Der lange Schatten des Karikaturenstreits

Petra Bahr

Nur darüber zu reden, welchen Anteil Intendantin Harms am Berliner Oper-Streit hat, greift der evangelischen Kirchen-Kulturexpertin Bahr zu kurz. Der derzeit intensiv diskutierte Berliner Fall könne überall auftreten, meint sie.

Es gibt geistige Erregungszustände und emotionale Atmosphären, die sich wie ein dunkler Schatten über eine Gesellschaft legen können. Und wie auch beim Schattenboxen die Ursache für die Welteindunkelung schwer zu fassen ist, so sind auch gesellschaftliche Gefühlszustände oft erst dann greifbar, wenn sie sich an einem bemerkenswerten Anlass Ausdruck verschaffen.

Die Absetzung der Oper «Idomeneo» in der Inszenierung von Hans Neuenfels an der Deutschen Oper in Berlin ist so ein Anlass. Plötzlich wird eine Gefühlslage griffig, die in den letzten Monaten wie ein Schatten über der Gesellschaft lag: Es ist der lange Schatten des Karikaturenstreits.

Öffentlich ist nun die Rede von gesellschaftlichen Angstzuständen und von vorrauseilender Hysterie. Das, was hinter jeder Ecke lauerte und doch unsichtbar blieb, wird nun evident. Der eine oder andere mag das übersteigert finden. Wir sollten uns die gesellschaftliche Stimmungslage allerdings eingestehen und gemeinsam überlegen, wie wir in Zukunft sinnvoll damit umgehen. Dazu gehört, sich einzugestehen, dass die Szenarios in unseren Köpfen und reale Bedrohungslagen bisweilen nur noch schwer zu unterscheiden sind. Vielleicht führt diese Grenzverwischung zu einem neuen Grad von Ratlosigkeit.

Statt erregter Debatten muss sich die Gesellschaft selbst überprüfen und fragen: Wie sehr hat uns die harte Klaue Angst schon im Würgegriff? Offenbar gibt es längst Vorformen der Selbstzensur. Und den Kulturbetrieb lässt das Muskelspiel der Straße ebenso wenig unberührt wie die anonyme Drohung. Der dunklen Seite der Einbildungskraft scheint nichts mehr unmöglich. Vielleicht sind wir nicht eingeschüchtert, aber vorsichtiger. Und gleichzeitig unvorsichtiger geworden in der Bereitschaft, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Geradezu billig

Es gibt auch Fragen, die man ganz nüchtern und bei Tageslicht stellen muss. Wie sehr müssen wir Rücksicht auf religiöse Gefühlslagen von einer radikalen Minderheiten nehmen, die im Zweifel auch die Mehrheit einer religiösen Gemeinschaft in Verruf bringt? Und wie sehr ist diese vermeintliche Rücksichtnahme schlicht Ausdruck uneingestandener Furcht vor dem Terror, der schon in der eigenen Seele beginnt und mit Gefahr von Leib und Leben endet?

Es greift deshalb zu kurz und ist geradezu billig, wenn die Debatte sich nun auf die Frage konzentriert, wie die Intendantin der Deutschen Oper zu Berlin auf die Warnung der Sicherheitsbehörden auch anders hätte reagieren können. Die bisweilen hämische Konzentration der Kritik auf Intendantin Kirsten Harms verhindert den nachdenklichen Umgang mit dem, was sich in der Absetzung der Oper zeigt.

Nicht unvorhersehbar

Was hätte anders laufen können? Das Spiel mit denkbaren Handlungsalternativen mag auf ähnliche Fälle in Zukunft vorbreiten. Nur ist es eben nicht so, dass den wenigen Übervorsichtigen – auch von Feigheit ist in diesen Tagen viel die Rede - eine Horde unbeugsamer Freiheitsverteidiger gegenüber stünde. Alle müssten in ähnlichen Situationen erst noch unter Beweis stellen, dass ihnen unter großem Druck ein geschickteres Manöver einfiele.

Die Bedrohung der Operninszenierung in Berlin und die Konsequenzen, die gezogen wurden, ist kein unvorhersehbares und unwiederholbares Ereignis, sondern ein Vorfall, der sich so oder ähnlich auch an jedem anderen Ort hätte ereignen können: in einem Kino, in einem Museum, in einer Kirche. Deshalb sollten wir den Anlass als Aufforderung zum Nachdenken begreifen.

Irritierend und verletzend

Eskalationsrhetorik erzeugt dabei eher noch mehr Verunsicherung. Zu schnell wird hier und dort nun schon die Religionsfreiheit gegen die Kunstfreiheit ausgespielt. Beide haben indes gemeinsame Wurzeln. Hier steht nicht Zwang gegen Freiheit, beide wurzeln vielmehr die in einem gemeinsamen Freiheitsverständnis Religionsfreiheit und Kunstfreiheit sind Wahlverwandte und keine Gegner, auch wenn es bisweilen zu Rivalität kommen kann.

Von religiösen Menschen kann der künstlerische Umgang mit Religion mitunter als irritierend oder gar als verletzend empfunden werden, und zwar bei Christen, Juden und Muslimen. Vielleicht braucht es deshalb neue Räume, in denen Kunst und Religion sich um Streit um Darstellungsformen neu begegnen. Man hätte sich im Zusammenhang mit der Inszenierung von Hans Neuenfels einiges an begleitenden Veranstaltungen vorstellen können. Es muss aber ausgeschlossen sein, dass Drohungen, Terror und mediale Hetzkampagnen die Form der Auseinandersetzung prägen. Dabei ist es unerheblich, ob die Drohungen nun öffentlich ausgetragen oder hinterrücks und heimlich kommuniziert werden. Gefährlich wäre eine Atmosphäre der Angst nicht zuletzt deshalb, weil sie dazu die dazu führen könnte, dass Künste die Religion als Thema in Zukunft meiden.

Nicht nur ein Glanzstück

Kunstfreiheit und Religionsfreiheit sind hohe Güter. Beide Güter mussten hart errungen werden und bleiben auch in der Moderne stets gefährdet. Deshalb muss die Gesellschaft bereit sein, zur Not auch einmal einen Streit um die Angemessenheit des künstlerischen Blicks auf Religion auszutragen. Religion und Kunst können sich eine produktive Zumutung sein. Die Kulturgeschichte des Abendlandes erzählt davon Bände. Doch an dieser Einsicht bricht auch das Problem in seiner ganzen Abgründigkeit auf. Wie sollen wir mit denen umgehen, die finden, dass sich über Heiliges grundsätzlich nicht streiten lässt?

Die Künste sind zum Glück nicht die letzten und einzigen, die Pathologien und Auswüchse von Religion zum Thema machen. Sie befinden sich vielmehr in guter Gesellschaft mit der theologischen Religionskritik. Es gibt eine Lesart der Mozart-Oper, von der allenthalben die Rede ist, die selbst Spuren theologischer Religionskritik enthält. «Idomeneo» ist nicht nur das Glanzstück der empfindsamen Gefühlsraserei zwischen Liebe und Verrat. «Idomeneo» erzählt auch die Geschichte eines Gottes, der Menschenopfer verlangt.

Zu barbarisch, zu gierig

Deshalb ist die Oper eine künstlerische Auseinandersetzung über ein brisantes Thema. Regisseur Hans Neuenfels hat das schon 2003 erkannt. Der Held, nach dem Mozart seine Oper benennt, ist der Schiffbrüchige, der vom Gott Poseidon gerettet wird. Leichtfertig und im Überschwang des Überlebenden verspricht er seinem Gott ein Opfer. Poseidon fordert seinen Sohn. Es ist das Opfer der Liebe, das den Sohn am Schluss rettet.

Idomeneos Glaube allerdings ist nicht mehr zu retten. Zu barbarisch, zu gierig gebärdet sich sein Rettergott, der unerbittlich Leben fordert. Wenn in der umstrittenen Inszenierung zum guten Schluss der Wüterich die vier Köpfe der großen Religionsstifter präsentiert wie die Königstochter Herodias den Kopf des Johannes, dann drängt sich neben anderen Möglichkeiten auch eine theologische Lesart auf. In der Inszenierung der Oper ginge es möglicherweise nicht um die wütende Erledigung aller Religion, hier geht es vielmehr um ein mächtiges Zeichen gegen ihre menschenverachtenden Pathologien.

Kommentar der Absetzung

Die letzte Einstellung der Oper, über deren ästhetische Güte man ebenfalls streiten kann, setzt ein Zeichen gegen die Version einer Religion, die Menschenopfer fördert, die den Tod mehr feiert als das Leben und die die Gläubigen zwingt, zum Gottesopfer zu werden oder die geliebten Söhne zu opfern.

Das alte Thema der Mozartoper, wie denn die Religion der Weisheit, des Geistes und der Kraft sich gegen alle Formen der Raserei durchsetze, wird unversehens zum bemerkenswerten Kommentar ihrer Absetzung. Und der Kunst bleibt nichts übrig als sich ihres Vorzugs zu bedienen: die Ohnmacht und Sprachlosigkeit des Augenblicks wiederum in die Sprache der Kunst zu überführen, die den Schreck aushält und verwandelt.

Petra Bahr studierte Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften. Sie leitet das zu Jahresbeginn in Berlin eröffnete Kulturbüro der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD)

Veröffentlicht in der Netzeitung am 29. September 2006