Aufbruch führt in das gelobte Land. Was man hatte, das wusste man, wo man bisher lebte, war man zuhause – dass man am neuen Ort wieder Wurzeln schlagen wird, kann man nur erhoffen.

Was stärkt das Vertrauen, dass unsere persönlichen Wege in zunächst noch unbekanntes Land nicht ohne Gottes Geleit geschehen? Sind unsere Kirchengemeinden Orte, die dazu beitragen, dass Menschen sich neu verwurzeln und beheimaten können? Begleiten unsere Gemeinden Menschen beim Abschied wie beim Ankommen? Geben wir ihnen einen Reisesegen mit auf den Weg und heißen wir sie willkommen als die Gesegneten des Herrn? Ist in unseren Gottesdiensten Raum, die ganz alltäglichen Herausforderungen vor Gott auszubreiten und ihm unsere Wege anzubefehlen, damit unser Vertrauen gestärkt wird, dass Gott es wohl machen wird (Psalm 37,5)?

Abraham steht aber nicht nur für den Weg Einzelner. Das Volk Israel als Ganzes konnte und kann sich bis heute mit seinem Stammvater identifizieren. Herausgenommen zu sein aus der Gemeinschaft der Völker, auch in Kanaan nie bodenständig, sondern auch da ein Fremdling, und bis in die Gegenwart hinein in seinem Existenzrecht oft blutig bestritten, wie uns der jüngste Konflikt mit den Angriffen der Hisbollah wieder zeigt, erfährt es in seiner Geschichte bis heute gleichsam die Kehrseite seiner Erwählung und Berufung. Das eindrücklichste Bild dafür ist der leidende Gottesknecht. In Jesus Christus stehen wir Christen an der Seite seines Volkes im Gebet um Frieden und im Eintreten für ein Ende der Gewalt.

Ich nenne schließlich für den der Ruf zum Aufbruch, wie er an Abraham ergeht, auch unsere Kirche. Viele und einschneidende Veränderungen sind bereits notwendig geworden und werden zukünftig erforderlich sein, um die kirchlichen Verhältnisse den sich wandelnden Rahmenbedingungen anzupassen: Personal musste eingespart, Stellen gekürzt, Gemeinden und Kirchenkreise zusammengelegt, Einrichtungen mussten geschlossen werden. Und es wäre schöngeredet, wenn man verschweigen wollte, dass diese Veränderungen schmerzhaft und mit Verunsicherungen und Ängsten verbunden sind.

Die Geschichte Abrahams ist da ganz realistisch: vor der Ankunft im neuen Land steht das Verlassen des bisher Vertrauten. Abschiede bleiben Abschiede, auch wenn sie notwendig sind. Und Krisen – das erfahren wir mehr als einmal in den Debatten über die Zukunft der Kirche – fördern nicht automatisch den weiten Blick und die Lust am Aufbruch. Sie können genauso die Angst und das Festhalten-Wollen am Bestehenden provozieren.

Die Geschichte Abrahams ermutigt dazu, auch in unserer Kirche den Aufbruch neu zu wagen, auch wenn sich das neue Land nicht gleich in seinen genauen Umrissen zeigt. Aufstehen, aus dem Vaterland weggehen, keine feste Stätte haben, Auszug – das alles sind Grundworte des Glaubens. Das Starre soll und kann in Bewegung kommen. Der Ort, an dem man sich eingerichtet hat, soll und kann verlassen werden.

Biblische Geschichten sind fast immer Veränderungsgeschichten. Menschen werden dazu verlockt und gebracht, Heimat zu verlassen, Lebensweisen zu verändern, Eingewöhnungen zu durchbrechen. Biblische Geschichten sind Geschichten gegen den Fatalismus und gegen die Lebensstarre.

Dabei ist Aufbruch in der Bibel kein Selbstzweck. Abraham soll ein neues Land gewinnen, das Volk Israel aus der Sklaverei in ein Land ohne Knechtschaft gelangen. Der den Glaubenden zugemutete Aufbruch zielt auf das Ankommen im anderen Land. Die Verheißung der besseren Heimat macht den Menschen Beine. Jeder Aufbruch beginnt im Kopf oder besser: im Herzen. Es ist deshalb auch für die anstehenden Aufbrüche in unserer Kirche und ihren Gemeinden entscheidend, welche Bilder von einer zukünftigen Kirche wir im Herzen tragen.

Zum Glück haben wir die Erfahrung eines solchen Aufbruchs im Rücken, nämlich die Wende des Jahres 1989. Ich wünsche, dass wir das Staunen darüber, was sich damals veränderte, nicht verlieren. Gewiss schlossen sich an diese Veränderung auch manche Enttäuschungen an. Aber wollen wir ihnen mehr Macht geben als den befreienden Erlebnissen? Und da, wo es schwer fällt, das Vertrauen nicht wegzuwerfen, finden wir hoffentlich neben uns andere, die mit uns oder für uns Hoffnung einüben.

VII.

Abraham wagt den Schritt in die Freiheit. Wie könnte heute das Land aussehen, in das hinein die evangelische Kirche als Kirche der Freiheit aufbricht? Wir haben als Evangelische Kirche in Deutschland dieses Bild vor wenigenh Wochen so gezeichnet:

Im Jahre 2030 ist die evangelische Kirche nahe bei den Menschen. Sie bietet Heimat und Identität an für die Glaubenden und ist ein zuverlässiger Lebensbegleiter für alle, die dies wünschen. Dieses Bild will verlocken, Schritte in eine bestimmte Richtung zu tun. Es will Lust machen, vor Ort miteinander durchzubuchstabieren, was es für die jeweilige Kirchgemeinde und Region heißen könnte, dieses Bild mit Leben zu erfüllen. Es will über die Gemeindegrenze hinaus miteinander auf einen Weg bringen. Das ist der Wunsch und die Absicht: Räume zu öffnen, Zielorientierung zu geben und zur Suche nach neuen, eigenen Wegen zu ermutigen.

Das Gestalten der gewonnenen Freiheit verlangt ausdauernde Kraft und Phantasie. Und die Ankunft im neuen Land ist nicht immer unbedingt spektakulär. Auf diesem Weg gibt es nicht nur die Höhen des Gelingens, sondern auch die alltäglichen Abschnitte und oft beschwerlichen Mühen der Ebene. Aber auch diese Etappe gehört offensichtlich mit dazu. Und Abraham baut an den verschiedenen Orten seine Altäre. Auch das Alltägliche ist nicht ohne Gott und seine Verheißung.

In dieser Perspektive sind alle Initiativen zu würdigen, die heute unterwegs an einzelnen Orten Zeichen der Hoffnung setzen. Sei es der Kirchbauverein zum Erhalt eines Kirchengebäudes, die Selbsthilfegruppe arbeitslos Gewordener oder der selbst organisierte Jugendtreff, der das Angebot für Jugendliche nicht allein der rechten Szene überlassen will. Dieser Kirchentag ist eine gute Möglichkeit, einander von den gelungenen Erfahrungen zu erzählen und sich zu ermutigen. Dieser Kirchentag ist Ort des Gebets, des gemeinsamen Hörens auf Gott, um mit ihm gemeinsam Aufbrüche in die Freiheit zu wagen. Dabei sollten wir den Kreis nicht zu klein ziehen, wenn es beispielsweise darum geht, die demokratische Kultur in Städten und Dörfern zu festigen.

VIII.

Abraham wird zum Segen. Segen ist gleichsam das Grundwort dieser Verheißung, die Gott Abraham mit auf den Weg gibt. Und deren Horizont ist weit: In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Deshalb dürfen wir uns Christen in diese Berufung hineinstellen, wie wir es vor drei Jahren beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin getan haben: Ihr sollt ein Segen sein. Wir sind dazu erwählt, von unserem Glauben für andere Zeugnis abzulegen. Mission gehört zum Wesen der Kirche, von ihrem Beginn an. Sie gehört unabdingbar zum Herzschlag einer lebendigen Frömmigkeit. Wir haben keinen Grund, uns des Evangeliums zu schämen. Es ist ermutigend, dass in allen kirchlichen Gruppierungen eine missionarische Neuausrichtung der Kirche bejaht wird, die in allen kirchlichen Handlungsfeldern zur Geltung kommen muss.

Die Freiheit der Kinder Gottes will Kreise ziehen. Wer Gottes befreienden Ruf gehört hat und seine Freiheit atmet, gönnt diese Freiheit allen anderen. Wer für sich selber Gottes bedingungslose Güte als tragenden Grund seines Lebens entdeckt hat, wird diesen Grund gerne mit anderen teilen. Wer von der Hoffnung lebt, die mit Jesus Christus verbunden ist, die in diesem Leben beflügelt und über den Tod hinaus ihre Tragkraft beweisen will, der wird andere an dieser Hoffnung gerne teilhaben lassen. Es ist ein Segen, wenn das Evangelium Menschen erreicht, so dass sie durchatmen, neu aufbrechen und hoffnungsvoll unterwegs sein können – mitunter mitten im Gegenwind.

Eine Voraussetzung dafür, dass diese Mission gelingt, ist die Neugier auf den anderen, noch Fremden, getragen von der Überzeugung, dass es Gottes Wille ist, dass allen Menschen geholfen wird (1. Timotheus 2,4) und sie zur Erkenntnis der Wahrheit und Schönheit des Glaubens kommen. Diese Neugier konkretisiert sich als Wendung der Kirche nach außen, als Lust zu einem einladenden missionarischen Handeln und als Mut, vertraute Wege der Kirche und eingefahrene Gleise der Arbeit zu verlassen.

So verstanden ist Mission ein Aufbruch der Kirche selbst, ein Wille zur Veränderung und die Erwartung, dass Gott uns auf dem Weg entgegenkommt und Christus dort zu finden ist.

Diese Zuwendung zu den Menschen zeigt sich beispielhaft daran, dass wir mutiger die Vielfalt von Gemeindeformen bejahen, die sich in unserer Kirche ausbildet. Neben die Parochialgemeinde als bleibende Grundform evangelischer Gemeinden treten immer häufiger Profilgemeinden. Sie entwickeln sich aus den klassischen Parochien. Sie sprechen mit einem besonderen geistlichen, kirchenmusikalischen, sozialen, kulturellen oder jugendbezogenen Schwerpunkt nicht nur die unmittelbare örtliche Umgebung an, sondern entwickeln eine Ausstrahlung, die weiter reicht. Darüber hinaus bieten anlassbezogene Angebote einer Kirche bei Gelegenheit – etwa im Bereich der Tourismusarbeit, der Citykirchenarbeit oder durch anlassbezogene Gottesdienste – weitere Möglichkeiten, dass Menschen den Weg zum Glauben finden und ihr Verhältnis zur Kirche neu bestimmen. Nicht immer führt das gleich in eine dauerhafte Bindung; aber auch dann bleibt die Zuwendung zu den zufällig oder auf Zeit versammelten Menschen nicht folgenlos.

Aber über alle besonderen Initiativen hinaus hat auch das ganz normale Leben unserer Gemeinden eine missionarische Dimension. In vielfältiger Weise ergeben sich Gelegenheiten, Menschen zu erreichen und anzusprechen, die dem christlichen Glauben entfremdet sind oder fern stehen: bei den kirchlichen Amtshandlungen, in der Jugendarbeit oder im sonntäglichen Gottesdienst. Und neben den Orten, an denen die christliche Botschaft unmittelbar ausgerichtet wird, sollten die Gelegenheiten nicht übersehen und versäumt werden, wo dies mittelbar geschieht: in der Kirchenmusik wie in der Öffentlichkeitsarbeit, im Einsatz für die Schwächsten in unserer Gesellschaft wie für die Heiligung des Sonntags.

Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein. Im Segen wendet Gott selbst sich uns zu. Er segnet uns mit den Gaben der Schöpfung. Er ruft ins Leben und erhält am Leben. Der Segen ist der Ort, an dem wir wir selbst werden, weil wir von Gott in Christus angesehen werden. Es leuchtet ein anderes Angesicht über uns auf. Es ist ein anderer Friede da als jener mit Waffen erkämpfte und eroberte. Diesen Segen zu empfangen und aus diesem Segen zu leben, werden wir gewürdigt und befähigt – als einzelne, an den Orten, an die wir alltäglich gestellt sind, als Gemeinde Jesu, die unter dem Segen Gottes zum Segensraum für viele wird, als Kirche, die zum Lob seiner Herrlichkeit (Epheser 1,14) unter den Völkern berufen ist. Die Segensspur, die Gott mit Abrahams Berufung in einer oft heillosen Welt zu legen begonnen hat, lädt uns ein, ihr auf der Spur zu bleiben.

Und der Herr sprach zu Abram: Geh in ein Land, das ich dir zeigen will. Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.

Mit diesem Wort brechen wir auf in diesen Tag, den Gott uns schenkt. Er gebe uns Rückenwind an allen Tagen, die diesem Kirchentag folgen.