Zwischen Vision und Wirklichkeit: Die Kulturarbeit der Kirche

Petra Bahr

Morgens um 7:50 Uhr vor der Evangelischen Grundschule irgendwo im Süden: Auf der Bordsteinkante hüpft die Klasse 4 b aufgeregt wie eine Tüte freigelassener Gummibärchen. „Wir fahren ins Theater, wir fahren ins Theater“, ruft ein kecker Blondschopf. Zwei Tage haben die Kinder schon im Unterricht nachgedacht: Wie ist es, eine Rolle zu spielen? Wo machen wir das? Wer wollte ich immer schon mal sein?“ Drei Jungs wollen Rennfahrer sein. „Die gibt es nicht im Theater“, sagt die Frau Lehmann. Mitfahren wollen sie trotzdem. Hinter die Kulissen gucken. In den Fundus gehen. In der Theaterklause Mittagessen. Den ganzen Tag über hat ein Schauspieler Zeit für sie. Nachmittags gibt es eine Generalprobe im Kindertheater. Der Lehrerin steht noch das Morgengrau im Gesicht. Sie freut sich auch: Der Chefdramaturg ist ein alter Studienfreund.

8:03Uhr, ganz weit im Osten: Ein Regionalbischof, ein Jurist und ein Generalmusikdirektor eilen die Treppen ins Rathaus hoch. Zweite Sitzung mit Bürgermeister und Kulturdezernent. Es geht um die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europa. „Die Kirche prägt die Silhouette der Stadt. Deshalb muss sie ein integraler Bestandteil unserer Selbstvorstellung sein.“ Sagt der Kulturdezernent.

9:30 Uhr, irgendwo ganz im Norden: Der Vikarskurs trifft sich im Raum „Thomas“. Zweiter Tag im „Schreibatelier“. Mit einem Krimiautor Predigten schreiben? Das ist eine neue Erfahrung. Wir aufregend biblische Texte plötzlich klingen.

11:35 Uhr: ein Videokünstler starrt auf den Monitor. Eigentlich könnte er es heute mal ruhig angehen lassen. Vorgestern wurde ihm ein wichtiger Kunstpreis verliehen. Neben ihm liegt DER SPIEGEL von vor zwei Wochen: Ein grausiger Schnappschuss aus Abu Ghraib: Der Gefolterte in der Pathosformel des leidenden Christus am Kreuz, die Arme in der Waagerechten, der Kopf liegt auf der Brust. Der Künstler ist übrigens evangelisch.

12 Uhr: Passionszeit in der Marktkirche. Orgelandacht für die Pfarrerin. Ein lästiger Termin, manchmal. Zerschneidet den ganzen Tag. Doch wenn sie erst mal da ist, wenn die Orgel einsetzt, wenn sie in die fünfzig Gesichter sieht, von denen sie viele sonst nie sieht und auch nie wiedersieht, dann wundert sie sich darüber, wie kräftig doch die Sprache des alten Gebäudes ist, in diesen Momenten aus Andacht, Stille und Musik, dem Alltag abgetrotzt und deshalb um so kostbarer.

16 Uhr: Zweihundert Kilometer weiter beendet eines der besten Orchester der Welt seine Proben: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Die Evangeliumsworte wird die Pröpstin sprechen. Die Aufführung ist Teil eines großen Programms zur Oster- und Passionszeit, das Spitzenorchester und die Evangelische Kulturkirche zusammen bestreiten. Konzerte Diskussionsveranstaltungen, Vorträge, Gottesdienste, dicht gedrängt über drei Tage. Die Schwelle von der ästhetischen zur religiösen Erfahrung sichtbar machen. Der fraglos akzeptierten bürgerlichen Kultur ihren religiösen Sinn zurückgeben, kann das gelingen?

17 Uhr: Irgendwo im Osten. Der Vereinsvorstand zum Erhalt der mecklenburgischen Dorfkirche trifft sich mit einem Architekten. Ortsbegehung. Der Experte macht Mut. Er kommt extra den weiten Weg aus Berlin. Will kein Geld haben, denn seine Mutter ist in der kleinen Kirchenruine konfirmiert worden. 500.000 Euro hat der Verein schon gesammelt. Dabei sind die meisten Mitglieder gar nicht in der Kirche. Aber die Kirche muss doch im Dorf bleiben. „Und ein wenig glauben können, nach den ganzen Lügengeschichten in der DDR“, sagt der Vorstandsvorsitzende, „das wäre schön.“

18:15 Uhr: Eigentlich zu spät für einen Kaffee. Die Pfarrerin geht schnell aus dem Pfarrbüro über die Straße in die Städtische Galerie. „Was los heute?“ Die Galeristin grinst. „Du willst ja nur den besten Latte Macciato der Welt. Die neuen Plastiken interessieren ja doch nicht, du bist einfach zu beschäftigt fürs Hinsehen“. Die Pfarrerin lacht. „Kommst Du nächste Woche mit ins Kino?“

20:41 Uhr: In einem Gemeindehaus irgendwo im Süden knallt die Tür. Gustav B. stürmt die Treppe herunter, die Wut dringt bis in seine grauen Haarspitzen. „So eine Blasphemie. Das dulde ich nicht im Haus des Herrn!“ Da werfe ich zur Not selber die Farbbeutel.“ Der Gemeinderat hat einem Künstler den Auftrag erteilt, ein neues Altarbild zu malen. Nun ist es da. Ein Christus in grellen Farben, der auf dem Kopf steht? Wo gibt es denn so was? Betretenes Schweigen. Der Pfarrer fingert nervös am Losungsbüchlein herum. Mit so viel Widerstand hat er nicht gerechnet. Da meldet sich Elisabeth G., 70 Jahre alt. Der Inbegriff der Krankenschwester. Die hat schon was erlebt im Leben. Vor einem Jahr ist ihr Sohn gestorben. „Die Welt ist doch auch irgendwie verkehrt herum, wenn der Sohn Gottes sterben muss, oder? Und dieses grelle Grün ist genau die Farbe, die meine Migräne hat. Da ist das Bild ganz richtig, finde ich.“ Der Bann ist gebrochen. Nun reden alle durcheinander. Wird das Bild je über dem Altar hängen?

23:20 Uhr: Der Thomas-Mann-Forscher grübelt über seinem Manuskript. Über das Verhältnis von Christentum und Kultur soll er sprechen, vor Evangelischen und katholischen Bischöfen. „Die werden sich grämen. Denn um das Verhältnis von beiden ist es nicht gut bestellt.“ Schreibt er in sein Tagebuch, das später unter dem Titel Unglaubensgespräch veröffentlicht wird. Ein Buch über Religion und Kultur.

0:45 Uhr: Die Kulturbeauftragte träumt, dass Sascha Waltz Paul-Gerhardt-Lieder tanzt.

Eine Tagesreise als Tour d’Horizon der kirchenkulturellen Landschaft geht zu Ende. Vision oder Wirklichkeit? Die Frage müssen Sie selbst beantworten. Vermutlich ist sie gar nicht leicht zu entscheiden. Eher müsste man wohl sagen: Was hier noch Vision ist, ist dort schon Wirklichkeit. Und umgekehrt. Wer die Kulturlandschaft der Evangelischen Kirche bereist – und dieses Privileg habe ich augenblicklich -, der findet nichts, was es nicht gibt, aber davon leider viel zu wenig. Ich möchte deshalb mit drei Thesen in die Diskussion einsteigen, versuchsweise ein paar Kriterien formulieren, nach denen das kulturelle Engagement der Evangelischen Kirchen zukünftig gestaltet werden sollte. Sie haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dienen ausschließlich der Diskussion.

Es braucht kultursensible Kirchenleitungen. Und Kirchenleitungen sind im Sinne Schleiermachers auch die Pfarrer und Pfarrerinnen, ja, wenn man es genau nimmt – und hier will ich mich gar nicht in die rheinische Diskussion um die Presbyterialverfassung einmischen –, auch die Kirchengemeinderäte. Kultursensibilität ist aber nichts Strategisches, sondern eine selbstverständliche Lebensform. Glaubwürdige Kirchenkulturarbeit wird nur gelingen, wenn Menschen in der Kirche mit und in bestimmten kulturellen Ausdrucksformen leben, wenn sie eine Passion entwickeln, Urteilskräfte und Kennerschaft freisetzen und anderen Lust machen, daran teilzuhaben. Dabei ist nicht entscheidend, in welcher Kulturform man sich zu Hause fühlt. Entscheidend ist, dass der rein instrumentelle Zugang zur Kultur letztlich ein Zeichen ihrer Verachtung ist. Es überzeugt hingegen der, der liebt.

Es braucht Ortsensibilität. Wie sieht die Nachbarschaft der Kirche aus? Welche Institutionen gibt es? Wer ist ansprechbar auf gemeinsame Themen? Wo finden wir Bündnispartner? Kulturarbeit einer Gemeinde entsteht nicht auf dem Reißbrett, weil jede Gemeinde schon einen kulturellen Kontext hat. Ist es das kleine Kino um die Ecke oder die Buchhandlung? Gibt es eine Kindermalschule oder eine Galerie? Wie steht es mit einem Kontakt in die Kulturpolitik? Gibt es eine Geschichts- oder Schreibwerkstatt, Kneipenlesungen oder eine interessante Künstlerin zwei Straßen weiter? Nebenbemerkung: Es ist ein Irrtum, zu glauben, Kulturarbeit der Kirchen sei ein Programm für große Städte mit potenten City-Kirchen. Die schleichende Veränderung der Kulturszenen auf dem Land - Bibliotheken, kleine Bühnen, Orchester und Kinos schließen oder haben geschlossen – führen dazu, dass die Kirche der oft letzte öffentliche Ort geblieben ist, in dem Kultur Platz hat. Schon jetzt sind die Evangelischen Büchereien mit ihrem hochmotivierten ehrenamtlichen Personal oft die einzig funktionierenden Angebote für Kinder und Jugendliche. Grund genug, einmal zu überlegen, wie man diese Nischen zu zentralen Orten der Begegnung mit Autoren, Eltern, Lehrern und Kindern macht. Die Enquetekommission des Deutschen Bundestages wird diesen Befund übrigens bestätigen.

Es braucht einen Sinn für die eigene Perspektive, die Kirche in diese Begegnung einbringt. Wir haben mehr anzubieten als eine „geile location“ – vornehm gesprochen: Einen attraktiven Veranstaltungsort. Wir feiern in geprägten Räumen, wir legen große Texte aus, die unsere Kultur bis heute prägt, wir haben theologische Sprachformen gelernt und erfinden hoffentlich immer neue, um die Anliegen des Lebens zur Sprache zu bringen. Wir brauchen deshalb neuen Mut zu einer religiösen und theologischen Sprache, die ihre Herkunft nicht verleugnet, ohne Plattitüde zu sein. Diese Sprache müssen wir allerdings üben – in aktiver, sprechender Auseinandersetzung mit Bildern, Filmen, Texten und Erfahrungen. (Auswendig lernen dagegen schadet entgegen anderslautender Gerüchte nie.) Kulturschaffende haben dann ein Interesse an der Kirche, wenn sie auf interessante, nachdenkliche und selbstbewusste Christenmenschen treffen. Formen der Anbiederung kann man sich indes gleich schenken, die überzeugen nur schlechte Künstler und langweilige Kulturpolitiker.

Aus: DIS-KURS: KIRCHE UND KULTUR. Beiträge zur 2. Kulturbörse der Evangelischen Kirche im Rheinland am 8.3.2006, Hrsg. Jürgen Jaissle, Kulturforum im FFFZ