"Sind wir unsichtbar? Vom Umgang des Protestantismus in der Mediengesellschaft" - Vortrag in der Hauptkirche St. Katharinen in Hamburg

Petra Bahr

Die neue Sichtbarkeit der Religion

Es gibt Abschiede, die begehen wir zu früh. So mancher Firmeninhaber, der mit großem Festakt in den Ruhestand geschickt wurde, kommt nach wie vor an jedem Morgen ins alte Büro. So mancher Sportler zieht sich tränenreich vor seinen Fans ins Privatleben zurück, um dann kurze Zeit später doch das Comeback zu versuchen. Und so manche Vinyl-Platte, die vor vielen Jahren als Ladenhüter im hintersten Regal verschwand, steht nun als CD wieder ganz oben in den Hitlisten. Zeitloser Klassiker oder kurze Retro-Mode – wer weiß das schon.

Auch der Abschied von der Religion ist zu früh ausgerufen worden. Lange sah alles so aus, als bekämen diejenigen Diagnostiker Recht, die dem allmählichen Verschwinden der Religion aus der Moderne das Wort redeten. Zumindest für Westeuropa schien der Abschied von der Religion schien eine ausgemachte Sache und nur noch eine Frage der Zeit zu sein, Entchristlichung und Entkirchlichung nur ihre folgerichtigen Begleiterscheinungen. Nicht an der Diagnose selbst, nur in den Reaktionen auf diese Diagnose schieden sich die Geister. Die einen kommentierten den heraneilenden Abschied genüsslich und mit Häme, die anderen mit Melancholie oder trotzigem Willen, das noch einmal aufzuhalten, was vorderhand nicht aufzuhalten zu sein schien. Die einen sahen das unvollendete Projekt der Moderne doch noch seiner Vervollkommnung entgegen streben, die anderen riefen alarmiert das Ende des Abendlandes aus. Allenfalls mit der „unsichtbaren Religion“ wollte man noch rechnen. Gründliche Zielfahnder unter Soziologen und Theologen hefteten sich an ihre Spuren und gingen dafür ins im Kino und auf Popkonzerte, folgten dem Wellnessboom und der Ästhetisierung der Lebenswelt. Die Suche nach dem Lebenssinn schien klammheimlich dorthin ausgewandert zu sein – in Lebensvollzüge, die mit Religion im hergebrachten Sinne gar nichts zu tun hatten. Grund zur Beruhigung gaben diese Einsichten in die Verflüchtigung artikulierbarer religiöser Überzeugungen nicht. Diese Form des Religiösen schien sich neue Formen gesucht zu haben, die so schwer zu identifizieren waren, dass selbst die, die ihren religiösen Sinn auf diese Weise stärkten und pflegten, davon gar nichts zu merken schienen. An die Reflexionskompetenz und Nachdenklichkeit der Theologie schein diese Form unsichtbarer Religion schon gar nicht gebunden zu sein. Religiosität ohne Kirche, ohne geprägte Sprachformen und ohne kritische Begleitung einer theologischen Vernunft, so könnte man dieses Phänomen polemisch beschreiben, dies war die Schwundstufe, die dem Verschwinden der Religion unmittelbar voran gehen sollte. Denn das, was so diffus und unsichtbar geworden ist, schien auf dem sicheren Weg, zu verschwinden. Der Versuch, konfessionelle Prägungen auszumachen, schien vor dieser Entwicklung von vorneherein zum Scheitern verurteilt zu sein.

Seit ein paar Jahren sprechen wir nun selbstverständlich von der Wiederkehr der Religion, als wäre nichts gewesen. Das Feuilleton der großen Zeitungen ruft diese Wiederkehr mit großen Lettern aus. Wissenschaftliche Symposien befassen sich landauf landab mit dem Thema. Sogar im Spätwerk berühmter bundesdeutscher Philosophen taucht die Religion wieder auf. Spätestens, als Jürgen Habermas die Gegenwartsbedeutung der Religion mit ein paar freundlichen Bemerkungen kommentierte, stiegen selbst die Intellektuellen aufs Thema ein, die bislang noch Lauerstellung gelegen hatten. Auch Gott ist wieder da. Das erste Buch seit Jahrzehnten, das ebenso sparsam wie großspurig ausschließlich das Wort „Gott“ im Titel führt, stammt nicht von einem Theologen, sondern von dem Philosophen Thomas Rentsch und erschien im letzten Jahr. Der Buchmarkt läuft geradezu heiß mit Neuerscheinungen, die die Religion zumindest im Untertitel haben. Die Neuerscheinungen in deutscher Sprache gehen allein in diesem Jahr in die Hunderte. Religion ist auch im Alltag wieder Gesprächsthema – in Lehrer- und in Wartezimmern, auf Parties und im Zugabteil. Vor allem die Medien haben sich der Religion wieder angenommen.

Ein Grund zum Feiern am Reformationstag, könnte man meinen. Machen wir doch aus der Abschiedsparty ein Willkommensfest. Schon der Vorschlag verursacht Unbehagen. Nicht nur, weil die süffig vorgetragene Rede von der „Wiederkehr der Religion“ eine heimliche Geschichtstheorie transportiert, die im schweren Wort von der Wiederkehr selbst steckt. Was wiederkehrt, war schon einmal da. Handelt es sich in dem, was sich augenblicklich abspielt, tatsächlich um eine Wiederholung von etwas, was wir schon kennen? Wer sich nur ein wenig zurückbesinnt und vergleicht, ahnt, dass die disparaten Phänomene, die wir unter der „Wiederkehr“ der Religion versammeln, vermutlich nicht viel mit den Formen religiösen Lebens zu tun haben, die aus der Vergangenheit überliefert sind. Vorsicht ist also angebracht bei der Ausrufung schwerer Geschichtszeichen. Besonders in Schwellenzeiten – und man geht wohl nicht zu weit, wenn man die Vermutung äußert, in solchen Zeiten zu leben – reicht die Analyse nur zu Mutmaßungen. Nur vage beschleicht uns die Ahnung, dass sich etwas verändert hat. Ja, es stimmt, Religion hat sich mit Macht zurückgemeldet. Wir ahnen auch, daß das, was da programmatisch unter einer Überschrift zusammengefasst wird, in Wahrheit mit Phänomen zu tun hat, die so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass auch das Disparate vor einem Zusammenhang erscheinen kann. Nur ist unser Sichtfeld eingeschränkt. Wer sich wie die Nase plattdrückt vor dem großen Panoramabild der religionskulturellen Entwicklungen der Gegenwart, der sieht zwangsläufig nur Pixel und Farbkleckse. Wir sind schlicht zu nah dran, um uns einen Gesamteindruck zu verschaffen. Um so wichtiger, die Einzelheiten genau in den Blick zu nehmen und auf ihr Verhältnis hin zu prüfen.

Die neue Sichtbarkeit der Religion hat ohne Zweifel zuerst einmal gar nichts mit dem Christentum zu tun. Die weitaus größte Aufmerksamkeit zieht augenblicklich eine fremde Religion auf sich, von der wir viel zu wenig wissen und die sich doch immer mehr in den Vordergrund schiebt. Die Sichtbarkeit des Islam hat viele Aspekte, die unsere differenzentwöhnte Einbildungskraft allerdings oft genug übereinander legt: die gelebte Religiosität im Alltag samt Kopftuch und gebetsorientiertem Tagesablauf. Das ist die Sichtbarkeit auf unseren Straßen, die nicht für alle gleich augenfällig wird. In Berlin kann man die kräftige Zunahme an sichtbaren Zeichen der Muslime nicht mehr ausweichen. Das, was uns im Alltag befremdet, irritiert oder neugierig macht, überlagert sich mit den Szenen, die uns von der Bühne der Weltpolitik erreichen. Unübersehbar ist der Fanatismus und die Gewalt, die da entsteht, wo Glaubensüberzeugungen sich nicht an den Trennungsregimen Religion und Politik orientieren, wo sie theologische und historische Kritik an den Quellen der Religion für Tabubrüche halten und wo die Religionsfreiheit der Anderen als unerträgliche Zumutung empfunden wird. Ich lasse es bei dieser knappen Skizze, weil ich vor allem eines ins Bewusstsein rufen will: Sichtbarkeit von Religion ist noch nicht ihr Gütesiegel. Im Gegenteil. Es gibt eine neue Aufmerksamkeit für Religion, die durch Terror und Gewalt gesteuert ist. Die Wiederkehr der Religion markiert einen schwarzen Schatten. Es ist vor allem der lange Schatten des Karikaturenstreites, der uns in den letzten Monaten gezeigt hat, dass die global vernetzte Welt der Bilder keine Räume mehr unbeobachtet oder verschlossen lässt. So verschiedenartig die Öffentlichkeiten sind, so sehr das jeweilige Publikum auseinanderdriftet, diese wechselseitige Beobachtung kann klaustrophobische Ängste verursachen. Es ist eng geworden in der Welt. Denn die Welt sieht zu, wenn in einer dänischen Zeitung geschmacklose Provokationen gedruckt werden. Dann brennen Fahnen und Botschaftsgebäude. Worte, die in der Aula einer Universität gesprochen werden, kosten einer Nonne im Sudan das Leben. Die Welt sieht zu, wenn in einer Berliner Oper in der blasierten Manier der Religionskritik der 70er Jahre ein Regisseur den Religionen den Kopf abschlägt. Eine muslimische Abgeordnete im Deutschen Bundestag ruft Frauen dazu auf, ihre Kopftücher abzulegen. Schon ist sie ihres Lebens nicht mehr sicher, weil radikale Organisationen auf der ganzen Welt sie im Internet und auf Zeitungsseiten zum Abschuss freigeben. Die mediale Attraktivität der Religion birgt zweifelhafte Tücken, die uns erst langsam bewusst werden.

Wenn auch das Christentum von der wiedergewonnenen Aufmerksamkeit profitiert, sollten wir nicht zu schnell davon ausgehen, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Es gibt gute Gründe, dass zumindest ein Teil der neuen Achtung und Auseinandersetzungen um den christlichen Glauben auch eine Reaktion auf die Glaubensstärke der Anderen ist. Auch die deutsche Gesellschaft reagiert auf die ästhetischen, religiösen und politischen Zumutungen, die mit der Integration der Muslime verbunden sind, auch mit der Frage nach den eigenen religiösen Wurzeln. Sie tut das bisweilen hilflos und manchmal überraschend plakativ, wie in der Leitkulturdebatte, wo christliche Werte oft genug mehr beschworen denn klar benannt und argumentativ bewährt werden. Das christliche Menschenbild versteht sich nicht mehr von selbst. Es bedarf der behutsamen Restauration. Die Farben müssen aufgefrischt und die Konturen nachgezogen werden, damit es wieder glänzt. Die Rede vom christlichen Menschenbild bedarf erläuternder Lesehilfen und gegenwartsbezogener Auslegungen, die offen sind für neue Herausforderungen. Die Zeiten, wo die Frage nach den prägenden Spuren des Christentums selbst schon als reaktionär oder gar unangemessen galt, sind allerdings definitiv vorbei. Es ist wieder schick geworden, eine Konfession zu haben. Politiker, Schauspieler und Unternehmer bekennen sich wieder. Selbst intime religiöse Bedürfnisse auszuplaudern ist nicht mehr peinlich, sondern anrührend. Deshalb geht Komiker Harpe Kerkeling mit großer Ernsthaftigkeit den Jakobsweg und hundertausende Leser und Leserinnen gehen mit. Bin mal kurz weg, sagt er, winkt freundlich, während er schon loswandert und wir glauben ihm, dass er verändert zurückgekommen ist. Schließlich waren wir so gut wie dabei, ohne uns auch nur eine Blase zu laufen.

Dazu kommt ein neuer Sinn fürs Monumentale und für die Lebendigkeit alter Traditionen, ein Bedürfnis, das den Medien in ihrer Gier nach dem außergewöhnlichen Bild gerade recht kommt. Religiöse Inszenierungen von Weltformat wie Papsttod und Papstwahl haben nicht nur gläubige Katholiken vor die Fernseher gelockt. Weltweit waren auch Künstler und Intellektuelle, Juden und Protestanten und Agnostiker geradezu berauscht von soviel fremder Gegenwärtigkeit, die sich in den alten Formen imponiert. Die ungebremste Kraft dieser religiösen Institution war wie ein Hoffnungszeichen, dem man möglicherweise schon längst keinen eigenen Glauben mehr, wohl aber Respekt und vielleicht auch ein wenig Sehnsucht nach einer diffusen Vergangenheit entgegenbringt. Zwischen Skepsis und Regressionsträumen hin und hergerissen, schwankten die Kommentare zwischen Tremendum und Faszinosum. Nur die sonst allgegenwärtige bissige Kritik fiel fast gänzlich aus. Im Gegenteil fordern Schriftsteller wie Martin Mosebach gegen die Häresie der Formlosigkeit die Rückkehr zur lateinischen Messe. Oder sie kokettieren mit alten Formen politischer Theologie. Ein Beispiel unter vielen Intellektuellen, die vor allem die ästhetische Fremdheit des christlichen Glaubens betonen wollen. Ihre Welt- und Lebensnähe ist ihnen ein Graus. Sie fordern deshalb eine Gestalt des Christentums, die als das Andere ihres offenen Lebensstils funktioniert, als Palliativ des Antimodernen in der Moderne, die oft so schwer erträglich ist mit ihren Zumutungen, Verwirrungen und Gefährdungen. Persönliche Konsequenzen für das eigene Leben muss dieser neue Sinn fürs Religiöse nicht haben, im Gegenteil, nur in gehöriger Distanz ragt das Monument aus uralten Zeiten hinein bis in unsere Gegenwart. Ob diese Religionsbegeisterung des Feuilletons mehr als eine Retromode ist, bleibt abzuwarten.

Nun werden sie vermutlich unruhig in den Bänken. Schließlich ist Reformationstag und vom Protestantismus war bislang noch gar nicht die Rede. Das hat seinen guten Grund. Denn in der Perspektive vieler evangelischer Christen geht die neue Aufmerksamkeit für das Religiöse am Protestantismus vorbei, obwohl der – daran soll nun doch gleich zu Anfang erinnert werden – im 16. Jahrhundert als großes Medienereignis auf Erfolgskurs ging. Ohne Flugschriften, ohne Bibelübersetzung, ohne die Alphabetisierungskampagnen wäre es zu den Kirchen der Reformation sicherlich nicht gekommen. Der Protestantismus hat ein inneres Verhältnis zur Öffentlichkeit, so viel steht fest. Er hat sich nie hinter Mauern verborgen und steht doch merkwürdig quer zu der Form medialer Aufmerksamkeit, die augenblicklich mit der Wiederkehr des Religiösen verbunden wird. Manche Beobachter haben in jüngster Zeit geunkt, die Gestalt des Protestantismus sei medial nicht mehr vermittelbar. Zu vielstimmig, zu diffus, zu regional, zu unbestimmt, zu stark auf das Individuum bezogen sei diese Überlieferungsgestalt des Christentums. Vielstimmig, diffus, regional, unbestimmt und hochgradig individuiert, das ist in der Tat schlecht fürs mediale Geschäft, das mit Wortbeiträgen von Einsdreißig und Blitzlichtbildern gemacht wird. Eindeutigkeit und Widererkennbarkeit dagegen bestimmen den Preis. In der Tat könnte man ganz pragmatisch fragen, ob nicht auch der Protestantismus ein paar wenige Gesichter braucht, die jeder kennt. Und Stimmen, die jeder hört. Das müssen, ja sollten dem eigenen Selbstverständnis entsprechend nicht nur Bischöfe sein. Wir brauchen Wissenschaftlerinnen und oberste Richter, Unternehmerinnen, Künstler und Journalisten, die ohne mit der Wimper zu zucken ins Mikrophon sprechen, sachkundig, schlagfertig und prägnant, vor allem aber auskunftsfähig und sprachkundig in Glaubensangelegenheiten. Das heißt allerdings für all die, die ihre Leben als Christenmenschen außerhalb der Reichweite von Kameras führen, dass sie die, die für sie sprechen, auch sprechen lassen. Manchmal kann einen schon der Eindruck beschleichen, im Protestantismus sei es wie im Fußball, wo immer die, die im Sessel vor der Sportschau sitzen, die besten Torschützen sind. Auch wenn sie vor Übergewicht keuchen und schon seit Jahren keine Ball mehr vor den Fußen hatten. So hart das ist: die Medienwelt braucht Profis, die in freier Anwandlung des Gebotes Jesu, listig zu sein wie die Schlangen und gerissen wie die Füchse, die Medien zur Not auch mal mit den eigenen Waffen schlagen. Die kritische Begleitung öffentlicher Protestanten und Protestantinnen ist dabei nicht ausgeschlossen, sondern selbstverständlich. Nur muss es nicht immer der empörte Leserbrief sein, damit die Welt mal wieder wisse, dass die Protestanten sich nicht einig sind. Es gibt dann und wann eine Neigung, die theologische Orientierung an der subjektiven Aneignung des Glaubens durch lauter Mediensubjekte ersetzen zu wollen. Das schafft dann und wann allererst die Unbestimmtheit, unter der wir alle leiden. Doch Delegation an die Begabungen und Berufungen ist ganz und gar nicht unevangelisch. Delegation der Begabungen deckt sich ohne Not mit der unterstellten Vielgestaltigkeit der Glaubensvollzüge und ihrer Bewährungsorte. Es greift allerdings zu kurz, wenn wir die Frage, ob und warum der Protestantismus zu unsichtbar oder, noch schlimmer, auf falsche Weise sichtbar ist, mit den Mitteln der Mediencoaches und der Unternehmensberater lösen wollten.

Zwischen Poetik und Polemik  - Friedrich Schlegels Ausführungen zum Wesen des Protestantismus

Deshalb will ich mich im zweiten Teil auf theologische Gründe besinnen, die uns zu einem qualifizierten Umgang mit medialer Öffentlichkeit auffordern, allen pragmatischen Zugeständnissen zum Trotz. Reformationstage sind auch Tage der Selbstbesinnung. Dazu möchte ich ihnen jemanden vorstellen, dessen geschärfter Sinn fürs Religionsmediale zu einem sehr pointierten Nachdenken über das Wesen des Protestantismus führte. Heute würde er vermutlich im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreiben. Oder er würde eine Fernsehsendung auf Arte unter dem Titel „Symphilosophie für Anfänger“ moderieren. Es ist Friedrich Schlegel, von dem wir vor allem scharfzüngige Aphorismen kennen und seinen berühmten Skandalroman „Lucinde“, in dem er der Liebe aus Leidenschaft vor der ehelichen Pflicht den Vorrang gibt. Ein Medienereignis!

Es ist das Jahr 1804. Wir treffen den Mitbegründer der frühromantischen Bewegung und Jugendfreund Friedrich Daniel Schleiermachers in Paris. Schlegel befindet sich in einer tiefen Lebenskrise, die, verblüffend genug, nicht in Lethargie, sondern in ungebremste Schaffenswut führt. Schlegel, der das Spiel mit dem Fragment und dem Unabgeschlossenen bis in transzendentale Höhen trieb, verlegt sich nun aufs solide Großprojektemachen. Jedes von ihnen wäre drittmittelfähig gewesen. In einem Zeitraum von fünf Jahren erscheinen seine Studien über die Inder und seine kulturgeschichtlichen Reiseberichte über gotische Kathedralen, Er gründet die Zeitschrift „Europa“ und fasst den Entschluß, die Werke Lessings neu herauszugeben. Wie weiland Martin Luther seinen Bibelübersetzungen stellt auch Schlegel seiner neuen Lessingedition einen Kommentar voran, einen theoretisch ambitionierten und gewohnt brillianten Essay, der nach Selbstständigkeit verlangt.

Nun sollte man wissen, dass die Lebenskrise, die dieses Lessingprojekt provoziert, durch Fragen der Religion wesentlich mit verursacht ist. Der Sohn eines Konsistorialrates und der Abkömmling eines alten evangelischen Pfarrergeschlechtes fragt:

„Was ist das Wesen des Protestantismus? Und was war es, das ihn auszeichnete und eigentlich konstituierte? Nicht diese oder jene Meinung, denn darüber fand sich größte Verschiedenheit unter den großen Reformatoren selbst, sondern das, was alle gleich sehr beseelte, worin sie ohne Verabredung eines waren, was ihr gemeinsames Band blieb. Die Freiheit war es, mit der sie lehrten, der Mut, selbst zu denken und dem eigenen Denken gemäß zu glauben; die Kühnheit, das Joch auch der verjährtesten, ja kurz zuvor noch von ihnen selbst unverletzbar heilig gehaltenen Irrtümer abzuwerfen. Der Enthusiasmus für Wahrheit erschien hier und musste nach so gänzlicher Erschlaffung und Anhäufung toter Stoffe als göttlicher Eifer und Zorn gegen den Irrtum und die Knechtschaft des Geistes. Sie fühlen es wohl, diese Helden und Verfechter der Wahrheit, dass dieselbe eins sei mit der Freiheit und dass die einzige und alleinige Quelle aller noch so verschieden benannten Irrtümer nichts sei, als die dem erdgeborenen Menschen so tief eingewurzelte Furcht und Feigheit, die in der Masse vorzüglich als Trägheit erscheint. Polemik ist daher allen Protestanten, oder allen Bekämpfern des Irrtums, wesentlich, ja es ist ihr ganzer Charakter in diesem Begriffe beschlossen. Polemik ist das Prinzip alles ihres Strebens und die Form alles ihres Wirkens.“

Der Enthusiasmus für Wahrheit und Freiheit, das ist das Prinzip des Protestantismus, das Schlegel an Lessing gewinnt. Es soll keineswegs verschwiegen werden, dass es Schlegel 1804 so ergeht wie vielen Zeitgenossen, die sich heute in Feuilletons und Interviews zu Religionsfragen äußern. Sie artikulieren ihre Sehnsucht nach der Gotik. Gotik ist für Schlegel nicht eine Epoche in der Geschichte des Kirchbaus. Mit dem Gotischen verbindet sich für ihn die vollkommene Gestalt des Christentums. Mit ihrer mittelalterlichen Utopie und ihrer monumentalen Darstellungsform verspricht die Gotik den Glamour, den der Pfarrerssohn am Protestantismus vermisst. Der alte Ironiker will nun, ganz wie die Feuilletonisten der Gegenwart, wenn sie sich aufs Religionsfach verlegen, vor allem eines: er will überwältigt werden. Mit dem Gotischen verbindet sich für Schlegel ein ästhetisch-politisches Gesamtkunstwerk von ausgreifender Totalität. In der Gotik liegt der Inbegriff des Poetischen, wie er später sagen wird. Kurz vor seiner Konversion zum Katholizismus, die in seiner Zeit ein größerer Skandal sein wird als der Briefroman Lucinde, legt er eine Analyse des Protestantismus vor, die zeigt, dass seine Abkehr von der Konfession der Väter von großer Wahrhaftigkeit gekennzeichnet war. Genau genommen kann er die Konversion allerdings nur riskieren, weil er unterstellt, dass die polemische Unruhe des Protestantismus sich nicht still stellen lässt. So kommt es, dass sich in seinem Dokument des Konfessionswechsels gleichzeitig die tiefe Sorge vor „zu wenig Protestantismus in der Welt“ artikuliert. Das ist ziemlich paradox und kann wohl nur einem ehemaligen Frühromantiker einfallen. Die Flucht in die poetische, erhabene und glamouröse Form des Religiösen kann nur gelingen, wenn andere für die Freiheit streiten, damit aus dem totalen Kunstwerk der Gotik nicht unter der Hand eine totalitäre Macht wird, die jede freie Artikulation erstickt. Das ist Schlegel sehr bewusst. Ohne die Gegenwart der protestantischen Polemik wäre jede poetische Religionssehnsucht eine sehr gefährliche Angelegenheit. Nur glaubt er, der Konvertit, da noch, der Protestantismus sei die Leitreligion der Zukunft. Das mag für das 19. Jahrhundert in Preußen noch gelten. Für das 20. Jahrhundert stimmte Schlegels Diagnose nicht mehr. Der Protestantismus ist in seiner Analyse eher eine religiöse Haltung denn eine bestimmte Kirchenmitgliedschaft, daran muss immer erinnert werden. Lessing kann sich deshalb unter Umständen auch gegen die Protestanten selbst richten, und zwar immer da, wo die „mutvolle Freiheit des Selbstdenkens“ abgeschafft wird.

„Wo unlautere Nebenabsicht mit einfließt, oder nur anempfundener Mut die Vortäuschung der Freiheit verursacht hatten, da tritt früher oder später ein Stillstand ein, und es geschieht, was schon so oft geschehen ist, der letzte Zweifel wird als der erste Glaubenssatz geheiligt, gegen den nicht weiter zu zweifeln nun wieder ebenso wie vorher in der alten Verfassung und noch weit strenger verboten wird. So ist es auch den meisten Protestanten ergangen. Nicht so Lessing. Er war geradso der rechte Protestant, weil er nicht auf allen Glaubenssätzen der Protestanten fest bestehen, wohl aber die alten Maximen der Freiheit aufrecht erhalten und so den Geist des Protestantismus von Neuem beleben wollte. Darum eiferte er so heftig gegen das, was nur Buchstabe ist in der Lehre der Protestanten, und gegen die allzu grobe und körperliche Art, wie sie dann und wann die Begriffe vom Wort Gottes und der Schrift verstehen. Er verteidigt im Gegenteil sogar die katholische Regel des Glaubens, nach Überlieferung der Vorfahren und Einstimmung der Besten in der Gemeinde. Ganz mit Recht. Der Protestantismus muss auch gegen den Protestantismus selbst protestieren, wenn er sich nicht in neues Papsttum und Buchstabenwesen verkehren will.“

Vor allem die letzte Passage, die den Protestantismus gegen den Protestantismus in Stellung bringt, erinnert noch einmal an eine folgenschwere Entscheidung im evangelischen Kirchenverständnis. Die evangelische Kirche hütet die Wahrheit Gottes nicht wie einen Schatz, den es vor der Welt zu verteidigen gilt. Sie kann sich deshalb auch nie anmaßen, die sichtbare Erscheinung dieser Wahrheit Gottes zu sein. Sie ist dieser Wahrheit vielmehr selbst unterworfen, einer Wahrheit, die sie außerdem selber immer wieder neu suchen muss, als Kirche auf dem Weg. Deshalb stellt sich die Polemik, wie Schlegel sie versteht, nicht außerhalb und schaut verächtlich auf die, die in der Kirche ihr Bestes versuchen. Sie gehört vielmehr konstitutiv zu ihrem Kirchesein dazu. Allerdings muss sich deshalb auch jede Reformbewegung und jeder Kritiker fragen lassen, in wessen Namen und aus welchem Geist eine Polemik entworfen wird. Ist es der Geist der Freiheit oder der Rechthaberei? Ist es der Geist der Freiheit oder der Geist, der nach Parteien und Proporzen sortiert? Ist es der Geist der Freiheit oder der Geist der Ängstlichkeit, der jede Veränderung abwehren muss?

Der polemische Stil des Protestantismus, wie Schlegel ihn entfaltet, darf keineswegs in der Negation stecken bleiben. Dieser Stil ist nicht nur Protest gegen, sondern auch Zeugnis für etwas, ein Zeugnis für die Freiheit des Gewissens, die individuellen Mündigkeit des Glaubens und die je eigene religiöse Urteilskraft. Deshalb verlangt der Einspruch aus Freiheit auch Aufmerksamkeit. Natürlich will die Freiheit sich Gehör verschaffen. Auch Freiheit braucht eine Gestalt. Sie braucht eine Stimme und ein Gesicht. Deshalb geht es auch in der Polemik, so wie Schlegel sie versteht, nicht um ätzende Kritik oder darum, mit allerhand Mäkelei seine Unzufriedenheit zu artikulieren. Polemik ist für Schlegel ein elaboriertes Element der Rhetorik und schon deshalb in hohem Maße darstellungsbewusst. Der Polemiker ist er Wahrheit verfallen, deshalb gibt er keine Ruhe. Deshalb drängt er auf Neuerung, ohne zum Traditionsverächter zu werden. Deshalb verteidigt Lessing gegen die Protestanten immer wieder die „katholische Regel des Glaubens, nach Überlieferungen der Vorfahren und Einstimmung der Besten in der Gemeinde“. Lessing ist durchaus niemand, der den Geist der Freiheit so missversteht, als gelte es, in schöner Regelmäßigkeit altvertraute Überlieferungen über Bord zu schmeißen, weil gerade andere Moden gelten. Was passiert, wenn Kommissionen den Gesangbüchern, Agenden und heiligen Texten zu Leibe rücken, um uns allerhand vermeintlich altertümliches, altväterliches oder altfrommes vom Halse zu halten, kennen wir zu Genüge. Was hier bisweilen im Namen der Wahrheit geschieht, sind Formen der Zensur im Namen der politischen Korrektheit. Mach eine Befreiungsgeschichte ist in Wahrheit eine Verlustgeschichte.

Eine Polemik, die dem Geist der Freiheit verpflichtet ist, schätzt auch die Güte alter Überlieferungen. „So kann er die ärgste der Ketzereien unter den befreundeten Polemikern pflegen, wenn er den alten Glauben und die alten Formen verteidigt“, ergänzt Schlegel sein Lessingbild. An Lessing zeigt Schlegel, daß der Polemiker der Poetik der Religion durchaus aufgeschlossen gegenüber steht. Ja, schon als Polemiker versteht er etwas von den sinnlichen Wirkungen der Sprache und der Zeichen. Vielleicht haben wir zu lange gedacht, die Poetik des Christentums bräuchte uns nicht zu interessieren. Doch das Umdenken hat eingesetzt. Die evangelische Kirche muss behutsam mit ihren Sakralräumen umgehen. Die Sehnsucht nach der Gotik gibt es durchaus in protestantischer Spielart. Das demonstrieren die Hamburger Kirchen sinnfällig. Warum auch nicht. Evangelische Christenmenschen dürfen ihrer Lust nach Überwältigung dann und wann nachgeben. Dafür haben wir Mendelssohn-Bartholdy und das Weihnachtsoratorium. Dafür haben wir Sakropop und Orgelmusik. Der Geist der Polemik gegen etablierte Formen rechtfertigt keine schlampigen Gottesdienste. Selbstgeschneiderte Liturgien ohne theologischen Sinn oder lieblos hingeworfene Predigten sind noch kein Zeichen für den Kampf für Freiheit.

Die Poetik religiöser Räume und Rituale wartet zuweilen noch auf ihre Wiederentdeckung. Nicht zuletzt hier kann die Neubesinnung auf den großen Protestanten Lessing helfen: er hat sogar die Nähe von Theater und Gottesdienst gesehen, die Friedrich Daniel Schleiermacher später als darstellendes Handeln in Szene setzt, nicht, weil der evangelische Gottesdienst ein Bühnenspektakel ist, das sich prächtiger inszenieren ließe, sondern weil der bewusste Gebrauch von Körper-, Sprach- und Musikzeichen erst zu einem Gottesdienst im anspruchvollen Sinn des Wortes führt. Gottesdienste, die so gelingen, verschaffen sich nachhaltig Aufmerksamkeit in den Erinnerungen ihrer Besucher, auch wenn sie nie im Fernsehen übertragen werden. Man lasse sich nicht täuschen: Auch im Zeitalter des Internet ist Mund-zu-Mund-Propaganda ein machtvolles Medienmittel.

Die spezifische Medienkompetenz des Protestantismus führt Schlegel uns vor. Sie liegt in der anspruchsvollen theologischen Aufgabe, das Spannungsverhältnis zwischen der poetischen und der polemischen Dimension des Christentums, ja vielleicht sogar aller Religion, selbst immer wieder neu zur Sprache kommen zu lassen. Während sich die poetische Gestalt der Religion immer mehr verfestigt, verfeinert und fixiert, sorgt ihre polemische Form dafür, dass am Protestantismus nichts unverändert geblieben als seine Veränderlichkeit selbst, sagt Schlegel. Das ist das protestantische Prinzip. Diese Selbstähnlichkeit, die ihre Pointe in der dauerhaften Fähigkeit zur Selbstunterscheidung hat, hat einen Preis: ohne ein gebildetes, mündiges Christentum gibt es kein „evangelisch aus gutem Grund“. Doch wenn ich die religiösen Zeichen der Gegenwart richtig deute, ist es gerade diese Fähigkeit zur Selbstunterscheidung aus dem Geist der reformatorischen Freiheit, die unsere Welt nötiger hat denn je.